Efeu - Die Kulturrundschau

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09.03.2023. SZ und taz bewundern, wie Alice Diop in "Saint Omer" die Themen Frausein, Mutterschaft und Herkunft verhandelt. Die FR sieht im Hamburger Bahnhof zu, wie im Werk der algerisch-französischen Künstlerin Zineb Sedira der Traum von Emanzipation und Selbstverwirklichung zerplatzt. Die FAZ erlebt Joachim Meyerhoff in der Rolle seines Lebens, wenn Thomas Ostermeier ihn in Tschechows "Möwe" in die brandenburgische Provinz schickt. Der Tagesspiegel fragt beim Berliner HAU-Festival mit Nadezhda Bey, was eigentlich mit den Daten Verstorbener geschieht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2023 finden Sie hier

Film

Sprache als undurchdringliche Maske: "Saint Omer" von Alice Diop

Mit ihrem ersten Spielfilm "Saint Omer" ist die bis dahin mit dokumentarischen Formaten arbeitende Regisseurin Alice Diop die erste schwarze Französin, die für einen Oscar nominiert ist. Es geht um eine an der Sorbonne Philosophie studierende Senegalesin, die sich vor Gericht wegen der Tötung ihres 15 Monate alten Babys verantworten muss - die Vorlage dafür lieferte ein tatsächlicher Fall im Jahr 2013, dessen Prozess Diop beobachtete. "Saint Omer" ist eine "Reflexion, die sich zugleich in unterschiedliche Verästelungen von Frausein, Mutterschaft, Herkunft und Krise begibt", schreibt Carolin Weidner in der taz. "Katalysator dafür ist Rama (Kayije Kagame), eine Pariser Literaturprofessorin, die, ähnlich Diop, dem Prozess beiwohnt und erschüttert ist von den Aussagen einer Frau, in der sie sich auch ein bisschen selbst erkennt." Dabei wirkt der Film "wie ein sehr akkurater, beschreibender und dennoch nicht immer zugänglicher Text, einer, der nie auffordert, sondern vielmehr anbietet, der möchte, dass man sich zumindest in die Nähe des Unverständlichen begibt. Es ist eine Herangehensweise, die sich ebenfalls in ihren Dokumentarfilmen zeigt, die nicht zuletzt immer wieder nach der eigenen Position forschen: der einer in Frankreich geborenen und sozialisierten Intellektuellen, deren Eltern in den sechziger Jahren aus dem Senegal kamen."

Die Täterin weiß selbst nicht recht, was in sie gefahren ist und erhofft sich vom Prozess Aufklärung über sich selbst, erklärt Philipp Stadelmaier in der SZ: "Sie spricht davon, verhext worden zu sein, eine senegalesische Jeanne d'Arc unter dem Einfluss von übersinnlichen, unerklärlichen Kräften. Kulturelle Unterschiede scheinen in ihren Aussagen auf, der Rassismus der weißen Franzosen." Und stets betont sie, "die Dinge nicht genauer darstellen zu können. Sie wollte zu Ludwig Wittgenstein arbeiten, dem Philosophen der Sprache. Dass die Sprache eine Grenze und eine undurchdringliche Maske ist, die die Dinge, über die sie spricht, immer auch verschleiert, ist die einzige Wahrheit, die hier enthüllt wird." Marie-Luise Goldmann von der Welt ist davon nicht überzeugt: Der Film "weidet sich etwas zu sehr an seiner eigenen Inkohärenz, Lückenhaftigkeit und Zähigkeit - was sich lediglich mit der Idee rechtfertigen ließe, so seien Gerichtsprozesse und die menschliche Psyche eben: Eine Tat wie diese kann nicht erklärt werden, also müssen alle Versuche zwangsläufig im Sand verlaufen." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel, Standard und auf Artechock.

Autobiografischer Kern: "Die Fabelmans" von Steven Spielberg

Rajko Burchardt geht im Perlentaucher vor Steven Spielbergs "Die Fabelmans" (mehr dazu bereits hier) auf die Knie: Eine wunderschöne Szene reiht sich an die andere. "Nach über 50 Jahren produktiven Hollywood-Schaffens hat Spielberg sich an den dezidiert autobiografischen Kern jener Motive und Sujets gewagt, die seine Erfolgsformel begründen. ... Erstaunlich mutet die von Idealisierung und Scham befreit wirkende Aufrichtigkeit seines Selbsttherapiefilms an, mit der Spielbergsche Erfahrungswirklichkeiten sowohl humorvoll als auch angemessen sentimental auf links gedreht scheinen." Weitere Besprechungen in FR, taz und Artechock. Philipp Bovermann porträtiert in der SZ die Schauspielerin Michelle Williams, die Spielbergs Mutter spielt.

