Efeu - Die Kulturrundschau

Messerscharf exekutiert

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07.02.2023. Im Tagesspiegel wehrt sich Carlo Chatrian gegen Vorwürfe, mit fünf deutschen Filmen im Wettbewerb die Berlinale zu einem regionalen Schaufenster zu machen. FAZ und NZZ jubeln über Inga Kalnas und Stephen Costello in einer Zürcher Inszenierung von Donizettis Tudor-Oper "Roberto Devereux.  SZ und Nachtkritik können sich nicht wirklich darüber empören, dass Zürich die Intendanten Stemann und Blomberg ziehen lässt. Die taz fragt, ob Kunsthäuser mit dem Emirat Schardscha kopperieren sollten. Außerdem: Grammyregen für Beyoncé und Harry Styles.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2023 finden Sie hier

Film

Im Tagesspiegel sprechen Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek (leider verpaywallt) über das postpandemische Comeback der Berlinale nach zwei Krisenjahren. Dass der Wettbewerb mit seiner deutlich deutschen Schlagseite in diesem Jahr zu einem regionalen Schaufenster wird (unser Resümee), glaubt Chatrian nicht: "Wenn Cannes zu 60 Prozent Filme zeigt, die von Frankreich (ko-)produziert sind, fragen Sie das nicht. Und es handelt sich beileibe nicht um regionale Größen, alle fünf haben internationales Renommee, waren bereits in Cannes oder Venedig dabei. Und sie sind sehr verschieden: Christoph Hochhäusler hat einen Krimi gedreht, Margarethe von Trotta ein eigenwilliges Biopic über Ingeborg Bachmann, Emily Atef einen der seltenen Filme, in denen man Körper förmlich riechen kann - Körper filmen, nackte, begehrende Körper, gehört zu den größten Herausforderungen des Kinos. Angela Schanelec geht mit ihrer Kunst, in Ellipsen zu erzählen, weiter als bisher, und bei Christian Petzold war sich das Auswahlkomitee ebenfalls sofort einig."

Weitere Artikel: Im Standard gratuliert Valerie Dirk dem koreanischen Regisseur Park Chan-wook zum 60. Geburtstag. Aktuell ist sein Thriller "Die Frau im Nebel" in den Kinos zu sehen - unser Resümee. Besprochen werden Michel Hazanavicius' Zombiekomödie "Coupez!" (Standard), ein Arte-Porträt über den Schauspieler Val Kilmer (taz) und Sabine Boss' Schweizer Beziehungskomödie "Das Paar von oben" (NZZ).
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Bühne

Ein Skandal sei es nicht, das Zürich seinen Schauspielhaus-Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg den Vertrag nicht verlängert, hält Peter Laudenbach in der SZ fest, erinnert aber auch daran, dass schon Christoph Marthaler und Peter Stein aus Zürich verjagt wurden: "Der Vorwurf der NZZ, Stemann und von Blomberg hätten das Theater ideologisiert ('Die Botschaft stand zu oft über der künstlerischen Umsetzung'), klingt dabei selbst etwas ideologisch. Es wirkt, als sei das Theater Opfer eines Stellvertreterkrieges zwischen einer identitätspolitischen Linken und Freunden tradierter Privilegien geworden. Mit ihrer etwas penetranten politischen Selbstpositionierung haben die Intendanten das ihre zu diesen Grabenkämpfen beigetragen." In der Nachtkritik räumt Valeria Heintges ein, dass Steman und Blomberg nicht nur mit Diversität und Peppigkeit das Publikum vor den Kopf gestoßen haben: "Auch Freunde guten Schauspielertheaters in großen Inszenierungen kamen immer weniger auf ihre Kosten. Halb coronabedingt, halb aus Überzeugung gab es kaum noch Arbeiten mit großer Besetzung. Im Gegenteil: Co-Intendant Stemann verfolgte seine Linie, große Werke wie 'Besuch der alten Dame' oder 'Ödipus' auf zwei Schauspieler:innen einzudampfen. Das Ergebnis überzeugte ästhetisch. Aber insgesamt war das Angebot unausgewogen, zu viel Anspruch, zu viel Moral, zu wenig Humor und Lust am Sprechtheater."

Powersoran: Inga Kalnas in Donizettis "Roberto Devereux. Foto: T+T Fotografie / Oper Zürich

