Efeu - Die Kulturrundschau

Engelssturz auf Augenhöhe

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04.03.2023. Die taz lässt sich vom südafrikanischen Musikstil Amapiano hypnotisieren. Die FAZ betrachtet fassungslos 4,5 Millionen Euro teure Apartmentwohnungen auf dem 23.000 Quadratmeter großen Tacheles-Areal in Berlin Mitte, das der Senat 1998 für schlappe 2,8 Millionen Mark verramscht hatte. Da wendet sie sich doch lieber den farbenprächtigen Kimonos in einer fantastischen Pariser Ausstellung zu. Der Standard amüsiert sich im KHM Wien mit Georg Baselitz in einem malerischen FKK-Paradies.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.03.2023 finden Sie hier

Kunst

Victor Brauner, Sur le motif, 1937. Centre Pompidou, das eine große Brauner-Kollektion hat


In der FAZ stellt Stefan Trinks den rumänischen Surrealisten Victor Brauner vor, dem das Kunstmuseum in Timișoara, rumänische Kulturhauptstadt Europas 2023, eine große Ausstellung widmet: "Möglicherweise übertrugen sich die Chamäleon-Eigenschaften der vielsprachigen rumänischen Herkunft auf seine stilistische Pluralität; vor allem aber kamen sie ihm wohl beim Überleben zugute. Bis heute gleicht es einem Wunder, dass er als Jude die Jahre in Frankreich unter deutscher Besatzung überstand. Chamäleonaugen, die Gefahren frühzeitig sehen, allerdings auch stets gefährdet sind, werden eine Obsession Brauners. Das belegt etwa sein Bild 'Nach der Natur' aus dem Jahr 1937 - der Maler steht vor der Staffelei mit fest an den Körper gelegten Armen. Was den Baum und die rosa Wolke auf der Leinwand malt, sind seine fingerartig extrem in die Länge gezogenen Augäpfel, das Ganze vor dem rabenschwarzen Hintergrund niederländischer Altmeister-Interieurs. Selten ist das Abtasten zu malender Gegenstände anschaulicher umgesetzt worden als auf diesem Gemälde."

Horst Antes, Helmkopf 1, 1968/69. Galerie Knoell


Sehr befremdlich fanden Besucher in den Sechzigern auch die Bilder des heute ein wenig vergessenen Malers Horst Antes, dessen Werk die Baseler Galerie Knoell gerade zeigt, erzählt Hans-Joachim Müller in der Welt. "Antes war mal ein 'Star', als die Erfolgsbezeichnung noch gar nicht im Umlauf war. Mit seinen 'Kopffüßlern' - körperlosen Großschädeln, die wie Helme auf verborgenen Monstern zu sitzen scheinen - hatte er sich ein ungemein einprägsames Identitätsmerkmal geschaffen. Befremdet, ziemlich ratlos stand das zeitgenössische Publikum vor den humanoiden Geschöpfen, Anfang der 1960er Jahre war das. Und weil es noch keine Computerspiele gab und kaum Außerirdische im Kino, kam einem die Art wie eine unverständliche Botschaft aus dem Kunstjenseits vor."


Links Georg Baselitz, Fingermalerei - Schwarze Elke, 1973, © Georg Baselitz 2023, Foto: Jochen Littkemann, Berlin. Rechts Peter Paul Rubens, Helena Fourment ("Das Pelzchen"), 1636/38, KHM Wien

Standard-Kritikerin Katharina Rustler schwebt förmlich durch die Ausstellung "Baselitz. Nackte Meister" im KHM Wien, die "Werke von Tizian, Cranach oder Rubens mit Baselitz in fleischlichen Dialog treten lässt. Quasi ein malerisches FKK-Paradies - immerhin sind alle gezeigten Körper nackt." Aber hier geht es nicht um historischen Kontext, sondern um Oberfläche, Ästhetik, Spiel, so die Kritikerin, die viel Spaß in der Ausstellung hat. "So stellt Baselitz zu Beginn seine überdimensionalen Fingermalereien männlicher und weiblicher Akte - es sind er selbst und seine Frau Elke - mit Cranachs zartem Sündenfall: Adam und Eva sowie der brutal-lüsternen biblischen Szene von Loth und seinen Töchtern bei Albrecht Altdorfer zusammen. Präsentiert einen Engelssturz auf Augenhöhe mit seinen heiteren, reduzierten Strandfiguren aus den 80ern. Und stellt Elke mit dunkler Hautfarbe und 'Das Pelzchen' von Rubens in ein Kabinett zusammen. Der Kontext? Bitte nicht vergeblich suchen!"