Weitere Artikel: Julia Lorenz von ZeitOnline beobachtet im Kino einen Trend zur schlecht gelaunten Schauspielerin. Klassik-Kritiker Frederik Hanssen ärgert sich in seiner Tagesspiegel-Kolumne über die zahlreichen "faktischen Fehler" bei der Darstellung des Orchesteralltags in Todd Fields "Tár" (unsere Kritik).  Ulf Vogler und Cordula Dieckmann (Tsp) und Michael Hanfeld (FAZ) schreiben Nachrufe auf den TV-Schauspieler Heinz Baumann.

Besprochen werden Walter Hills im Video-on-Demand erhältlicher Western "Dead for a Dollar" mit Christoph Waltz und Willem Dafoe ("Als Liebhaber des Genres dürfen einem durchaus die Tränen kommen", schwärmt Lukas Foerster im Perlentaucher), Matt Bettinelli-Olpins und Tyler Gillets "Scream 6" (FR), Katharina Wolls "Alle wollen geliebt werden" (Artechock) und eine Arte-Doku über den Reichstagsbrand (taz).Außerdem erzählt uns die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Im Tagesspiegel staunt Erik Wenk über den Erfolg des österreichischen Comiczeichners Nicolas Mahler, der sich trotz sprödem Zeichenstil als feste Größe des deutschsprachigen Comics etabliert hat. Eva Marburg wünscht sich im Freitag, dass Bertolt Brecht weniger als Dramaturg und politischer Autor gefeiert wird, sondern mehr als großer Lyriker. Jan Wiele schreibt in der FAZ zum Tod des Verlegers Vito von Eichborn.

Besprochen werden unter anderem Priya Guns' "Dein Taxi ist da" (Freitag), Claudia Piñeiros Krimi "Kathedralen" (FR) und Nicoletta Vernas Romandebüt "Der Wert der Gefühle" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Zineb Sedira, Installation view from the Exhibition Dreams Have No Titles. Hamburger Bahnhof. © Mathieu Carmona / DACS, London 2023.

Eine "vibrierende" Geschichtsstunde erlebt Ingeborg Ruthe (FR) im Hamburger Bahnhof, wo die algerisch-französische Künstlerin Zineb Sedira im Zusammenspiel von Film, Interieur, Skulptur, Fotografie und Performance die Geschichte des seit dem Jahrhundert der Moderne gescheiterten Traums von "Emanzipation, Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung" erzählt: Sie "zieht uns also körperlich und mit allen Sinnen hinein in eine fulminante Bild-im-Bild-Installation, eine ohne Anfang und ohne Ende. Da sind Verweise auf Orson Welles' 'F for Fake' von 1973, wo es um Authentizität geht und die Frage, wer für wen Geschichte schreibt. Die Künstlerin bezieht auch die sogenannten Casbah-Filme ein, etwa Viscontis 'Der Fremde' von 1967, Gillo Pontecorvos 'Schlacht um Algier' von 1966 sowie Ennio Lorenzinis 'Les mains libres' von 1964, den lange Zeit in den Archiven verschwundenen Dokumentarfilm über den algerischen Unabhängigkeitskampf. (…) Und so ist 'Träume haben keine Titel' großes Kino über Gewalt und Trauer, Heimat und Verlust, Migration, Integration und Solidarität. Eine universelle Erzählung, doppelt bewegend angesichts der gegenwärtigen Dramen von Krieg, Flucht und Vertreibung in der Welt, dem Krieg gegen die Ukraine."

Bild: Oleksandr Glyadelov. Documentation of the War, 2022-2023. Courtesy to MOCA NGO

Bewegt kommt Vanessa Oberin (Tsp) aus dem Berlin Museum für Kommunikation, das im Rahmen des European Month of Photography (EMOP) in der Ausstellung "The Art of Coping with War" fünf sehr persönliche Perspektiven ukrainischer FotografInnen auf den Krieg zeigt: "Die Fotografie von Yana Kononova, Absolventin der Kiewer Viktor Marushchenko School of Photograph, widmet sich einem anderen Aspekt des Krieges. Ihre 'X-Scapes' zeigen Trümmerhaufen, denen nicht mehr anzusehen ist, was sie einmal waren. Die schwarzweißen Nahaufnahmen verleihen dem verdrehten und verformten Material nahezu ein Eigenleben. Es wird so zum Archiv der Zerstörungsgewalt, die sich in ihm eingeschrieben hat."

