Efeu - Die Kulturrundschau

Kein Sex, aber viel Essen

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06.02.2023. Im Standard entdeckt Clemens J. Setz im parallelen Denken Poesie und Messiness. Die taz entdeckt die Künstlerin Margaret Raspé, die einst das dumme Huhn in sich tötete. In der SZ glaubt der Dramaturg Roland Zag nicht, dass eine Reform der Förderung den deutsche Film poetischer oder radikaler machen wird. Der Tagesspiegel stellt fest, dass Berlin literarisch unattraktiv geworden ist. Die FAZ mischt sich bei der Hamburger Biennale für Neue Musik unter das endlich wieder junge Publikum. Und alle trauern um den Theatermacher Jürgen Flimm.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2023 finden Sie hier

Kunst

Nie wieder Huhn sein: Margaret Raspés "Oh Tod, wie nahrhaft bist du", 1972-73. Bild: Haus am Waldsee

taz
-Kritikerin Sabine Weie entdeckt mit der Ausstellung "Automatik" im Haus am Waldsee in Margaret Raspé eine Schlüsselfigur der feministischen Kunstszene Berlins. Die meisten Videos, die Raspé mit einer Helmkamera aufnahm, zeigen sie selbst bei der Hausarbeit: beim Abwaschen, Kuchenbacken, Schnitzelschlagen. Am meisten beeindruckt Weie jedoch die Arbeit, in der Raspé einem Huhn den Kopf abschneidet: "'Oh Tod, wie nahrhaft bist du' markiert einen Wendepunkt im Leben Raspés. 'Als ich das Huhn tötete, habe ich auch eine Vorstellung von mir selbst getötet: Du blödes Huhn. Nie mehr werde ich ein Huhn sein! Ich habe ihm den Kopf abgeschnitten, weil Frauen ja nicht selber denken sollten', sagte Raspé einmal in einem Interview. Als Frau in einem männlich dominierten Milieu blieb ihre künstlerische Tätigkeit so brotlos wie die Reproduktionsarbeit, die sie als Hausfrau und Mutter leistete."

Martin Kippenberger: Heavy Burschi. Ausstellungsansicht Galerie Capitain Petzel

Eigentlich hätte Ingeborg Ruthe in der FR Martin Kippenberger gewünscht, dass sein siebzigster Geburtstag im SO36 gefeiert worden wäre, aber mit Ausstellungen in den Galerien Max Hetzler und Capitain Petzel kann sie auch leben: "Immer wieder ist das bis heute die Frage: Was war er eigentlich: Maler? Autor? Musiker? Trinker? Sarkastischer Selbstinszenierer? Bürgerschreck? Medienhansdampf? Er war von allem etwas. Mit krassem Humor, der empfindsame Gemüter aufbrachte. Mal gab er den Radaumacher, mal den Lebemann, mal den verstörenden, unverzeihlich verletzenden Chauvinisten, leider gerade in Bezug auf Frauen und auf 'Schwuchteln', mal den alles vernetzenden Spiderman. Er konnte alles und verwurstete Sämtliches, was in der Kunst der Expressionisten, der Pop- und Street-Art, bei Dada und Fluxus schon mal da war. Und er erfand alles für sich neu und vor allem jenseits des tradierten Kunstbegriffs vom Lukullischen. Der Alles-Macher, der Beuys trotzig ins Gegenteil verkehrte mit dem Satz 'Jeder Künstler ist auch ein Mensch', stammte aus Dortmund, studierte in Hamburg, mischte West-Berlin auf - und starb elend in Wien."

Weiteres: In der NZZ reist Nadine A. Brügger mit einem Team von Denkmalpflegern durch das Wallis.

Besprochen werden eine Schau des amerikanischen Malers Wayne Thiebaud, der auf Tradition statt Pop setzte, in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel (FAZ) und eine Ausstellung der Berliner Fotografin Miriam Tölke in der Galerie Johanna Breede (Tsp).
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Literatur

Im Januar gab das African Book Festival in Berlin bekannt, dass Mohamedou Ould Slahi Houbeini sein neuer Kurator würde. Die taz deckte relativ rasch auf, dass Houbeini, der in Guantanamo einsaß, jahrelang Mitglied radikalislamistischer Sekten wie Al Qaida und den Taliban war (unser Resümee). "Fast noch skandalöser ist, dass das alles niemanden zu stören scheint. Die Festivalleitung bagatellisiert", entsetzt sich Ronya Othmann in der FAS. "Die Opfer kommen in den Erzählungen nicht vor. Ohnehin kommen die Opfer von Islamismus kaum vor. Auch nicht im Kulturbetrieb, wo man sich - das ist wichtig und richtig - durchaus dem rechten Terror widmet, mit Lesungen, Theaterproduktionen, Ausstellungen. Doch es scheint, als habe man den Terroranschlag vom Breitscheidplatz verdrängt, als sei er nur ein Autounfall gewesen. Eine größere Debatte blieb auch aus, als deutsche IS-Mitglieder 2014 in Bagdad 74 Menschen töteten."

