Efeu - Die Kulturrundschau

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08.02.2023. Die Expertenkommission legt ihren Bericht zum Antisemitismus auf der Documenta fifteen vor: Die Feuilletons sehen schön sortiert, wie viel Ignoranz, Verharmlosung und Abwehr am Werk und wie bedenklich das Kollektiv-Prinzip war. Auch, dass Handeln eine gedankliche Grundlage braucht, hält das Gremium fest. Der Guardian delektiert sich an Vermeers sublimen Alltagsszenen. Welt und Tagesspiegel bewundern Sarah Polleys Drama "Die Aussprache" über Missbrauch und Emanzipation in einer Mennoniten-Gemeinde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2023 finden Sie hier

Kunst

Die Expertenkommission zur Documenta fifteen hat ihren Abschlussbericht vorgelegt (hier als pdf), der im Großen und Ganzen die bisherigen Einschätzungen bestätigt. Taring Padis "People's Justice", Mohammed Al Hawajris "Guernica gaza", die "Tokyo Reels" und die erst später entdeckten "Archives des luttes des femmes en Algérie" arbeiten mit groben antisemitischen Figuren. Wie Stefan Trinks in der FAZ bemerkt, könnten die Ergebnisse nicht klarer ausfallen: "Die Auseinandersetzung mit Antisemitismusvorwürfen und Antisemitismus auf der documenta fifteen war über weite Strecken von Ignoranz, Verharmlosung und Abwehr geprägt, so der Bericht." In der SZ findet Jörg Häntzschel den 133 Seiten starken Bericht ausgesprochen instruktiv, aber auch fair, denn er würdigt Vielfalt, Komplexität und auch den Anspruch der Ausstellung: Doch halten die Autoren das Kollektiv-Prinzip für bedenklich: Das 'Wir' braucht ein 'Ihr', weil es ja sonst alles umfassen würde: Dazu gehören etwa der Staat, der Kapitalismus, der Globale Norden, die Institutionen, und eben immer wieder auch Israel und die Juden. Die seit den ersten Gerüchten von BDS-Nähe und Israelhass trotzige Abwehr durch Ruangrupa sehen die Experten in dieser Vorstellung begründet. Und je lauter die Kritik wurde, desto mehr radikalisierten sich die Kuratoren und schotteten sich ab. Pressten sie sich anlässlich des Taring-Padi-Bilds noch ein Mea Culpa ab, schossen sie später mit Rassismusvorwürfen zurück. Leugneten sie anfangs jede Nähe zum BDS, ließen sie kurz vor Ende der Laufzeit Plakate zu, die man kaum anders denn ins Höhnische gewendete BDS-Bekenntnisse verstehen konnte. ('BDS: Being in Documenta is a Struggle')."

Durchaus schonungslos findet in der FR Lisa Berins die Kritik des Gremiums an der Geschäftsführung, sowohl unter Sabine Schormann wie dann auch unter Andreas Fahrenholz, die sich organisatorisch und inhaltlich aus der Verantwortung gezogen haben: "Generell habe es zu wenige inhaltliche Überlegungen gegeben, zum Beispiel habe kein Konsens darüber geherrscht, welche Definition von Antisemitismus als Grundlage der Diskussion herangezogen werde. 'Wir wollen der Documenta nicht vorschreiben, welche Definition sie benutzen soll', erklärt Deitelhof, 'aber dass sie irgendetwas als Grundlage ihres Handelns heranzieht, das wäre zu erwarten gewesen.' Die Auffassung, dass Antisemitismus erst dann zu ächten sei, wenn er sich als strafrechtlich relevantes Bild äußert, sei nicht akzeptabel." Im Spiegel sieht Ulrike Knöfel mit dem kaum camouflierten Antisemitismus den moralischen Überlegenheitsanspruch der Kunst zertrümmert: "Auf der Documenta fand noch eine andere Camouflage statt, da wurde der radical chic mancher Werke zelebriert, aber einfach nicht thematisiert, dass außer der Ästhetik auch die Botschaft der Arbeiten radikal ist." Weniger zufrieden ist Ingo Arend in Monopol. Zwar habe das Gremium von früheren "reißerischen Generalverdikten" Abstand genommen, aber die Unatastbarkeit der Kunst werde eigentlich nur kraftvoll behauptet: "Die Weigerung von Sabine Schormann und Alexander Farenholtz, bestimmte Exponate in eigener Verantwortung und gegen die künstlerische Leitung zu kontextualisieren, war in dieser Interpretation der Kommission eine 'Pflichtverletzung'. In dieser Rollenbestimmung lauert freilich die Gefahr eines Staatskommissars oder einer -kommissarin durch die Hintertür."

