Efeu - Die Kulturrundschau

Kaum bemerkbare Störsignale

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27.03.2023. Man kann also auch großzügig und freundlich über identitätspolitische Themen nachdenken, lernen SZ und FAZ in Yasmina Rezas Stück "James Brown trug Lockenwickler". Der Tagesspiegel lernt von der dänischen Architektur die Linien straff zu ziehen. Die FAZ staunt beim Comic-Festival "Fumetto" in Luzern, wie hervorragend Sprechblasen mit Bildern funktionieren. Die Welt fragt sich, was die Filmakademie gegen Christian Petzold hat. Im Filmdienst erklärt Emmanuel Mouret, warum Sexszenen im Film so schwierig sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "James Brown trug Lockenwickler" am Residenztheater München. Bild: Sandra Then

Die identitätspolitischen Themen in Yasmina Rezas Stück "James Brown trug Lockenwickler" greift Regisseur Philipp Stölzl in seiner Inszenierung am Residenztheater München mit bewundernswerter Leichtigkeit auf, freut sich Christine Dössel in der SZ. Das Stück handelt von einem Mann in der Psychiatrie, der glaubt, er sei Céline Dion, und von einem Weißen, der sich für schwarz hält. Auf Provokation kommt es Reza dabei nicht an: "Es ist ein menschenfreundlicher Theaterabend, der jedem das Seine und alles offen lässt. Er hat etwas unergründlich Bezauberndes. Man geht ein wenig verstört heraus. Nicht belehrt, sondern befragt, beschwingt, mit einem Nachklang. 'Moderne Harmonie. Mischung aus Großzügigkeit und Verwirrung', notierte Reza zu ihrem Stück. Das trifft es gut." FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier ist vor allem der Hauptdarsteller aufgefallen: "Philippe schaukelt in schwarzem Anzug mit kurzen Hosenbeinen, weißem Hemd und schwarz-weißen Lederschuhen im Park, Céline tritt als Diva im knallroten Trainingsanzug auf, mit meterlangem blauem Schal und Sonnenbrille. Leises Vogelgezwitscher. Vincent zur Linden spielt Céline bezwingend weiblich, nur gelegentlich ironisiert er die Figur."

Im Kongo geboren: Dieudonné Niangounas "Portrait Désir". Foto: Compagnie Les Bruits de la rue

Als Abend voller Theatermagie erlebt eine überwältigte taz-Kritikerin Esther Boldt das Tanzstück "Portrait Désir" von Regisseur Dieudonné Niangouna und seiner Compagnie Les Bruits de la Rue im Frankfurter Mousonturm: "Es verwebt Biografien historischer Frauenfiguren Westafrikas und den Widerstand gegen Kolonisierung und Sklavenhandel mit europäischer Mythologie und fragt nach der Rolle der Frau in der Geschichte. Die Kindsmörderin Medea und die Seherin Kassandra treffen auf die westafrikanischen Königinnen Pokou und Nzinga und eben auch auf die Prophetin Kimpa Vita, die in einer fulminanten Szene den Kapuziner (Mathieu Montanier) umtanzt, als wolle sie einen Exorzismus an ihm vornehmen, während sie (Dariétou Keita) ihm klarzumachen sucht, wie anmaßend es sei, dem Kongo einen weißen, fremden Gott vorsetzen zu wollen: Gott sei vielmehr im Kongo geboren, und sie sei eine Frau!"

Besprochen werden Oliver Frljić Adaption von Heiner Müllers "Die Schlacht" am Gorki-Theater Berlin (nachtkritik, Tagesspiegel, Berliner ZeitungMateja Koležniks Inszenierung von Ödon von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Burgtheater Wien (FAZ), Moritz Eggerts "Die letzte Verschwörung" auch in Wien, an der Volksoper (Standard, FAZ), Stef Lernous Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts "Die Physiker" am Staatstheater Kassel (FR), Tilmann Köhlers Inszenierung von Pedro Calderón de la Barcas "Das Leben ist Traum" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik), Richard Siegals "Ballet of (Dis)obedience" in Köln (das SZ-Kritikerin Dorion Weickmann sehr innvoativ und herrlich ausgelassen findet), Bérénice Hebestreits Adaption von Lucy Kirkwoods Roman "Moskitos" am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik).
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Architektur

Arne Jacobsens Tankstelle in Skovshoved. Foto: Jens Cederskjold, Wikimedia, CC BY-SA 2.0

