Efeu - Die Kulturrundschau

Sinnlose Streifzüge durch Schwabing

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03.02.2023. FAZ und FR lernen in der Frankfurter Schirn, dass Niki de Saint Phalle nicht nur poppig war, sondern auch eine große, politisch denkende Künstlerin. Im Kunstforum Wien kann man ähnliches bei Kiki Kogelnik entdecken, die lange als Spaßmacherin galt, versichert der Standard. Die SZ plädiert im Namen der Kunstfreiheit auf zwei Seiten dafür, endlich Maxim Billers Roman "Esra" lesen zu dürfen. Die FR berichtet vom Hungerstreik Jafar Panahis, der immer noch im Gefängnis sitzt, obwohl das Urteil gegen ihn verjährt ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.02.2023 finden Sie hier

Film

Eigentlich war die Inhaftierung Jafar Panahis bereits im vergangenen Oktober vom Obersten Gericht des Landes aufgehoben worden, wie nun bekannt wurde: Das entsprechende Urteil von 2010 sei nach zehn Jahren ohne Vollstreckung verjährt. Dennoch sitzt der Regisseur weiterhin im berüchtigten Evin-Gefängnis ein. Jetzt wehrt er sich mit einem trockenen Hungerstreik dagegen und ist bereit, zum Äußersten zu gehen, berichtet Daniel Kothenschulte in der FR: "Die Mitteilung über Panahis Hungerstreik wirkt umso alarmierender, als es gerade diesem Filmemacher immer wieder gelungen ist, unter denkbar widrigen Umständen weiterzuarbeiten. Nicht nur ignorierte er mehrfach sein Arbeitsverbot, aus den formalen Beschränkungen erwuchsen auch verfeinerte künstlerische Ausdrucksformen. Und nicht nur das: Nie überwog in seinen letzten Filmen die Bitterkeit, stets gab es etwas Menschlich-Aufbauendes darin, von dem man sich fragen konnte, woraus er es schöpfte." Die Welt bringt Panahis Erklärung im Wortlaut.

Der Berliner Filmbranche hat ein Nachwuchs- und Fachkräfte-Problem: Wollten früher noch so gut wie alle jungen Leute zu Film und Fernsehen, ist das heute nicht mehr der Fall, beobachtet die selbst noch junge Helena Sophia Schäfer in der FAZ. "Woran könnte das bloß liegen? Wer in Bologna-Zeiten studiert und von einem schlecht bezahlten Praktikum in besagter Medien- und Kreativwirtschaft ins andere schlittert, muss da tief in sich gehen. Das ZDF-Programm von heute verspricht 'Die Küchenschlacht', 'Bares für Rares' und 'Die Rosenheim-Cops', vermutlich gespickt mit Werbung für Tabletten gegen Schwindel, Sodbrennen und Prostataleiden. Wer träumte da nicht, Kabelschlepper beim Rundfunk zu sein? Die Kreativität lebt, da können die besorgten Älteren ganz beruhigt sein. Nicht die Jungen sind spießig, sondern das Fernsehen der Alten ist es. Die Jungen haben längst ihre eigenen Formate erfunden. Und ein Glück: Das Tiktok-Video kann man eigenhändig mit dem Smartphone produzieren. Da muss niemand Kabel schleppen."

Besprochen werden Albert Serras "Pacifiction" (Tsp, FAZ, mehr dazu bereits hier) und Alex Schaads Körpertauschfilm "Aus meiner Haut" (Standard, ZeitOnline).
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Kunst

Niki de Saint Phalle, King-Kong, 1962, Schießbild. Albin Dahlström / Moderna Museet, © 2022 Niki Charitable Art Foundation, All rights reserved / ADAGP, Paris


Wem die Kunst Niki de Saint Phalles zu bunt und poppig ist, dem empfiehlt FAZ-Kritiker Stefan Trinks einen zweiten Blick auf ihr Werk, den man derzeit in der Frankfurter Schirn werfen kann. Zwischen all den fröhlichen Nanas erkennt er dann vielleicht auch die "Bildsprache des Ruinösen" in ihrem Werk, die sie mit einigen Nachkriegskünstlern teilte: "Während sie erkennbar manches in ihren frühen Bildern vom Tachismus eines Paul Klee oder von Jean Dubuffet entlehnt (etwa die Assemblage 'Stones', eingegipste Kieselsteine und Tonfragmente oder 'Zerbrochene Teller' von 1958, das wie Spoerri ein Jahr später Fragmentiertes als 'Tafel-Bild' festklebt), sind die meisten Bildfindungen dieser Jahre aus einem Grund ureigen: weil sie zugleich von ihrem persönlichen Leiden wie auch dem der Welt erzählen. Prägend für diese Idee des Einbettens in Trümmerfonds war wohl eine erste Europareise der in den USA Aufgewachsenen 1948 mit den noch allenthalben sichtbaren Ruinen und Wunden des Kriegs. So zeugt das Gipsrelief 'Green Sky' mit einem eingebackenen Spiegel auch nicht von Narzissmus, sondern stellt eine Parallele zu Beuys dar, der in die Nachkriegs-Bronzetür des Kölner Doms seinen Rasierspiegel eingoss."

