Efeu - Die Kulturrundschau

Mit glazialer Geschwindigkeit

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30.01.2023. Die taz fragt in der Debatte um Florian Teichtmeister, was in der Kunst über Glaubwürdigkeit entscheidet: Die Hierarchie oder das Marketing? Die FAZ berichtet vom Comicfestival in Angoulême, bei dem der Skandal um den Comic-Autor Bastien Vivès tobt, dem die Verharmlosung von Kinderpornografie vorgeworfen wird. Der Tagesspiegel freut sich, dass mit Max Gleschinskis "Alaska" der eigenwilligste Film den Max-Ophüls-Preis gewinnt. Als fahrendes Kunstwerk bewundert die NZZ den Bugatti 57 Atalante. Und alle trauern um Tom Verlaine, den Gitarristen und Sänger von Television.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2023 finden Sie hier

Literatur

Das traditionsreiche Comicfestival in Angoulême war in diesem Jahr schwer überschattet von dem Skandal um Bastien Vivès, dessen Ausstellung wegen eines Shitstorms kurzfristig abgesagt wurde: Die Comics von Vivès zeigen auch sexuellen Missbrauch von Minderjährigen, weshalb nun auch ein Verfahren gegen den Künstler läuft. "In der jetzigen Debatte wiederholt sich ein bekanntes Schema", berichtet Niklas Bender in der FAZ: "Ältere Künstler bestehen auf der Freiheit der Rede beziehungsweise der Kunst; gerade dem Comic gestehen sie das Recht zu, davon großzügigen Gebrauch zu machen. Jüngere Künstler gehen gegen Formen der Diskriminierung vor und weisen im Falle von Vivès auf potentiell justiziable Inhalte hin. Die Diskussion zeichnet also grob gesagt Generationengrenzen nach. Die Kritiker scheinen allerdings einen schwereren Stand als in vergleichbaren Debatten zu haben: Comicspezifisch ist, dass Meinungsfreiheit in diesem Metier ein besonders hohes Gut ist, das auch jüngere feministische Geister verteidigen. ... Der Comic, lange Zeit eine ebenso unterschätzte wie anarchische Kunstform, hat der Fantasie die Zügel schießen lassen. In diesem Raum der Freiheit waren spätestens seit den Underground Comix der Sechzigerjahre explizite Darstellungen jeder Art akzeptiert; Transgressionen in Kunst und Leben waren gängiger, zugleich waren diese männlich geprägt. Jetzt, angesichts neuer moralischer Ansprüche und einer zunehmend weiblichen Autor- und Leserschaft, steht ein Wandel an."

Außerdem: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Im Standard porträtiert Amira Ben Saoud die Bachmannpreisträgerin Ana Marwan.

Besprochen werden unter anderem Annette Pehnts "Die schmutzige Frau" (FR, Tsp), Joshua Cohens "Die Netanjahus" (Standard), Wilhelm Genazinos "Der Traum des Beobachters" (Dlf Kultur), Lena Anderssons "Der gewöhnliche Mensch" (NZZ), Kerstin Preiwuß' "Heute ist mitten in der Nacht" (ZeitOnline) und Maja Ilischs "Unten" (online nachgereicht von der FAZ).
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Film

Mit glazialer Geschwindigkeit: "Alaska" von Max Gleschinski

Dass beim auf den deutschen Filmnachwuchs abonnierten Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken der "formal eigenwilligste Beitrag" gewinnt, erlebt man auch nicht alle Tage: Und doch ist Max Gleschinski mit "Alaska" genau das geglückt, berichtet Kaspar Heinrich im Tagesspiegel. Sein Film "führt hinaus auf die Mecklenburgische Seenplatte. In aufreizender Ereignislosigkeit plätschern die ersten 20 Minuten dahin, was weniger abwertend als wörtlich zu verstehen ist. ... Das nächtliche Zirpen der Grillen und Quaken der Frösche lassen sanft hineingleiten in diesen Film", der von der Kanufahrt einer Mittvierzigerin erzählt, die einen Schicksalsschlag verarbeiten muss. "Das Drama dieses Verlusts schält sich mit glazialer Geschwindigkeit heraus, auch der Sinn ihrer Reise. 'Alaska' nimmt sich Zeit, hält die Neugier des Publikums wach, ist zudem ein Film für die große Leinwand, weil er von seiner Poesie und Atmosphäre lebt."