Wohlgefallen findet bei NZZ-Kritiker Christian Wildhagen ganz eindeutig Donizettis Tudor-Oper "Roberto Devereux", die David Alden in Zürich ziemlich vom Ende her als packendes Drama einer alternden Königin Elisabeth I. erzähle: "Wieder einmal hat die Queen einen ihrer Günstlinge der Staatsräson opfern müssen - business as usual, denkt man noch, während das Orchestervorspiel mit bittersüßer Ironie eine Variation über 'God save our gracious Queen' anklingen lässt. Doch zack! Da fahren schon wieder diese Axtschläge dazwischen, von der Philharmonia Zürich unter dem Dirigenten Enrique Mazzola messerscharf exekutiert. Plötzlich ahnt man: Das Leben dieser Königin muss ein einziger Kampf, ein Schlachten und fortwährendes Intrigieren gewesen sein. Das letzte Opfer in dieser langen Reihe gibt ihr nun den Rest. " In der FAZ ist Werner Grimmel hingerissen von den beiden Hauptpartien: "Inga Kalnas warm grundierter Powersopran verfügt über alle Farben für Elisabettas emotionale Achterbahnfahrt. Selbst dort, wo sie ihre Wut herausschreit und Prozessakten dazu theatralisch auf den Boden knallt, bleibt sie dem Ideal des Singens verpflichtet. Messerscharf treffen ihre Spitzentöne. Gehässigkeit schafft sich Luft in erdig tiefen, fast ordinär ausartenden Passagen. Doch auch Verletztheit vermag Kalna anrührend leise zu artikulieren. Als selbstherrlicher Titelheld Roberto beeindruckt Stephen Costello mit geschmeidig stabilem Tenor - ein windiger Hasardeur, der seinen Einfluss überschätzt und sich am Ende verzockt. Mit souverän dosierter Dynamik und betörenden Kantilenen weiß er Elisabettas Vertraute Sara zu verführen.

Weiteres: Der Standard resümiert ein Interview des Senders Ö1, in dem Burgtheater-Chef Martin Kusej sein Agieren im Fall Florian Teichtmeister erklärt. In der Berliner Zeitung fragt Ulrich Seidler, wer sich solchen Quatsch ausdenkt: Ein Kulturzentrum im niederländischen Groningen hat die Aufführung von Samuel Becketts "Warten auf Godot" untersagt, weil zum Casting nur Männer eingeladen wurden. Im Streit um die Auftritte von putinnahen KünstlerInnen wie Anna Netrebko zeigt sich Harry Nutt genervt von wohlfeilen Phrasen über die verbindende Kraft der Kultur (oder des Sports). Michael Bartsch erzählt in der taz, wie die migrantischen Bürgerbühne "Thespis" in Bautzen mit ukrainischen Kindern arbeitet.

Besprochen werden die feministisch grundierte "Woyzeck"-Inszenierung von Kollektiv Glossy Pain am Theater an der Ruhr (SZ) und Verdis "La Traviata" in Darmstadt (FR).
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Kunst

Durchaus einige Bauchschmerzen verursacht bei taz-Kritiker Ingo Arend, dass die Hamburger Deichtorhallen für ihre Ausstellung "In the Heart of Another Country" mit der Kunststiftung des Emirats Schardscha kooperiert, auch wenn der Ministaat nicht so übles Artwashing betreibe wie etwa Katar: "Die Kooperation offenbart ein kunststrategisches Dilemma. Bei fast jedem Versuch, 'unsere hauptsächliche Blickrichtung von Europa nach Nordamerika und zurück zu erweitern', wie es Dirk Luckow, dem Chef der Deichtorhallen vorschwebte, geraten Ausstellungsmacher:innen an widersprüchliche Partner... Der Mythos, der Schardschas Sammlung einer kritischen Kunst vorauseilt, führt dazu, dass selbst ein freiheitsliebender Künstler wie Halil Altındere aus Istanbul, der seit Jahren gegen die Autokratie des dortigen Präsidenten ficht, gern darin vertreten ist. Oder Abu Lawrence Hamdam, der für seine Kunst sehr genau auf die Menschenrechte blicken will, jedoch in Schardscha offenbar nicht."

Der Tagesspiegel meldet, dass Abschlussbericht zur documenta fifteen vorliegt und die bisherigen Erkenntnisse bestätigt (hier als pdf): Taring Padis Plakat "People s Justice" und  eine Zeichnung Naji al-Alis in den "Archives des luttes des femmes en Algérie enthielten eindeutig antisemtische Code, die Werke "Tokyo Reels" und "Guernica Gaza" könnten zumindest so interpretiert werden: "Die Reaktionen der künstlerischen Leitung und der Geschäftsführung seien dem Ernst der Lage nicht angemessen gewesen, kritisiert das Wissenschaftlerteam weiter. "
  