Clemens J. Setz' neuer Roman "Monde vor der Landung" handelt von dem realen Piloten Peter Bender, der der festen Überzeugung war, dass die Erde eine Hohlkugel ist. Es geht dem Schriftsteller damit um das Phänomen der kognitiven Dissonanz, das viele Verschwörungstheoretiker auszeichnet, erzählt er im Standard-Gespräch. Die Recherchen dazu waren wie "eine Explosion von ungeheuer interessanten Details über eine Person, die in einer völligen Parallelwelt lebt, aber funktional ist. Eine heroische, gefährliche, poetische, leichtsinnige Person. Wunderbar widersprüchlich auf allen Ebenen. ...  Bender hatte eine extreme Abneigung gegen Leute, die die 'Wahrheit nicht wissen', genauso wie heute Flat-Earth-Youtuber, die sich über die Primitivität ihrer Mitmenschen lustig machen. 'Querdenkertum' ist ein radioaktives Wort, ein hässliches Wort. Aber die Parallelität ist gegeben, und es wäre gelogen, zu behaupten, ich hätte die aktuelle Situation nicht mitgedacht. Ich habe aber noch nichts gelesen, was die Komplexität des Querdenkens ausdrückt." Doch "man kann so jemanden nicht auf 'böser Mensch, Trottel' reduzieren. Mich interessiert alles, was 'messy' ist, und ich denke für 'messiness' ist der Roman die adäquate Darstellungsform."

Gerrit Bartels vom Tagesspiegel vermisst beim Durchblättern der Verlagsprogramme den vor einigen Jahren noch so herbeigesehnten Berlin-Roman: Die Hauptstadt ist literarisch unpopulär geworden. Dabei müssten die Themen doch buchstäblich auf der Straße liegen: "Berlin sollte die Hauptfigur sein, die Stadt selbst alles überwölben und die Figuren zu dem machen, was sie sind oder sein wollen oder behaupten zu werden oder wie auch immer. Das kann die Tristesse eines Bezirks wie Hohenschönhausen oder der Gropiusstadt genauso sein wie eine einzige Bar (also Felix Lobrechts 'Sonne und Beton' oder Ju Innerhofers Bar-25-Roman)." Aber "vielleicht ist die Stadt auch wieder zu weit entfernt davon, eine Metropole zu sein, und schon gar nicht, wenn man unter der Woche nach zehn Uhr im Bötzowviertel herumläuft. Da möchte man lieber sofort einen Dorfroman schreiben."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Das International Board on Books for Young People, eine Non-Profit-Dachorganisation für Kinderbuchautoren, steht vor einer Zerreissprobe, seit zentrale Positionen mit Russen besetzt wurden, berichtet Katrin Hörnlein in der Zeit. Thomas Meyer schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Literaturwissenschaftlerin Itta Shedletzky.

Besprochen werden Marlene Streeruwitz' "Tage im Mai" (Standard), Sofi Oksanens "Baby Jane" (taz), Ana Marwans "Verpuppt" (Freitag), Volker Reinhardts Montaigne-Biografie (ZeitOnline), neue autobiografische Romane (Standard), Harald Stuttes "Wir wünschten uns Flügel" (SZ) und neue Krimis, darunter Claudia Piñeiros "Kathedralen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Ist die Filmförderung erst einmal reformiert, geht es aber mal so richtig, richtig los mit dem deutschen Film - dieser voreiligen und etwas naiven Vorstellung erteilt der Filmdramaturg Roland Zag in der SZ eine Absage: Viel zu lange war Filmproduktion in Deutschland von der insbesondere durchs Fernsehen etablierten Maßgabe lauwarmer Konformität überformt, als dass jetzt die wagemutigen, international für Aufsehen sorgenden Filme wie aus dem Nichts aus dem Himmeln fallen könnten: "Sollte es also nun Claudia Roth wirklich gelingen, die Filmkunst von der Koppelung an die Dienstleistungskultur des Fernsehens zu befreien, dann wäre das zwar überfällig - aber erst ein Anfang. Dann stünden all die in der Pflicht, die es inzwischen ein wenig verlernt haben, sich des Kunstvertrags und seines Aufrufs zur großen ästhetischen Erfahrung zu entsinnen. Kunst kennt keine Tabus - auch nicht das der Publikumswirksamkeit. Die Filmbranche sollte entsprechend lernen, politischer, poetischer, radikaler zu denken, zu schreiben, zu fördern. Die Zweifel, ob ein solcher Prozess gelingen kann, mögen vielleicht groß sein - das sollte uns aber nicht hindern, daran zu glauben."