Außerdem: In der Zeit porträtiert Carolin Würfel die Künstlerin Margaret Raspé, die sich mit einem selbst gebauten Kamerahelm in den Siebzigern bei der Hausarbeit filmte und der das Berliner Haus am Waldsee nun die Ausstellung "Automatik" widmet.

Besprochen werden die große Giovanni-Bellini-Schau im Pariser Musée Jacquemart-André (Tagesspiegel), die Ausstellung "Femme Fatale. Blick - Macht - Gender" in der Hamburger Kunsthalle (taz), die große Alex-Katz-Retrospektive in der Wiener Albertina (Standard), die Ausstellung "Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde" im Frankfurter Liebieghaus (FAZ) und der Bildband "Photographers", für den Birgit Rieger mehr als hundert Fotograf:innen porträtiert hat (Tagesspiegel)
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus Anton Tschechows "Die Möwe". Bild: Gianmarco Bresadola

Thomas Ostermeier hat Tschechows "Möwe" für die Schaubühne kurzerhand vom "russischen Irgendwo in ein brandenburgisches Ungefähres" verlegt - und Nachtkritikerin Esther Slevogt hat ihre Freude an dem "visionlosen Getöne", das die "zum Spießertum heruntergekommenen" Bildungsbürger hier von sich geben: "Es ist ein kunstvoll in die Karikatur getriebenes Personal, dem wir in der Schaubühne begegnen, das einerseits Tschechow spielt und andererseits ironisch auch das eigene Tun befragt. Was und wie spielen wir hier eigentlich? Wie relevant ist das Theater überhaupt noch? 'Noch nie war es schwerer, irgendetwas zu bewirken!', sagt der gefeierte Schriftsteller Trigorin einmal, der an einer anderen Stelle des Abends Einblicke in die Werkstatt seiner Kunstproduktion gibt: wie er da auf Karteikarten klischeehafte Eindrücke von der Welt zu den immergleichen Büchern zusammenschraubt. Will sagen: So kann das mit der Relevanz natürlich nichts werden."

Joachim Meyerhoff spielt die "Rolle seines Lebens", jubelt Simon Strauss in der FAZ, der hinter dem Trigorin auch den Erfolgsautor Meyerhoff erkennt: Er "spricht über seinen Schreibzwang, die Manie, ständig literarisch verarbeiten zu müssen, was die eigene Wahrnehmung ihm vorsetzt: 'Alles ist Material. Alles könnte Motiv sein.' Erzählt auch von seiner Angst davor, dass alles Lob nur Lüge sein, sich sein Riesenerfolg eines Tages als große Täuschung herausstellen und man ihm 'von hinten eine Zwangsjacke' überwerfen könnte. Da ist Meyerhoff, der Psychiater-Sohn, ganz bei sich und weit weg von Tschechows Figur." Einen "schillernd boulevardesken Schauspielerabend", in dem Ostermeier seine Helden sehr subtil gegen ihre "vertrackten Lebensrollen" kämpfen lässt, erlebt Doris Meierhenrich (Berliner Zeitung), während taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller, den Abend "etwas zerfleddert" findet: Einzelne Szenen wirken "wie hineingeklebt, um etwas Gegenwartsbezug hineinzubringen". Das Stück ist "moderat dem Heute angepasst", kommentiert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel die Inszenierung: "Die Gangart wirkt erstaunlich traditionell und damit zuweilen etwas erwartbar. Aber ist es nicht genau das, wonach sich so viele sehnen im Theater - eine Geschichte, Emotionen, ausgespielte Dialoge, Drama, Komik? Menschen, mit einem Wort."

Nadezhda Bey: Data Death. Berliner Hebbel am Ufer.