Außerdem: In der SZ bejubelt Tobias Kniebe James Cameron, der mit seinem milliardenschweren Boliden "Avatar Zwo" sogar in die Gewinnspanne vordringt "Ein einziger Mann, der nur alle Jubeljahre mal einen Film macht, beansprucht jetzt drei der vier ewigen Spitzenplätze in der Geschichte des Blockbusterwesens für sich allein." Barbara Schweizerhof resümiert für ZeitOnline das Indiefilm-Festival Sundance, das sorgenvoll auf die Zukunft seiner Zunft schaut: Zwischen Coronapandemie und Streaming-Zukunft zeigt sich wenig Platz für Indiekino. In der Welt empfiehlt Hanns-Georg Rodek den Besuch der Galerie Bastian in Berlin, wo sich noch bis März die rare Gelegenheit bietet, Wim Wenders 3D-Kurzfilm über Edward Hopper zu sehen. Für den Standard porträtiert Katharina Rustler den Schauspieler Felix Kammerer, der für den mehrfach oscarnominierten Netflixfilm "Im Westen nichts Neues" vor der Kamera stand. In seiner Serien-Kolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle an die Sitcom "Das Leben und ich", der ein Musterbeispiel dafür glückte, wie man eine Serie zu einem befriedigenden Abschluss führen kann.

Besprochen werden Peter Hengls österreichischer Horrorfilm "Family Dinner" (Standard), Chinonye Chukwus "Till" (SZ), der autobiografische Bildband "Magnificent Obsessions Saved My Life" des Schweizer Kinomachers Matthias Brunner (NZZ) und die Apple-Serie "Shrinking" mit Jason Segel und Harrison Ford (taz).
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Bühne

Entscheiden die Hierarchien von Film und Theater, wer wem glaubt? Oder das Marketing? In der taz fragt Uwe Mattheiss grundsätzlich, was der Fall Florian Teichtmeister bedeutet, schließelich haben Martin Kusej und Marie Kreutzer an ihm festgehalten, als längst gegen ihn wegen Kinderpornografie ermittlt wurde: "In der Praxis der Kunst stößt man dagegen immer wieder auf blinde Flecken, dort wo es um Hierarchien, Machtmissbrauch, Intransparenz und gesellschaftliche Exklusion geht. Der Anspruch auf Autonomie erfordert letztlich, den Produktionsprozess der Kunst zu ihrem Gegenstand zu machen. Die Debatte über moralische Anforderungen der Gesellschaft an die Kunst fällt nicht gerade leicht, auch weil sie noch immer von der Erinnerung an die eigene Durchsetzungsgeschichte gegen falsche Autoritäten und aktuelle Gefährdungen belastet ist. Gegen das Diktat der Religion und die überschießenden Ansprüche des Staates, so die romantische Vorstellung, schien einst nur die Übertretung des von irdischen Regeln ungebundenen Genies der Kunst den Weg zu neuen Ufern zu weisen. Allein, Kriminelle von heute haben mit bahnbrechenden Libertins der Frühaufklärung und genialen Meuchelmördern der Renaissance nichts mehr zu tun."

"Antigone" nach Sophokles und Zizek am Münchner Residenztheater. Foto: Sanra Then

Mateja Koležnik
hat am Müncher Residenztheater Sophokles' "Antigone" auf die Bühne gebracht und mit Slavoj Žižeks Stück "Die drei Leben der Antigone" gekoppelt. Geradezu ein Geniestreich, findet Christian Lutz in der SZ: Im ersten Teil wird das Familiendrama erzählt, im zweiten dann vom Chor in einem grauen Regierungsgebäufe die Gesellschaftspolitik verhandelt: "Jetzt erst erfahren wir ihre Standpunkte und Rollen im politischen Prozess. Die strenge Dame mit dem Dutt entpuppt sich als die Parlamentspräsidentin (Cathrin Störmer), der Mann, der zu viel Freiheit für eine Gefahr hält, als 'Royalist' (Thomas Lettow), der bis dato stumme Lederjacken-Typ (Thiemo Strutzenberger) als 'Demokrat', der Antigone als privilegierte Person ansieht. Es gibt die Humanistin (Hanna Scheibe), den Sekretär (Florian Jahr), den Veteranen (Michael Goldberg). Während sie den Fall Antigone bei Häppchen diskutieren, läuft draußen im Korridor alles noch einmal so ab wie im ersten Teil. Das ist ein echter Regiecoup in einer Inszenierung, die weniger das Gefühl als den Intellekt anspricht." Nachtkritikerin Theresa Luise Gindlstrasser kommt bewegt aus dem Theater: "Dass am Ende, nach so viel Spannung und nach so viel spannender Diskussion, der Bunker erstürmt wird, als wär's das Kapitol: 'Unheimlich und dämonisch ist viel, doch nichts so unheimlich dämonisch wie der Mensch.'"