Auch Lisa Berins freut sich in der FR, dass die Schirn Niki de Saint Phalle "als eine Hauptvertreterin der europäischen Pop-Art [würdigt], als Mitbegründerin des Happenings, als politisch Denkende und als eine der ersten Frauen, die sich im männlich dominierten Kunstbusiness durchsetzte".

Kiki Kogelnik, Robots, 1966-1967. Kiki Kogelnik Foundation © Kiki Kogelnik Foundation.


Eine Schwester im Geiste Saint Phalles kann man im Kunstforum Wien kennenlernen, das Kiki Kogelnik eine große Retrospektive widmet und die sich ebenfalls in den sechziger Jahren in einer männerdominierten Kunstwelt durchsetzte. "Die Inszenierung als Fashion- und Party-Girl verstellte allerdings zunehmend ihre Kunst", erzählt im Standard Katharina Rustler. "In der Wiener Szene galt sie als Spaßmacherin und wurde lange Zeit nicht ernst genommen." Dabei "beschäftigte sich Kogelnik Mitte der 1960er-Jahre mit zukunftsweisenden Themen wie Raumfahrt, Robotik und medizinischen Neuerungen. Rund 20 Jahre vor dem aktuell gefeierten 'A Cyborg Manifesto' der Theoretikerin Donna Haraway vermischte Kogelnik in akribischen Zeichnungen bereits Mensch und Maschine. In ihrem 1963 entstandenen Gemälde 'Fly Me to the Moon' griff sie die Mondlandung voraus, ihre Bombenhülsen-Skulpturen waren kritische und zugleich ironische Kriegsrelikte. Zum anderen begeistern ihre Werke mit einer bunt-quietschigen Ästhetik und schlagen mit den darin präsenten, später meist weiblichen Körpern deutlich feministische Töne an."

Weitere Artikel: Acht Schweizer Museen haben Raubkunst aus dem Königtum Benin in Nigeria in ihren Archiven gefunden, meldet Philipp Meier in der NZZ und denken nun darüber nach, was damit zu tun sei. In Sankt Petersburg wurde eine Schau mit Anti-Kriegsbildern der 77 Jahre alten Künstlerin Jelena Ossiopwa geschlossen, meldet die FAZ: Die Staatsanwaltschaft überprüfe eine Anzeigen wegen "Diskreditierung der Streitkräfte Russlands". Nach einem Gerichtsurteil wird die Tate Modern wohl ihre Aussichtsplattform schließen müssen, um die Privatsphäre der Bewohner eines benachbarten Glasturms zu schützen, meldet die FAZ.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Junge Wilde - Expressive Malerei im Berlin der achtziger Jahre" im Barlach Kunstmuseum Wedel (taz), die Ausstellung "Monet - Mitchell. Dialogue and Retrospective" in der Pariser Fondation Louis Vuitton (taz), die Ausstellung "Klimt. Inspired by Van Gogh, Rodin, Matisse..." im Belvedere Wien (Standard), eine Ausstellung von 120 grafische Arbeiten Aldo Rossis im Berliner Museum für Architekturzeichnungen (Tsp), die Collagen von Miriam Tölke in der Berliner Fotografie-Galerie Johanna Breede (Tsp) und zwei Berliner Ausstellungen anlässlich des 70. Geburtstags von Martin Kippenberger (Tsp).
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Musik

Besprochen werden Gannas Album "Home" (taz), Robert Forsters "The Candle And The Flame" (Tsp, mehr dazu bereits hier) und das Abschiedskonzert der K-Pop-Superstars BTS (Welt).
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Bühne

Gleich vier mal sind auf österreichischen Bühnen Operetten von Jacques Offenbach zu sehen. Was sagt das über Österreich, fragt sich Reinhard Kager in der FAZ. "Die politischen Ereignisse der letzten Jahre, beginnend mit den prahlerischen Machtphantasien des ehemaligen FPÖ-Politikers Heinz-Christian Strache im sogenannten Ibiza-Video bis zum Fall des Ex-ÖVP-Kanzlers Sebastian Kurz, haben die Alpenrepublik wahrlich in ein Operettenland verwandelt... Angesichts all dieser Turbulenzen halten Offenbachs auch heute noch brisanten Opéras-bouffes der kaum zu überzeichnenden Wirklichkeit den Spiegel vor."