Weitere Artikel: Sophie Jung fragt sich in der taz anlässlich des Festivals Europäischer Monat der Fotografie, wie autonom Fotografie heute ist. Carmela Thiele schreibt in der taz den Nachruf auf Peter Weibel.
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Bühne

Ida Luise Krenzlin unterhält sich für die Berliner Zeitung mit den Schauspielerinnen Julia Thurnau und Margarita Breitkreiz, die gerade im Roten Salon der Volksbühne zur Revolution der faulen Frauen aufrufen. Opernintendant Alexander Pereira tritt in Florenz als Intendant der Opera di Firenze, dem Teatro del Maggio Musicale Fiorentino zurück, meldet die SZ.

Besprochen werden Cyril Testes Inszenierung von Ambroise Thomas' Grand opéra "Hamlet" in Liège (nmz), Johan Simons' Inszenierung von Buñuels "Würgeengel" am Schauspielhaus Bochum (nachtkritik), die Uraufführung von Guillermo Calderòns "Bavaria" Residenztheater München (nachtkritik), eine dekonstruierte "Zauberflöte" am Kasseler Staatstheater (nmz) und Favia Costes "astreines" Boulevardstück "Nein zum Geld!" im Frankfurter Fritz Rémond Theater (FR).
Archiv: Bühne

Architektur

Das kriegt auch nur Berlin hin: Niklas Maak könnte sich in der FAZ die Haare raufen, wenn er die neuen Luxuswohnungen betrachtet, die auf dem 23.000 Quadratmeter großen Tacheles-Areal in Berlin Mitte an der Oranienburger Straße entstanden sind. Verscherbelt hat der Senat das ganze Grundstück 1998 für "absurde 2,8 Millionen Mark", so Maak. Heute soll allein ein Penthouse mit vier Zimmern über 4,5 Millionen Euro kosten. Sozialwohnungen gibts keine. Nichts gegen privaten Wohnungsbau, ärgert sich Maak, "es ist aber schon eine bizarre Volte der Berliner Politik, dass in einer Zeit, in der die lokale Regierung ihre Bürger mit recht unpopulären Eingriffen dazu bringen will, alle Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erledigen, die Wohnungen in der Innenstadt so teuer werden, dass der Fuß als Fortbewegungsmittel schon mal ausscheidet und das Fahrrad zum Symbol vergleichsweise wohlhabender Eliten wird."

Weiteres: Christian Zaschke besucht für die SZ den neuen New Yorker Bahnhof Grand Central Madison, der nach zwanzig Jahren Bauzeit eröffnet wurde. Besprochen wird Sabine Gisigers Film "The Mies van der Rohes" (NZZ).
Archiv: Architektur

Design

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Auf nach Paris, ins Museum du Quai Branly, ruft uns Andreas Platthaus in der FAZ zu. Dort ist eine Ausstellung von historischen Kimonos zu sehen - und dass diese bereits seit drei Jahren durch die Häuser dieser Welt reisen, grenze an einer Sensation: "Aus konservatorischen Erwägungen möchte man sich wünschen, dass es nun ein Ende damit habe, obwohl man in der Ausstellung selbst gar kein Ende finden kann." Deutlich wird dem Kritiker aber beim Rundgang, dass es beim Kimono um "die Kaschierung der Körperform" geht: "In Japan war man zu dezent, um körperliche Merkmale auszustellen; was an Alltagssexualisierung stattfand, das spielte sich über Attribute wie geschwärzte Zähne und weißgeschminkten Teint bei Frauen oder mittels Haarknoten bei Männern ab. Der Kimono aber ist in seinem Zuschnitt unisex, wobei es wiederum klar nach Geschlechtern getrennte Stoffmuster gibt. Doch mit westlichen Klischeevorstellungen von männlich oder weiblich kommt man da nicht weit: Aufgemalte oder -gedruckte (sehr selten gestickte) florale Motive schmücken auch Männerkimonos, und von den streng geometrisch gemusterten Beispielen sind die meisten für Frauen hergestellt worden." Zu erleben "ist ein Überreichtum an Farben und Mustern und Handwerksgeschick, der da auf der Grundlage eines uniformen Kleidungsstücks entstanden ist. Aber mehr Individualität war in der Mode nie."