Besprochen werden Guy Clemens' Inszenierung von Edward Albees Geschlechterkriegsdrama "Wer hat Angst vor Virgina Woolf" am Bochumer Schauspielhaus (Nachtkritik, FAZ), Gerhard Polts bairisch-heiterer Abend "A scheene Leich" in den Münchner Kammerspielen (Widerstand zwecklos, meint Christian Lutz in der SZ, Polt sei einfach ebenso eine Naturgewalt wie die Brüder Well, Nachtkritik, FAZ), Bastian Krafts Bühnenadaption des "Zauberbergs" im Wiener Burgtheater (dem Standard-Kritiker Ronald Pohl allerdings "eine zündende Idee" fehlte), Michael Thalheimers "Parsifal"-Inszenierung in genz (Welt), ein Abend mit Anna Netrebko und Yusif Eyvazov in der Alten Oper in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Design

Philipp Meiers Herz schlägt höher, wenn er auf den Bugatti-Oldtimer blickt, der Anfang Februar in Paris versteigert wird: "Es handelt sich um einen Bugatti 57 'Atalante', einen der elegantesten Sportwagen, die jemals die Fabrikhallen im elsässischen Molsheim verlassen haben", schreibt er in der NZZ. Und Ettore Bugatti baute bekanntlich "fahrende Kunstwerke, begehrte Manufaktur-Autos sozusagen." Das Vehikel mit Baujahr 1936 "ist ein sportlicher Zweisitzer, eine von nur vier Ausführungen dieses Typs mit Sonnendach, und - typisch für den Geschmack der Zeit - in eine zweifarbige Carrosserie gekleidet. So präsentiert er sich jetzt in Paris: in Schwarz und Elfenbein, mit bulliger Schnauze, aber ungemein elegant fließenden Seitenlinien. Das gedrungene Dach nimmt die Rundungen der Kotflügel auf, die langgezogene, potente Motorhaube hat ihren harmonischen Gegenpart in einem runden, sanft abfallenden Heck. ... Erstmals wurde für diese Serie der charakteristische hufeisenförmige Bienenwaben-Kühler mit einem Nickel-Silber-Grill versehen. Überdies wurde der Typ 57 im Katalog mit modisch gekleideten weiblichen Models beworben - ein Novum in den Dreißigerjahren." Hier der Werbefilm des Auktionshauses für diese wunderbare Schönheit - vielleicht haben Sie ja noch zwei bis drei Millionen Euro unter der Matratze liegen?

Archiv: Design

Kunst

In der FAZ berichtet Ulf von Rauchhaupt von einem spektakulären Fund in Ägypten: In Saqqara, südlich der großen Pyramiden von Giseh, wurde ein nicht-königliches, aber auch nicht-ausgeraubtes Grab aus dem Alten Reich entdeckt, das auf 2500 bis 2200 vor unserer Zeit datiert ist, mit Mumie und ausgiebigen Wandmalereien: "Die Mumie ist von Kopf bis zu den Knien mit Blattgold umhüllt. Darunter scheint der Körper des Heqa-Shepes allerdings schon ziemlich zerfallen, wie eine Aufnahme ägyptischer Reporter nahelegt. Darauf sind auch Schmuckketten zu erkennen, mit denen der Leichnam angetan war, sowie zu seiner Linken ein goldumhüllter Stab."