Alltäglich, sublim: Vermeers "Dienstmagd mit dem Milchkug", 1658-60. Bild: Rijksmuseum 

Gar nicht genug Vermeer kann Adrian Searle im Guardian bekommen und jubelt über die Blockbuster-Schau im Amsterdamer Rijksmuseum, die alles versammelt, was auf Reisen geschickt werden darf: Das Mädchen mit dem Perlenohrring, das lesende Mädchen, das Milchmädchen. Sie alle steigern das Alltägliche ins Wunderbare, schwärmt Searle: "Sie beschwört das ins Wunderbare gesteigerte Alltägliche. Es fühlt sich wie ein Privileg an, diesen Frauen in ihrem Alleinsein, vertieft in ihre Tätigkeit, zu begegnen, ohne selbst gesehen zu werden. Die Ausstellung ist voll von solchen Momenten, sie führt uns durch Vermeers Karriere, so wie der Künstler selbst uns durch seine gemalten Szenen führt und leitet. Das Auge springt und huscht umher, aber Vermeer leitet uns auf Schritt und Tritt, indem er Dinge ein- und ausblendet, manche Dinge beschönigt und andere in den Vordergrund rückt. Alle Details in seiner Kunst können genau beobachtet werden - die über Delft ziehenden Wolken, die Verzierung eines spanischen Stuhls, der Grat auf einem anatolischen Teppich und das Glitzern eines Ohrrings - aber sie sind mehr als eine Bestandsaufnahme des Sichtbaren. Obwohl Vermeer ein genauer Beobachter von Oberflächen war, war er kein Realist. Seine Gemälde sind sorgfältige, komplexe Konstruktionen. Ihre akribische Kunstfertigkeit ist eine Fiktion und eine Anspielung, die von Weltoffenheit, Neugier und dem katholischen Glauben, zu dem er nach seiner Heirat konvertierte, geprägt ist."
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Film

Subjektwerdung durch Sprache: "Die Aussprache"

Sarah Polleys oscarnominiertes Drama "Die Aussprache" befasst sich mit sexuellem Missbrauch in einer Mennoniten-Gemeinde: Im amerikanischen Hinterland martern sich die gläubigen Frauen derselben, ob sie ihre übergriffigen Männer samt und sonders verlassen sollten. "Die Antwort auf diese Frage scheint eindeutig zu sein", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Doch wie nuanciert" Polley "die unterschiedlichen Positionen der Frauen abwägt, wie klug sie durch bloßes Zuhören - 'Women Talking' heißt Polleys Film, fast lakonisch, im Original - und die Interaktion der Frauen (und der Kamera mit ihnen) einen fast sakralen Raum schafft, in dem die Worte nachhallen, öffnet den staubigen Heuschober, durch dessen Fenster und Ritzen das Tageslicht hereinbricht, in die Welt." Der Film fühle sich dabei "nicht nur groß an, er sieht auch ebenso aus. Polley hat ihr Kammerspiel im historischen Scope-Format 1:2.76 gedreht." Sie "versteht die Weite der Perspektive, selbst in einem geschlossenen Raum, als integral für ihre Geschichte, die von einem Aufbruch handelt. 'Das Beste am Breitbildformat ist, dass wir selbst bei Close-ups zwei oder drei Menschen im Bild sehen können. So bleiben die Frauen immer miteinander verbunden.'"