Dänische Architektur ist zu einer Weltmarke geworden, lernt Tsp-Kritiker Nikolaus Bernau in der selbstbewussten Ausstellung "So Danish!" im Dänischen Architekturzentrum in Kopenhagen. Von den Rundburgen der Wikinger bis zu Jørn Utzons Höfhäusern und Jan Gehls Visionen für eine autofreie Stadtplanung steht es für eine egalitäre Moderne: "Dann gibt es Modelle zu sehen, die für eine auf Gleichberechtigung, Mitsprache, Holz und Raumteilung beruhende neueste Architektur stehen. In Kopenhagen ist man überzeugt: Vom dänischen Wesen könnte die Welt genesen. Dann wäre das Leben nicht nur besser, effizienter, klarer und gleichberechtigter, sondern auch schöner. DAC-Chef Kent Martinussen benutzt sogar den Begriff des Schönen - hat das je ein deutscher Architekturgeschichtsmanager getan? Aber wie soll man sich auf einen Begriff des Schönen einigen? Indem die Linie straff genug gezogen und alle Widersprüchlichkeit beiseite geschoben werden, Konservative und Funktionalisten, sogar die Kommune von Christiana vereinnahmt sind zu einem harmonischen Gesamtbild."

In einem zweiten Text im Tagesspiegel fürchtet Nikoalus Bernau das Schlimmste, wenn sich SPD und CDU im Berlin demnächst zu einer Baukoalition zusammentun.
Archiv: Architektur

Film

Sandrine Kiberlain in "Tagebuch einer Pariser Affäre"

"Tagebuch einer Pariser Affäre" ist eine Dialogkomödie (mehr in unserer Kinokolumne). Im Gespräch mit Jörg Taszman vom Filmdienst erklärt Regisseur Emmanuel Mouret sehr intelligent, wie man ein so dialogisches, fast theaterhaftes Genre überhaupt zum Film macht: Er hat beschlossen, die beiden Protagonisten immer in einem Raum, nie sitzend interagieren zu lassen. Auf das scheinbar Filmischste an einem Film über ein Paar, das "nur Sex" haben will, verzichtet er aber ganz: Sexszenen: "Es ist doch aufregender, sich Dinge vorzustellen. Erotik baut genau darauf auf. Man zeigt ein kleines bisschen, um sich den Rest dann auszumalen. In Sexszenen finden sich auch keine dramaturgischen Herausforderungen für die Geschichte. Es sei denn, man hat sie extra dafür geschrieben. In diesem Film haben die beiden Hauptfiguren aber keine Probleme beim Sex. Im Gegenteil: Sie sagen immer wieder, dass es in dieser Hinsicht zwischen beiden sehr gut läuft. Und wenn alles gut läuft, ist es doch besser, man stellt es sich vor, als es zu zeigen."

Mit vielen Details über die Auswahlverfahren und interne Streitigkeiten erzählt Hanns-Georg Rodek in der Welt, wie es dazu kam, dass einer der herausragenden deutschen Filme des letzten Jahres - Christian Petzolds "Roter Himmel" - bei den Nominierungen für den Deutschen Filmpreis durch alle Roste fiel und nicht einmal genannt wurde. Honni soit qui mal y pense: "Es gibt die Lesart, dass 'die Akademie' Christian Petzold einfach nicht mag. Er hat ihr Konstrukt häufig kritisiert, sagt frei heraus, dass sie 'nicht mein Zuhause ist'. Es sei nicht in Ordnung, dass eine private Institution öffentliche Gelder verteile; die fast drei Millionen, die an die 'Lola'-Gewinner ausgeschüttet werden, stammen aus dem Etat der Bundeskulturbeauftragten Claudia Roth, sind Steuergelder. Petzold ist nie in die Akademie eingetreten, kann also jetzt auch nicht austreten. Er hat sie aber auch nicht boykottiert, er war bei ihr auf Podien, hat sich bei Podcasts beteiligt."
Archiv: Film

Literatur

Sprechblasen als Ballons in dreidimensionalen Comics: Terhi Adler.