Besprochen werden die Ausstellung "Paris magnétique 1905 - 1940" im Jüdischen Museum in Paris (Tsp) und die Skulpturen der Bildhauerin Leiko Ikemura im Berliner Georg-Kolbe-Museum (BlZ).
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Stichwörter: Georg-Kolbe-Museum

Musik

Die Feuilletons trauern um Tom Verlaine, den Gitarristen und Sänger von Television, die mit ihrem Album 'Marquee Moon" den Punk der späten Siebziger bereits an dessen Vorabend überwunden hatten, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Verlaine stand damals "kunstbeflissenen Quereinsteigerinnen wie Patti Smith näher als jenen Punkbands seiner Zeit, denen man noch anhörte, was sie zu überwinden versuchten: Verzerrte und für damalige Verhältnisse auch harte Gitarrenmusik blieb ein Bezugspunkt bei den New York Dolls oder, 600 Meilen weiter westlich in Michigan, bei The Stooges und MC5. ... Noch heute klingt 'Marquee Moon' neu und aufregend, wie eines jener Alben, die ihr Genre in ein Davor und ein Danach teilen." Auch Gerrit Bartels verneigt sich im Tagesspiegel vor "Marquee Moon", diesem "virtuosen Meisterwerk. Es klingt zwar völlig anders als die Rockmusik jener Zeit, lässt sich aber nur schwer als Punk identifizieren. ... Der Titelsong dauert zehn Minuten. Wenn man ihn hört, kann er ruhig weitere zehn Minuten dauern - so schön schlägt die Gitarre immer wieder die gleiche Melodie an, so herrlich knarzig pulsiert und vibriert dieser Song, so trocken pumpt das Schlagzeug."



Vor Verlaine "warfen sich die prominentesten Gitarristen ... in den Staub", hält Karl Fluch im Standard fest: Sein "Spiel besaß eine poetische Eleganz, die nicht auf die Überzeugungskraft heftiger Akkorde baute, sondern beim Jazz seinen Ausgang nahm. ... Was The Velvet Underground für die 1960er bedeuteten, waren Television für die 1970er." Tazler Julian Weber schneidet sich gerne an diesen "rasiermesserscharfen Gitarrenriffs", doch lässt Verlaine "die Gitarre auch lyrisch jaulen. Daher ist er fundamental anders als viele Rockfantasten der später 1960er. Verlaines Intellekt hilft bei der Orientierung, ein Radar im Dickicht der Großstadt: 'I understand all, I see no / Destructive urges, I see no […] I see no evil'"

Tilman Baumgärtel von der taz ist wenig überzeugt von Paul Purgas' Sound-Installation "We Found Our Own Reality" des CTM Festivals in Berlin. Die Installation widmet sich der Geschichte des kurzlebigen elektronischen Musikstudios am National Institute of Design (NID) im indischen Ahmedabad, wo mit Moog-Synthesizern eine spezifisch indische elektronische Musik ausgetüftelt werden sollte. Purgas hat altes Equipment und Aufnahmen von damals ausfindig gemacht und daraus "einen eigenen Mix hergestellt. Der ertönt im Silent Green als Raumklanginstallation aus einem Kreis von Lautsprechern, die in traditionelle indischen Stoffen eingenäht um eine Bodeninstallation und eine Neonskulptur mit weiteren Verweisen auf den Modernismus in Indien stehen. Leider funktioniert diese Installation weniger als die Meditation über den Einfluss des westlichen Modernismus im postkolonialen Indien, die Purgas offenbar vorschwebte, sondern wirft vor allem ethische Fragen auf: Wie respektvoll und künstlerisch gerechtfertigt ist es eigentlich, wenn man wiederentdeckte Werke von anderen Komponisten vollkommen intransparent als Bausteine für seine eigenes Werk verwendet?"

Außerdem: Christian Werthschulte porträtiert für die taz den Elektro-Produzenten Coby Sey, der beim Berliner CTM-Festival auftritt. Besprochen werden Regina Schillings Dokumentarfilm "Igor Levit - No Fear" (Tsp), das Abschiedskonzert des sich aus dem Betrieb zurückziehenden Perkussionisten Martin Grubinger (Tsp), ein von Antonio Pappano dirigiertes Konzert des Orchestra dell'Accademia Nationale di Santa Cecilia mit Seong-Jin Cho (FR), Pierre-Laurent Aimards und Tamara Stefanovichs Klavierabend im Berliner Boulez Saal (Tsp), das neue Album des Berliner Rappers Symba (ZeitOnline) und das Live-Album "The Sixth Decade - From Paris To Paris" des Art Ensemble of Chicago (FAZ). Hier können wir reinhören:

Archiv: Musik