Für Marie-Luise Goldmann von der Welt steht der Film in der Tradition hochspannender Dialogdramen, wenn die Frauen beratschlagen und abwägen und Szenarien durchdenken: "Das Austarieren dessen, was geschehen könnte, trägt sich so detailliert zu, dass man beinahe mit den Hufen unter dem Kinosessel scharrt, und sich fragt, ob sich die Frauen nicht besser beeilen sollten, möglichst schnell abhauen oder sich für den Kampf rüsten - sich unterhalten können sie ja auch unterwegs noch. Aber nein, es ist eine Entscheidung, die demokratisch erfolgen soll, auch vor zeitweiliger Redundanz schreckt niemand zurück. Alle Stimmen sollen gehört werden. Das feministische Projekt, es ist eines der Subjektwerdung durch Sprache." Araballa Wintermayr lobt in der taz die Gravitas, die die Inszenierung dieser Buchadaption verleiht und den Stoff damit aus der Theaterhaftigkeit erlöst: "Eine entsättigte Farbpalette verstärkt das Gefühl von zeitloser Bedeutung des Thematisierten, insbesondere der Einsatz fahler Blautöne schafft eine überaus ansprechende, eigene Ästhetik."

Besprochen werden außerdem Dominik Grafs neuer ARD-Film "Gesicht der Erinnerung" (FR), Vera Brückners Dokumentarfilm "Sorry Genosse" über eine Liebe zwischen Ost und West (Tsp), der Kinder-Animationsfilm "Maurice der Kater" nach einer Vorlage von Terry Pratchett (Standard) und Carl Gierstorfers auf Arte gezeigter Dokumentarfilm "Ukraine - Kriegstagebuch einer Kinderärztin" (ZeitOnline).
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Literatur

Der Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf ist gestorben. Er lebte im Schatten seiner Ehefrau Christa Wolf und fühlte sich da ziemlich gut, schreibt Katrin Hillgruber im Tagesspiegel. In "Der geteilte Himmel" beschrieb sie "dankbar ihr eheliches und familiäres Glück. Und so ist Gerhard Wolf in diesem Buch allgegenwärtiger als im sonstigen Werk seiner Frau - als sprichwörtlich verlässlicher Mann an ihrer Seite, als ihr empathischer Gesprächspartner in allen Lebenslagen." Außerdem "war er Rundfunkredakteur in Berlin und Leipzig und schnupperte Filmluft bei der DEFA, ehe er seine überaus fruchtbare Herausgebertätigkeit begann. Wolf war ein Freund der Poetinnen und Poeten, deren Stimmen er sammelte."

Auf "Mann von" lässt sich Wolf aber nicht reduzieren, schreibt Lothar Müller in der SZ: Kenner "wussten, dass er ein Kritiker, Lektor, Sammler und Entdecker von Rang war und all das mit Autorität nur sein konnte, weil er selbst nicht nur ein genauer Leser, sondern zugleich Autor war. Nur so wurde er zum Janus in der DDR, der Vergangenheit und Gegenwart im Blick hatte und für den die Schwelle zwischen west- und ostdeutscher Nachkriegsliteratur nicht unüberwindlich war. ... Eines seiner schönsten Bücher, die in Form einer Textcollage verfasste Erzählung 'Der arme Hölderlin' (1972) war aus der politischen Depression des Jahres 1968 hervorgegangen, das für Leute wie ihn nicht mit den Bildern rebellischer Studenten, sondern mit der Niederschlagung des Prager Frühlings verbunden war." Einen knappen Nachruf in der FAZ schreibt Tillmann Spreckelsen. Dlf Kultur hat ein Feature von 2021 und ein großes Gespräch über Leben und Werk aus dem Jahr 2015 online gestellt.

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Gerrit Bartels versucht im Tagesspiegel, die Familienverhältnisse in Prousts "Recherche" zu entschlüsseln. Andreas Platthaus blickt in der FAZ gespannt aufs Pariser Auktionshaus Artcurial, wo die Versteigerung einer Hergé-Titelbildzeichnung ansteht.