Andreas Platthaus hat für die FAZ das "Fumetto"-Festival in Luzern besucht, das avantgardistischste aller Comicfestivals, wie er erläutert. Dort hat er gelernt, was man alles mit Sprechblasen machen  kann, zum Beispiel bei dem Schweizer Aurelio Todisco: "Er erzählt stumm, also wortlos, nutzt aber trotzdem Sprechblasen, in die er jedoch Bilder zeichnet, die wie Fenster ins Bewusstsein seines Protagonisten sind: eines Flüchtlings, der unmittelbar vor der Abschiebung steht. Noch viel origineller geht die finnische Autorin Terhi Adler mit Sprechblasen um: Sie nimmt deren Bezeichnung wörtlich und gestaltet sie in ihren dreidimensionalen 'spatial comics' als über den aus Pappmaschee gefertigten Figuren schwebende Ballons, auf die dann die Dialoge geschrieben sind. Einer von ihnen schwebt scheinbar beziehungslos im Gespräch, aber unter ihm kann man als Besucher Platz in der Geschichte nehmen. "

Außerdem: Die FAZ bespricht neue Kinderbücher, in der SZ gibt es die montägliche "Politische Buch"-Seite. Besprochen wird außerdem Teresa Präauers neuer Roman "Kochen im falschen Jahrhundert" (Tagesspiegel)
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Kunst

Die größte Sorge der Künstler ist bekanntlich ihr Urheberrecht. Nun werden Apps entwickelt, die ihre Kunstwerke davor schützen, von KI-Bots ausgewertet zu werden, berichtet Michael Moorstedt in der SZ. KI-Programme können nicht funktionieren, wenn sie sich nicht aus einem Riesenfundus vorhandenen Materials bedienen können, der ihre Ergebnisse verbessert, so Moorstedt. Für Künstler, die sich dagegen wehren wollen, hat etwa die Universität von Chicago eine App geschaffen, "die digitale Kunstwerke vor der KI schützt. Das Glaze - Glasur - genannte Programm funktioniert, indem es jedem Kunstwerk, auf das es angewendet wird, kaum bemerkbare Störsignale hinzufügt. Diese Änderungen beeinträchtigen die Fähigkeit der KI-Modelle, Daten über den künstlerischen Stil zu lesen, und sollen es erschweren, den Stil des Kunstwerks und seines Urhebers nachzuahmen. Stattdessen werden die Systeme dazu verleitet, andere öffentliche Stile zu verwenden, die weit vom ursprünglichen Kunstwerk entfernt sind." Hier die Website von Glaze. Mehr zum Thema bei Techcrunch.

Besprochen werden die Schau der amerikanischen Künstlerin Christina Quarles im Hamburger Bahnhof (Tsp), die Ausstellung "Timeless. Contemporary Ukrainian Art in Times of War" mit Arbeiten ukrainischer KünstlerInnen im Berliner Bode-Museum (taz), Isaac Juliens kapitalismuskritische Filmarbeit "Playtime", die er aber gern im Palais Populaire der Deutschen Bank zeigt (was FR-Kritikerin Ingeborg Ruth freundlich als delikat bezeichnet)
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Musik

Apple Music startet einen Streamingdienst für Klassik, berichtet Michael Stallknecht in der SZ. Nachfrage scheint es zu geben: "Bereits 2018 ergab eine Untersuchung des Analysediensts MIDiA Research, dass 31 Prozent der Klassikfreunde Streamingplattformen nutzten. Corona dürfte dem einen kräftigen Schub gegeben haben, zwischen 2018 und 2022 ist der Streamingmarkt genreübergreifend von 19,6 Milliarden auf 33,3 Milliarden Dollar gewachsen. Schließlich hören, das zeigt die Studie, 35 Prozent aller musikaffinen Menschen gern auch mal Bach oder Beethoven, auch die jüngeren. Das Marktpotenzial ist jedenfalls größer als die vier Prozent, die sich in der Studie als 'Aficionados' bezeichnen." Stallknecht verweist auf bestehende Dienste wie Idagio oder Presto Music, die ein transparentes Modell für die Entlohnung de Musiker haben, während Apple sich zu dieser Frage nicht äußert.

Rahel Zingg porträtiert für die NZZ die Schweizer Popsängerin King Elliot (mit wirklichem Namen Anja Gmür und aus Altendorf stammend), die schon in Streamingdiensten und in Amerika gewissem Erfolge feierte. "Auf einem weichen Bett aus Stimmen singt sie vom Leben als Außenseiterin, von Selbstzerstörung, von ihrer Borderline-Persönlichkeit." In XX zeigt sie, ehrlich, wie man heutzutage nun mal ist, wie sie während der Proben eine Panikattacke erlitt. Im Lied klingt sie wie ein bisschen wie Billie-Eilish-Clon, aber der Refrain ist wirklich hübsch:

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