Das gibt es nicht oft: Modekritik. Der Blogger Derek Guy analysiert in einem Twitter-Thread haarklein ein "Cashmere Roadster Jacket", das die ultrateure Firma Loro Piana seit zwanzig Jahren produziert. Nur ist die Firma inzwischen vom Modegiganten LVMH gekauft worden, der die Preise erhöht und die die Qualität verschlechtert. Guy betrachtet ein prä-LVMH- und ein neues Jackett. Ein Beispiel: "Die alte Jacke hat zwei rechte Innentaschen, die in das Kaschmir eingearbeitet sind. Bei der neuen Version gibt es nur eine einzige Tasche, die in das Futter eingearbeitet ist. wenn man die Innentasche auf diese Weise in das Kaschmir einarbeitet, lässt sie sich leichter reparieren. sollte der Träger einmal versehentlich die innentasche aufreißen, muss man nur dieses kleine Stück Kaschmir ersetzen, nicht das gesamte Futter."

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Literatur

Von der Handschrift zum literarischen Stil: Der Essayist Michael Maar glaubt in der SZ nicht, dass Künstliche Intelligenzen in absehbarer Zeit den Schriftstellern den Rang ablaufen werden. "Die Handschrift, das Herzblut, das zur Tinte gerinnt, ist immer noch das Einzigartige. Dasselbe gilt für den literarischen Stil. Der Personalstil lebt von der Nuance, der kleinen Abweichung, dem Einfall und dem neuen überraschenden Detail. Welcher Deep Blue, welche DeepMinds sollten diese Nuancen vorherahnen? Anders als beim Schach oder Go gibt es kein festes Regelwerk. KIs aller Länder, vereinigt euch! Speist alle Texte der Weltliteratur ins sich selbst weiterwebende Netz. Speist immer ein! Und ihr kämt doch bei allem Chat-GPT nie auf das entscheidende Adjektiv bei Kafka oder Virginia Woolf, das nur sie finden konnte, auf den Rhythmus bei Heimito von Doderer, auf den quecksilbrigen Witz der Rahel Varnhagen, auf die Metapher bei Nabokov oder Proust. ... Die KI-Alchimisten glauben sich kurz vor dem Ziel. Sie werden Gewaltiges leisten. Sie werden die Welt verändern. Aber dieses eine werden sie nicht schöpfen, das Gold des Einzigartig-Unteilbaren, der Individualität."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Bei einer Abendveranstaltung in Dresden schmollte Uwe Tellkamp in Versen, berichtet Judith von Sternburg in der FR. In der FAZ gratuliert Daniela Strigl dem Schriftsteller Josef Winkler zum 70. Geburtstag. Filmhistoriker Alexander Horwath empfiehlt im Standard Rachel Kushners Roman "Flammenwerfer". Die FAZ dokumentiert Durs Grünbeins Laudatio auf Ines Geipel zur Auszeichnung mit dem Erich-Loest-Preis.

Besprochen werden unter anderem Virginie Despentes' "Liebes Arschloch" (taz, Tsp), Teresa Präauers "Kochen im falschen Jahrhundert" (taz, Literarische Welt), Sofia Andruchowytschs "Die Geschichte von Romana" (FR), Philip Saß' Gedichtband "Abschaffung der Schwerkraft" (54books), Warlam Schalamows "Ich kann keine Briefe schreiben" (taz), Douglas Stuarts "Young Mungo" (taz), Giuliano da Empolis "Der Magier im Kreml" (Literarische Welt, SZ), Percival Everetts "Die Bäume" (FAZ) und der Erzählband "Glückwunsch" mit Geschichten von Theresia Enzensberger, Monika Helfer, Lena Gorelik und anderen (SZ).
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Film

Die Agenturen melden, dass der Regisseur David Grieco und der Drehbuchautor Giovanni Giovannetti den Mordfall Pasolini wiederaufnehmen lassen wollen. Für Artechock resümiert Wolfgang Lasinger den letzten Forumsjahrgang der Berlinale unter der Leitung von Cristina Nord. Dazu passend widmet sich Silvia Bahl im Filmdienst dem Caligari-Preisträger des Forums, "De Facto" von Selma Doborac. Im Filmdienst freut sich Karsten Munt, dass die "Woche der Kritik" während der Berlinale auch das Genrekino feierte. Paula Ruppert wirft für Artechock einen Blick aufs Programm des Mittelpunkt Europa Filmfests in München. Die SZ spricht mit Cate Blanchett über ihren neuen Film "Tár". In der Literarischen Welt erinnert sich Georg Stefan Troller an seine Begegnung mit Orson Welles.