Besprochen werden unter anderem Clemens J. Setz' "Monde vor der Landung" (NZZ), Johan Harstads "Auf frischer Tat. Gesammelte Werke" (NZZ), Andreas Isenschmids "Proust und das Jüdische" (Zeit) sowie Virginie Despentes' "Liebes Arschloch" (SZ).
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Bühne

Man könne Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg nicht vorwerfen, in Zürich nur "wokes" Theater gemacht zu haben, befindet Jakob Hayner in der Welt (siehe unser gestriges Efeu), Stücke und Regiestile waren durchaus vielseitig. Dennoch haben sie eine Atmosphäre geschaffen, in der man sich von oben herab zur Wokeness verdonnert fühlte: "Das große Problem ist, wie kommuniziert wurde. Menschen reagieren allergisch auf bevormundende Sprache. Es braucht keine Triggerwarnung vor 'Wilhelm Tell'. Dass dort 'Gewalt und Waffen' vorkommen, weiß man und will nicht wie ein Kind behandelt werden. Ein kürzlich anberaumter 'Publikumsgipfel' zeigte die Entfremdung zwischen Publikum und Theater. Die Pressemitteilung zum Ende der Intendanz ist auch verunglückte Kommunikation. Dort heißt es: 'Die Öffnung des Theaters rund um die Themen Diversität und Inklusion, Nachhaltigkeit sowie die Erweiterung eines entschieden künstlerischen Theaterbegriffs sind in unseren Augen alternativlos.' Das sagen die Theatermacher, die zahlreiche wütende Abende gegen das neoliberale Managementunwort 'alternativlos' gemacht haben."

Weiteres: Die Welt bringt Erinnerungen an Jürgen Flimm, den Anfang machen Michael Frank und Hartmut Palmer.
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Musik

Eine repräsentative Studie zur Lage an den deutschen Konzerthäusern nach der Pandemie-Krise ergibt ein uneinheitliches Bild: Mehr als die Hälfte hat im Vergleich zum Stand vor Corona weniger Besucher, bei einem ansehnlichem Teil sind die Zahlen gleich geblieben, ein paar Häuser berichten sogar von mehr Publikum, schreibt Clemens Haustein in der FAZ. Und: Es lohne sich für die Häuser, sich für das Abo-Modell pr-technisch in die Bresche zu schlagen. "Der Druck, sich um sein Publikum bemühen zu müssen, setzt auch Kreativität frei. So hat bald die Hälfte der befragten Orchester neue Konzertformate ins Programm aufgenommen: Late-Night-Konzerte etwa nach dem eigentlichen Konzert oder Filmmusikaufführungen zu Stummfilmen. Auch das 1:1-Konzert, bei dem ein Musiker für nur einen Zuhörer spielt, eine Paradedisziplin der Corona-Zeit, führt seine Karriere fort. Übrigens weltweit, wie Gerald Mertens, der Geschäftsführer der Deutschen Musik- und Orchestervereinigung,  berichtet. Das Format, erfunden noch vor Corona bei den Sommerkonzerten im thüringischen Volkenroda, ist mittlerweile eine geschützte Marke."

Weitere Artikel: Geht es in der Geschichte der Popmusik um Freiheit, ist damit in aller Regel die Freiheit des Mannes gemeint, schreibt Klaus Walter in einem FR-Essay. Christian Schachinger wagt im Standard ein Experiment:Kann die Text-KI ChatGPT die Texter von Schlagern arbeitslos machen? In der FAZ gratuliert Achim Heidenreich dem Geiger Irvine Arditti zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Mark Andrews' Buch über die Sisters of Mercy (SZ), die Ausstellung "Hakenkreuz und Notenschlüssel - Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus" im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig (FAZ) und das neue, unter dem Pseudonym Tolouse Low Trax veröffentlichte Album des Kreidler-Musikers Detlef Weinrich (taz).

Archiv: Musik