Besprochen werden eine Art-déco-Ausstellung in der Cité de l'architecture et du patrimoine in Paris und das Video "Everything But The World" vom Post-Internet-Art-Kollektiv DIS wird im Schinkel-Pavillon (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Bekannt wurde die amerikanische Schriftstellerin Janet Lewis mit drei großen historischen Romanen über berühmte Prozesse, erzählt Angela Schader in ihrem "Vorwort" im Perlentaucher: "Dass Lewis auch den Missständen und Verwerfungen der Gegenwart ihr Augenmerk schenkte, bezeugt der auf 1943 datierende Roman 'Against a Darkening Sky', der unter dem Titel 'Draußen die Welt' demnächst in einer von Sylvia Spatz besorgten Übersetzung bei dtv erscheint. Sein Herzstück ist Mary Perrault, auf die etwas vom Temperament ihrer Schöpferin abgestrahlt haben dürfte; so ist gleich zu Beginn von der 'fröhlichen Gelassenheit' die Rede, welche die Spuren von Alter und harten Arbeitstagen von Marys Gesicht tilgt. Ihr Mann verdient den Unterhalt für die sechsköpfige Familie als Angestellter des Wasserwerks in der kalifornischen Ortschaft South Encina, seine Kaninchenzucht bringt Fleisch auf den Tisch und gelegentlich einen zusätzlichen Batzen. Man ist darauf angewiesen, wie auch auf Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten, denn der Roman spielt in den frühen 1930er Jahren, zu der Zeit, da sich die Große Depression durch Amerika zu fressen begann. 'Früchte des Zorns' werden bei Janet Lewis jedoch nicht roh aufgetischt; ihr Buch ist nicht, wie John Steinbecks auf dem Höhepunkt der Katastrophe handelnder Roman, bittere Anklage, sondern eine intime, aber facettenreiche Gesellschaftsstudie."

Weitere Artikel: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf Georg Fritschs Wiener Buchhandlung, in der schon Thomas Bernhard als junger Lyriker eingekauft hat. Ralph Trommer erkundet für den Tagesspiegel die Comichauptstadt Brüssel. Und: Salman Rushdie hat dem New Yorker sein erstes großes Interview nach dem Attentat gegeben - mehr dazu im Laufe des Vormittags in unserer Magazinrundschau. Sehr erleichternd, zu sehen, dass Rushdie sich sichtlich auf dem Weg der Besserung befindet:




Besprochen werden unter anderem Friedrich Christian Delius' "Darling, it's Dilius!" (taz), Ulrike Draesners "Die Verwandelten" (FR), Simone Scharberts "Rosa in Grau" (Jungle World), Maxim Znaks "Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis" (Zeit), neue Krimis (SZ), Dževad Karahasans "Einübung ins Schweben" (NZZ) und Marilynne Robinsons "Jack" (FAZ).
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Musik



Mit vier weiteren Grammys (schmerzhafterweise allerdings nicht in den Hauptkategorien) hat Beyoncé nun insgesamt 32 Trophäen im Regal - so viele wie niemand sonst. Das "Album des Jahres", die wichtigste Auszeichnung des Abend, hat laut Grammys aber nicht Beyoncé, sondern Harry Styles vorgelegt. Mit dem möchte Tobi Müller von ZeitOnline derzeit lieber nicht tauschen: Als Styles' Name fällt, "schirmen Bodyguards Beyoncé von den Kameras ab, auch Styles dringt nicht zu ihr durch für einen Handshake wie mit den anderen ihm stimmlich und musikalisch überlegenen Konkurrentinnen Adele und Lizzo. Er sucht Beyoncés Blick, einen Weg zu ihr, aber nope. Die Königin ist nicht zu sprechen. Gnade ihm Gott, wenn ihre Fans nun wie unterzuckerte Bienenvölker Kurs auf den Briten nehmen sollten. ... Zum vierten Mal unterliegt Beyoncé nun schon in der Königinnenkategorie, zuletzt gegen Adele 2017, die sich dafür offen schämte. Und es stimmt: Die Grammys haben ein historisches Problem damit, Schwarze, generell nicht-weiße Künstlerinnen angemessen zu würdigen. Seit ein paar Jahren tun sie viel, um dieses Problem loszuwerden."



Aber "definiert ein Grammy die Größe eines Popstars", fragt sich Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Eher nicht. Inzwischen ist es eher umgekehrt, zumindest bei Beyoncé, bei Musikern und Musikerinnen wie Kendrick Lamar, Taylor Swift oder Jay Z. Nicht auszudenken, wenn Beyoncé gar nicht gekommen wäre." Dass Styles auf der Bühne dann verkündete, dass sich Musik schwerlich in "besser" und "beste" unterteilen lässt, hält Jürgen Schmieder von der SZ daher für "Zwangsbescheidenheit. Denn auch dies bestätigte sich wenigstens in Teilen erneut: Durch die Geschichte der Awards zieht sich die Kritik, die Mitglieder der Recording Academy würden People of Color zwar Preise in bestimmten Genres (Rap, R&B, Dance) verleihen, in den Top-Kategorien 'Best Song', 'Best Record' und 'Best Album' aber doch lieber hellhäutige Künstler auszeichnen.

Weitere Artikel: Selenskyj wird beim legendären Festival della Canzone Italiana in Sanremo nun doch keine Ansprache halten, stattdessen werde nur ein Brief vorgelesen, berichtet Franz Becchi in der Berliner Zeitung: Kritiker hatten im Vorfeld eingewendet, dass das Festival politisch überformt werde. Im Standard-Gespräch erzählt der Sänger Georgij Makazaria, warum er seine russisch-folkloristisch angehauchte Band Russkaja aufgelöst hat. Besprochen werden zwei bei der Salzburger Mozartwoche aufgeführte Interpretationen der Totenmesse durch Jordi Savall und Thomas Guggeis (SZ).
Archiv: Musik