Seit Netflix koreanische Liebesserien im Westen populär gemacht hat, steigt die Zahl der Frauen aus dem Westen, die das Land besuchen, kontinuierlich, erklärt Hoo Nam Seelmann in der NZZ: Mittlerweile reisen in Millionengröße deutlich mehr Frauen als Männer nach Südkorea. "Eine südkoreanische Wissenschaftlerin wollte diesem Phänomen auf den Grund gehen und hat 123 Frauen aus Europa und Nordamerika in acht Hotels in Seoul interviewt. Die meisten von ihnen sind auf Südkorea und seine Kultur über Dramen, Filme und K-Pop aufmerksam geworden. Vor allem sind sie von gutaussehenden Helden der zahlreichen Serien angetan und auf der Suche nach einem Mann, der diesen ähnelt. ... Vergleicht man die Dramen aus Südkorea und jene aus dem Westen, fallen etliche Unterschiede ins Auge. Während es in den westlichen Serien viel Sex, aber kaum Essen gibt, sieht man in den koreanischen Dramen umgekehrt keinen Sex, aber viel Essen. Denn hier wird ständig und variationsreich gegessen und auch getrunken."

"Es ist nicht vorbei", ruft uns Christiane Peitz im Tagesspiegel trotz aller Freude über die Freilassung von Jafar Panahi ins Gedächtnis: "Dass tausende politische Gefangene weiterhin in den iranischen Gefängnissen sitzen, kann die Nachricht nur mühsam kaschieren. Und sie kann auch nicht über die Willkür eines Regimes hinwegtäuschen, das die drastischen Maßnahmen gegen Kritiker:innen seit dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amiri fortsetzt." Auch hatte "das Regime kein Problem damit, den 62-jährigen, seit Juli Inhaftierten auch nach dem 18. Oktober nicht zu entlassen, als der oberste Gerichtshof das Urteil von 2010 wegen Verjährung aufhob. Die Sicherheitsbehörden entscheiden, die Justiz wird zur Farce."

Außerdem: Dominik Kamalzadeh berichtet für den Tagesspiegel vom Filmfestival in Rotterdam. Stephan Hilpold spricht für den Standard mit österreichischen, für ihre Arbeit an "Tár" oscarnominierten Cutterin Monika Willi. Besprochen werden Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh" (Standard, Tagesspiegel, SZ, unsere Kritik) und Pepe Danquarts Dokumentarfilm über den Künstler Daniel Richter (Tsp).
Archiv: Film

Bühne

Die Feuilletons trauern um Jürgen Flimm, einen der umtriebigsten, aber auch erfolgreichsten Theatermacher der vergangenen fünfzig Jahre, mit Neigung zur sozialdemokratischen Kulturpolitik, wie unter anderem Williy Winkler in der SZ erinnert: "Gegen die immer feinsinnigeren Inszenierungen der Schaubühne unter Peter Stein bot Flimm handwerklicheres Theater und vergaß dabei auch nicht die Wirkungsmöglichkeiten, die politisiertes Theater bot. 1982, als Helmut Schmidt in der Nachrüstungsdebatte zu Fall kam, brachte Flimm in Zürich eine perückenbefreite 'Minna von Barnhelm' heraus, machte aus der Komödie Ernst und aus dem Siebenjährigen Krieg Lessings den drohenden Dritten Weltkrieg." In der FR betont Peter Iden, dass Flimm ein Ideal eines welthaltigen, gegenwartsnahen Theaters hochhielt, ohne auf Poesie zu verzichten. Und: "Über alle Maßen liebte er seine Schauspieler und Schauspielerinnen. Große Namen darunter, von Quadflieg bis zu Hans Christian Rudolph, von Therese Affolter bis zu Elisabeth Schwarz, der Trissenaar und Giulietta Odermatt, Helmut Lohner und Susanne Lothar." Weitere Nachrufe in FAZ, Tsp, NZZ. Dlf Kultur hat ein Gespräch von 2015 über Leben und Werk wieder online gestellt.