Weiteres: Marco Frei schreibt in der NZZ über den Dirigenten Enrique Mazzola, der an der Oper Zürich Donizettis "Roberto Devereux" dirigieren wird. Besprochen werden die "Bakchen" von Euripides / Raoul Schrott in Wiesbaden (FR), die Uraufführung von Ivana Sokolas "Pirsch" in der Inszenierung von Christina Gegenbauer am Deutschen Theater Göttingen (nachtkritik), "Tristan und Isolde" an der Opéra national de Lorraine in Nancy (nmz) und "Simon Boccanegra" an der Deutschen Oper Berlin (BlZ).
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Literatur

Die SZ erinnert mit zwei Seiten daran, dass Maxim Billers Roman "Esra" vor zwanzig Jahren per Gerichtsbeschluss aus dem Verkehr gezogen wurde: In dem autobiografisch grundierten Liebesroman hatten sich eine Ex-Freundin des Schriftstellers und deren Mutter zu deutlich widergespiegelt gesehen - die Ex-Freundin bekam recht, die Mutter jedoch nicht. Beider Perspektive spielt für die SZ allerdings nicht die geringste Rolle, wurde der deutschen Literaturgeschichte doch ein Meisterwerk des Nachwende-Romans entrissen, so Nils Minkmar: Das Buch weise  mit all seinen Abgründen und wenig wattierten Darstellungen gesellschaftlicher Realität "in etwa die gleiche Ambition auf, die Welt zu verbessern, wie Vladimir Nabokovs 'Lolita': gar nicht. Es geht hier um die Möglichkeit von Literatur, eine solche Nichtgeschichte - außer Zank, Sex und sinnlosen Streifzügen durch Schwabing passiert nicht viel - unter marginalen Zeitgenossen in einen Roman zu verwandeln. ... Das Buch führt seine Leserinnen und Leser an einen entscheidenden Punkt: Große Literatur muss nicht von relevanten Dingen oder Personen handeln, sie braucht keine spannende Handlung und wirklich keine klare moralische Haltung. Ihre Freiheit realisiert sich vielmehr eben und gerade in der Überwindung solcher Kategorien." Es ist allerdings auch nicht Minkmars Intimleben, an dem die Freiheit der Literatur exemplifiziert wird.

Es war ein "Schock", als die einstweilige Verfügung auf dem Tisch lag, erzählt KiWi-Verleger Helge Malchow, der den Roman lektoriert hatte. Für das postmoderne Spiel mit Realität und Fiktion, wie es um 2000 in Mode war, hatten die Richter keinen Sinn, sagt er: Dann müsse man auch all die "Klassiker der Literatur verbieten", denen reale Menschen zugrunde liegen. Malchow hat "dieser Prozess in der Frage der Eigenständigkeit literarischer Texte radikalisiert. Heute bin ich noch entschiedener der Meinung als 2003, dass hier ein Kulturgut zu verteidigen ist und dass dieses Urteil grundfalsch war. Im Vergleich zum 'Mephisto'-Urteil gegen Klaus Mann hat es die Situation zu Ungunsten der Kunstfreiheit sogar noch einmal verschärft. Bei dem 'Mephisto'-Urteil hatte den Ausschlag gegeben, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit die Ähnlichkeiten feststellen könnte. Bei 'Esra' genügte schon ein kleiner Kreis von Menschen."

Heribert Prantl steigt tief ein in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das in der Sache 2007 final gegen Biller entschied - wenn auch nicht einstimmig: Drei Richter kritisierten in zwei Sondervoten "die Entscheidung der Richtermehrheit massiv. Man könne, so schrieben sie, Kunst nicht graduell am Maß der Verfremdung messen. Und allein aus dem Umstand, dass in einem Roman intime Szenen enthalten sind, könne nicht gefolgert werden, sie berichteten über das wahre Sexualleben der Person, die als Vorbild für die Romanfigur erkennbar ist. Die Argumentation der Senatsmehrheit stelle, so die drei Dissenter, den Autor vor die Alternative, Intimes entweder nur mit nicht erkennbaren Personen darzustellen oder auf dessen Thematisierung überhaupt zu verzichten. Das führe zu einer der Kunst auferlegten Tabuisierung des Sexuellen. Diese Kritik hat recht."

Themenwechsel: Peter Neumann zeigt in der Zeit kein Verständnis für die böse Häme, die über Judith Zander auf Social Media ausgegossen wurde, nachdem ihr Gedichtband "im ländchen sommer im winter zur see" mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde (wobei man vielleicht einwenden könnte, dass Unflat aus Facebook-Kommentarspalten in aller Regel selten satisfaktionsfähig ist). Statt wüst zu schäumen, "hätte man sich eigentlich an so seltenen botanischen Bezeichnungen wie dem 'Wiesenschaumkraut' und der 'Kuckucksspucke' berauschen können. Gerade die Kuckucksspucke, eine landläufige Vokabel für die Schaumnester der Wiesenschaumzikaden (was für ein Wort, so wellig und weich!), klingt doch so, als käme sie geradewegs aus Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder, also direkt von drüben aus der Weimarer Klassik, der nun wirklich letzten Bastion der deutschen Dichtkunst. Dann tauchen auch noch die 'Lichtkeimer' auf. Und wer braucht das nicht zurzeit, Licht zum Wachsen, Wegzehrung für die finsteren Tage und Stunden? "

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Im Darmstädter Literaturhaus feierte Kurt Drawerts Textwerkstatt ihren 25. Geburtstag, berichtet Andreas Platthaus in der FAZ. Besprochen werden unter anderem Monika Marons "Herr Aurich" (Standard), Wilhelm Genazinos "Der Traum des Beobachters" (Tsp) und Ha Jins "Der verbannte Unsterbliche - Das Leben des Li Bai" (FR).
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