Besprochen werden Natalia López Gallardos auf Mubi gezeigter Film "Robe of Gems" (Tsp), Todd Fields "Tár" (Artechock, Filmdienst, unsere Kritik), die Serie "The Consultant" mit Christoph Waltz (FAZ, Welt), David Wnendts Verfilmung von Felix Lobrechts Roman "Sonne und Beton" (ZeitOnline, unsere Kritik), Li Ruijuns "Return to Dust" (Artechock, Filmdienst), die 70s-Rock-Serie "Daisy Jones & The Six" auf Amazon (ZeitOnline) und eine BluRay-Ausgabe von Josef von Bákys 50s-Krimi "Gestehen Sie, Dr. Corda" (Robert Wagner von critic.de attestiert "ein Flair, als greife Nosferatu persönlich nach den Seelen der Leute").
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Musik

In der taz erklärt uns Christian Werthschulte, was es mit dem südafrikanischen Musikgenre Amapiano auf sich hat, das derzeit weltweit für Hypes sorgt: Der spezifische Klang der Logdrum ist es, der dieses Genre im Rhythmus von House unterscheidet. "Sie wird nicht als straighte Bassdrum auf dem ersten Schlag jedes Taktes gespielt, sondern fungiert zugleich als Rhythmus und Melodie. Im Takt wird ein Amapiano-Stück durch Hihats, Snare und kurze Chants gehalten; auch die Rapper:innen und Sänger:innen mitsamt ihren Adlibs und Lyrics auf Zulu und Xhosa ordnen sich dem Rhythmusgerüst unter. Die Logdrum ist also die Kür, bei der die Produzent:innen ihre Pirouetten schlagen. Aus diesem Kontrast entwickelt Amapiano in einem DJ-Set seine eigene Form der Hypnose, in der eine fast schon religiöse Versunkenheit durch Konvulsionen in den Bassfrequenzen erschüttert wird und niemals zusammenfällt. Entstanden ist Amapiano Mitte der Zehnerjahre in den Townships von Johannesburg. Und wie so oft, wenn sich ein Wille zum eigenen Stil in Musik übersetzt, sind die Werkzeuge dafür zweitrangig: ein Laptop, Kopfhörer, eine Kopie der Musik-Software 'Fruity Loops', vermutlich illegal kopiert. Mehr brauchte es nicht." Wer nun neugierig geworden ist, bekommt von Werthschulte noch den Tipp, es mit den Sets von DJ Charisse C zu probieren, die sich mittlerweile auch fürs BBC-Radio durch das Genre arbeitet. Ansonsten gibt es hier auch eine Playlist mit Beiträgen einer Compilation:



Außerdem: Carolin Pirich spricht in der taz mit dem Dirigenten Vladimir Jurowski. Für die NZZ wirft Michael Stallknecht einen Blick darauf, wie die lange Zeit abgetanen Kompositionen von Königen und Adligen mehr und mehr zu Ruhm gelangen. Nadine Lange freut sich im Tagesspiegel, dass De La Soul nach langen Rechtsstreitigkeiten nun endlich im Streaming zu hören sind. Weitere Nachrufe auf Wayne Shorter schreiben Harry Nutt (FR), Wolfgang Sandner (FAZ), Maxi Broecking (taz) und Tobi Müller (ZeitOnline) - hier der Überblick zu den ersten Nachrufen gestern.

Besprochen werden Claus Schreiners dreibändige Studie "Schöner fremder Klang - Wie exotische Musik nach Deutschland kam" (FR), ein Konzert der Wiener Symphoniker mit der Pianistin Beatrice Rana (FR), ein von Paavo Järvi dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tsp), Ina Regens neues Album "Fast wie Radlfahrn" (Standard), das neue Gorillaz-Album "Cracker Island" (NZZ) und Slowthais "Brexit Bandit" (ZeitOnline).
Archiv: Musik