Besprochen werden die deutsch-burkinische Produktion "Cotton Club" des Bonner Fringe Ensembles, die Ausbeutung in der Baumwollindustrie beleuchtet (taz), eine Bühnenfassung von Raphaela Edelbauers Roman "Das flüssige Land" im Kasino des Burgtheaters (Nachtkritik, Standard), John von Düffels Stück "Die Wahrheit über Leni Riefenstahl" am Theater Oberhausen (SZ), Alexander Eisenachs Stück "Anthropos Antigone" in Kassel (das Nachtkritikerin Katrin Ullmann zufolge leider nicht mit Eisenachs großem Wurf "Anthropos, Tyrann" mithalten kann), Mateja Koležniks "Antigone" am Münchner Residenztheater (Welt) Thomas Manns Novelle "Mario und der Zauberer" am Staatstheater Darmstadt (FR), das "Archiv der Tränen" im Münchner Marstall (FAZ), Ioannis Mandafounis' Choreografie "Scarbo" im Pariser Théâtre de la Ville (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Seit die älteren Generationen beim Älterwerden ihre Sneaker aus jüngeren Tagen nicht mehr abstreifen, sondern als Signum von Junggebliebenheit einfach anbehalten, müssen sich die Jungen genau überlegen, wie sie sich abgrenzen, schreibt Wilhelm Schmid in der NZZ: Der Trend geht zu dicksohligen Boots. "Ein schwer schleppender Gang statt behender Leichtigkeit ist der neue Signature-Move. Die plumpen Treter, vorzugsweise pechschwarz, sind angeblich 'mit Komfort' ausgestattet, aber das gilt wohl nur für die Handfertigung aus Leder. ... Plateauschuhe sind kein Fetisch mehr. Durchgehend auf Gebirgshöhe gebracht, sind sie very stylish. Die Lieblingsvokabel der fortgeschrittenen Moderne, immer und überall 'unterwegs zu sein', hat mit einem solchen Schuhwerk ausgedient. Laufschuhe werden zum Auslaufmodell. Es hat keinen Sinn mehr loszugehen, wohin denn? Überall ist Krise. Jetzt ist Bodenhaftung angesagt. Vielleicht sogar mit Haftkleber. ... Es geht nicht mehr um schön. Eleganz war gestern. Jetzt steht Elementares auf dem Spiel, das signalisiert der 'Big-Stiefel-Trend'. Die klobigen Klötze eignen sich bestens, um durch den Morast zu waten, der bei der Zunahme von Starkregenfällen zu erwarten ist. Es ist die ultimative Ausrüstung der 'letzten Generation'."
Archiv: Design

Musik

Dass "Visions", die neue Biennale für Musik des 21. Jahrhunderts, die ohnehin derzeit wieder gut besuchte Elbphilharmonie nicht nur füllt, sondern dies auch noch mit einem auffallend jungen Publikum, stimmt FAZ-Kritiker Jan Brachmann hoffungsvoll - zumal das Programm anspruchsvoll ist: etwa Rebecca Saunders' "to an utterance" - das "ist Musik, die nicht nur die Spieler angreift und auszehrt. Der Solist Nicolas Hodges schützt seine Ballen mit Halbhandschuhen, um sich bei den vielen Clustern und Glissandi nicht die Haut von den Händen zu schaben. Saunders hat dem Klavier konsequent verweigert, was es der Tradition nach ausmacht: ein Resonanzinstrument zu sein, das der Obertonreihe folgt und auf eine wohltemperierte Tonalität ausgerichtet ist. Stattdessen nun: Glissandi und Cluster, gern mit ganzen Unterarmen, von denen die Fixierung auf den klaren Ton zerschossen wird in Richtung Geräusch. ... Es ist Musik pausenloser Aggression, Musik der Droh- und Vertreibungsgesten, der nur von Alarmsignalen oder Zäsuren des Kollabierens Einhalt geboten wird. Die Befriedung am Ende entsteht nicht durch Verständigung zwischen Klavier und Orchester, sondern durch Resignation, Vereinsamung und Ermüdung."

Weitere Artikel: Beyoncé hat in der letzten Nacht mit insgesamt 32 Auszeichnungen den bisherigen Grammy-Rekord gebrochen, melden die Agenturen. Frederik Hanssen schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Dirigenten Caspar Richter. Für die Jungle World porträtiert Charlie Bendisch den Rapper Loyle Carner: Dessen "unprätentiöse Gelassenheit in Kombination mit seinen reflektierten Texten und den warmen, dahinschwelgenden Beats haben ihn zu einem der sympathischsten Rapper Großbritanniens gemacht".



Besprochen werden ein Konzert der Münchner Philharmoniker mit dem Cellisten Gautier Capuçon unter Lorenzo Viotti (Standard), ein Auftritt von Nils Landgren (FR) und das neue Arcs-Album "Electrophonic Chronic" (Tsp).

Archiv: Musik