Verzaubert kehrt Patrick Wildermann (Tagesspiegel) vom HAU-Festival "Geister, Dschinns und Avatare - Über das Magische im digitalen Zeitalter" zurück, bei dem ihn nicht nur der französische Regisseur Phillipe Quesne durch eine zeitgenössische Laterna magica blicken lässt. Auch digital lässt sich einiges erleben: "Wie das Virtual-Reality-Requiem 'Data Death' von Nadezhda Bey, das mittels Headset in eine leuchtend animierte Welt aus Ikonendarstellungen und Datenvisualisierungen einlädt. Hier liegen Körper aufgebahrt, während eine wehmütige, elektronisch verzerrte Komposition vor sich hin singt, die von einer Künstlichen Intelligenz komponiert wurde. Die Installation widmet sich unter anderem der Frage, was eigentlich mit den Daten Verstorbener geschieht."

Besprochen werden die dritte Ausgabe der Programmreihe "Diskurssalon" unter dem Titel "Macht - Strong enough" im Berliner Museum für Kommunkation (Tagesspiegel), Sandra Schüddekopfs österreichische Erstaufführung von Miroslava Svolikovas "Gi3F (Gott ist drei Frauen)" in der Wiener Drachengasse (Standard), Andreas Homokis Inszenierung von Richard Wagners "Siegfried" am Zürcher Opernhaus ("Eine Sternstunde", jubelt Lotte Thaler in der FAZ: "Wie ein Komet am Wagnerhimmel kündet er von einer grundlegend veränderten Sicht auf die Tetralogie"), Dmitri Tschernjakows Inszenierung von Sergej Prokofjews "Krieg und Frieden" an der Bayerischen Staatsoper München (VAN Magazin, Zeit) und Leander Haußmanns und Sven Regeners Familiendrama "Intervention!" am Hamburger Thalia Theater (Zeit).
Archiv: Bühne

Architektur

In der NZZ hält Hubertus Adam die Pritzkerpreis-Auszeichnung für David Chipperfield (Unser Resümee) für "nachvollziehbar und berechtigt." Aber: "mutig ist sie deswegen nicht. Man hätte mit weniger bekannten Büros Akzente setzen oder Diskurse anstoßen können." "Eigentlich hätte dieser Preis an 'David Chipperfield Architects', an das Team DCA gehen müssen", kommentiert Nikolaus Bernau im Tagesspiegel: "Chipperfield wäre ohne die Kreativität und Kompetenz seiner inzwischen elf Partner und Partnerinnen sowie der überaus agilen Ehefrau Evelyn Stern nur ein Provinzarchitekt geblieben."
Archiv: Architektur

Musik

Sollte der ORF tatsächlich aus der Finanzierung des Radio-Symphonieorchesters Wien aussteigen, wäre dies auch ein herber Schlag für die zeitgenössische Klassik, fürchtet Reinhard Kager in der FAZ: Immerhin handelt es sich um "das einzige Großensemble Österreichs, das regelmäßig zeitgenössische Orchesterwerke interpretiert. Rund 320 Uraufführungen und 250 österreichische Erstaufführungen spielte das RSO Wien seit seiner Gründung im Jahr 1969. Jährlich werden also rund sechs Uraufführungen vom ORF in Auftrag gegeben, die überdies im ORF-Hörfunksender Ö1 ausgestrahlt werden. Dies alles handstreichartig wegzufegen wäre, wie Matthias Naske, der Intendant des Wiener Konzerthauses, treffend formulierte, '"ein barbarischer Akt'. Denn dadurch fiele das überaus rege zeitgenössische Musikleben Österreichs mit einem Schlag fast auf den düsteren Stand der frühen Nachkriegszeit zurück."

Weitere Artikel: Mary Ellen Kitchens und Beatrice Szameitat erzählen im VAN-Gespräch von ihrem Frauenorchesterprojekt, bei dem ausschließlich Frauen die Werke von Komponistinnen spielen. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seiner Begegnung mit dem Rapper Logic. Ronald Pohl erinnert im Standard an Pink Floyds Album "Dark Side of the Moon", das vor 50 Jahren erschienen ist. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über Clara Schumann und dort über Mirrie Hill. Susanne Westenfelder stellt in der Playlist-Reihe von VAN die Arbeiten neun politischer Komponistinnen vor, darunter "The Prison" von Ethel Symth:



Besprochen werden ein von Daniel Barenboim dirigiertes Konzert der Staatskapelle Berlin mit Martha Argerich in Wien (Standard, SZ) und das neue Album der U.S. Girls (Standard).
Archiv: Musik