Efeu - Die Kulturrundschau

Gnadenlos dekorativ

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29.03.2023. Die FAZ erkennt, warum nur Gérard Depardieu in Patrice Lecontes neuer Simenon-Verfilmung den Maigret spielen kann. Einen divenhaft charmanten, aber auch zynischen Tschaikowsky erlebt die NZZ in Kirill Serebrennikows dunklem Film "Tchaikovsky's Wife". Die FAZ taucht zu mystischen-meditativen Sinfonien in Refik Anadols Maschinen-Halluzinationen. Die taz würde sich lieber nicht von Ole Scheerens spektakulären Bauten überwältigen lassen. In der taz möchte auch die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Köhler lieber nicht mehr Wolfgang Koeppen lesen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2023 finden Sie hier

Film

Szene aus "Maigret" mit Gérard Depardieu.



Eine starke These vertritt Andreas Kilb in der FAZ: Bisher sei der wunderbare Simenon-Film "Monsier Hire" Patrice Lecontes bester Film, jetzt sei es sein neue Maigret-Film "Maigret und die junge Tote". Mit Staunen betrachtet Kilb die Schauspielkunst von Lecontes Maigret-Darsteller Gérard Depardieu, der zuletzt eher für den "konsequenten Crashkurs" in seinem Leben von sich reden machte. "Es gibt Simenon-Verfilmungen, die von einem Fall, und solche, die von einer Epoche handeln. 'Maigret' gehört zur zweiten Kategorie, und deshalb ist Depardieu die ideale, vielleicht die einzig denkbare Besetzung für die Hauptrolle. Sein Spiel ist noch reduzierter als das von Jean Gabin, der den legendären Kommissar dreimal verkörpert hat und in der Erinnerung noch immer alle nachfolgenden Serienhelden überragt. Dafür schlägt Depardieus Präsenz alle anderen Darsteller der Rolle um Längen. Sein kolossales Gewicht scheint vor der Kamera um die Hälfte zu schrumpfen."

Antonina Miliukova in "Tchaikovsky's Wife"


In Kirill Serebrennikows Russland "wird es nie mehr richtig hell", schreibt Eleonore Büning in der NZZ in der Besprechung von Serebrennikows Film "Tchaikovsky's Wife". Der Regisseur erzählt hier die "tragische Mesalliance" mit Antonina Iwanowna Miliukowa, die Tschaikowski heiratet, um seine Homosexualität vor der Gesellschaft zu kaschieren. Serebrennikow benutzt dabei bisher unbekannte Quellen, so Büning, die das Bild Antoninas neu bewerten. Der Film, über den sie anfangs leicht mokant berichtet, nimmt sie am Ende doch gefangen: "Wie gespenstisch ähnlich sieht der amerikanische Schauspieler Odin Lund Biron dem Komponisten! Er schlüpft so tief hinein in die Rolle, dass man meint, er sei Tschaikowsky direkt aus dem Gesicht geschnitten. Biron war bis 2022 Mitglied der Theatertruppe Serebrennikows am Gogol-Center in Moskau, heute lebt er in Berlin. Sein Tschaikowsky hat einen bizarr vieldeutigen Humor. Er ist verwöhnt und gewohnt, zu kommandieren. Divenhaft charmant, zynisch. Zugleich unsicher und launisch. Seinen Diener und Bettgenossen Aljoscha scheucht er herum. Seine Frau, Mittel zum Zweck, wird schikaniert, sobald sich ihre Mitgift in Luft aufgelöst hat."


Außerdem: Georg Seeßlen plädiert in einem Essay für epd film für eine "neue Philosophie des Kinos". Carolin Weidner berichtet für die taz von der letzten Ausgabe des Grazer Filmfestivals "Diagonale" unter Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. Susan Vahabzadeh gratuliert Eric Idle von den "Monty Python" in der SZ zum Achtzigsten. Ulrich Seidler schreibt für die Berliner Zeitung den Nachruf auf den im Alter von nur 53 Jahren verstorbenen Schauspieler Robert Gallinowski.

Besprochen werden der ARD-Fernsehfilm "Wolfswinkel" (taz, Berliner Zeitung und FAZ unter der Überschrift "So stellt man sich beim WDR also das braune Brandenburg vor") und Frauke Finsterwalders neueste Sissi-Verfilmung "Sisi & Ich" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Architektur

Ole Scheerens "The Interlace" in Singapur. Foto: Iwan Baan

In der taz gesteht Regine Müller gern zu, dass Ole Scheerens spektakuläre Architektur beeindruckt. "Form follows fiction", deklarierte er einst und baute in China die CCTV-Zentrale oder Wolkenkratzer wie das kühn gestapelten Gebäude "The Interlace" in Singapur. Aber wie er gesellschaftliche Verantwortung versteht, wird Müller in der ihm gewidmeten Ausstellung im Karlsruher ZKM nicht klar: "Seine chinesische Megaarchitektur scheint fast obszön in ihrer Gigantomanie, Fragen zu Ökologie und zum ethischen Preis der Bauten, die sich insbesondere in autoritär regierten Ländern wie China stellen, wischt er betont lässig weg. Als seien es die falschen Fragen für jemanden, der eben in jeder Hinsicht groß denkt."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Scheeren, Ole, Ökologie

Kunst

Refik Anadol: Satellite Simulations - B, 2021. Bild: Kunstpalast
In jeder Hinsicht ein Pflichttermin war für Ursula Scheer Refik Anadols Schau "Machine Hallucinations" im Düsseldorfer Kunstpalast. Der amerikanisch-türkische Medienkünstler ist der Star der KI-Kunst, Schulklassen werden hordenweise durch die Ausstellung gejagt. "Gnadenlos dekorativ" lautet Scheers Verdikt: "Mithilfe enormer Datenmassen, die zwei gegeneinander antretende künstliche neuronale Netzwerke - sogenannte GANs - mit kreativ offenem Ausgang algorithmisch zu neuen Daten verrechnen, hat Anadol seine eigene Bildsprache entwickelt: psychedelisch wirkende Animationen, 'lebendige Gemälde', die sich in einem Prozess der fortlaufenden Transformation befinden. Alles fließt in den Produktionen aus Anadols Studio in L. A. mit gut einem Dutzend Mitarbeitern... In Düsseldorf kann man im 'black cube' der schwarz gestrichenen Ausstellungsräume fast wie in einem Kino in diese Bilderwelten eintauchen. Durch das Dunkel schweben dazu Klänge mystischer Synthetik-Symphonien mit Naturanleihen, wie man sie von Meditations-Apps kennen mag. Und tatsächlich bietet der Kunstpalast Yogakurse für Kinder oder Erwachsene in der Ausstellung an und spricht der Kurator Alain Bieber, Leiter des mit dem Kunstpalast vereinten NRW-Forums, von einer 'fast spirituellen Erfahrung'."

Weiteres: In der SZ stutzt Jörg Häntzschel, mit welcher Nonchalance die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Bauverzögerung beim Pergamonmuseum herunterspielt. Vierundzwanzig Jahre soll die Renovierung jetzt insgesamt dauern, das Ischtar-Tor wird erst wieder 2037 zu sehen sein. In der taz freut sich Jonas Wahmkow, dass sich die Direktorin des Vorderasiatischen Museums, Barbara Hellwing, nicht ihren Optimismus nehmen lässt. Verständnisvoll berichtet auch Oliver Maksan in der NZZ. Im Tagesspiegel bereitet sich Bernhard Schulz bereits auf die kommende Gerhard-Richter-Ausstellung vor.

Besprochen werden die aufregenden Christina-Quarles-Ausstellung im Hamburger Bahnhof (FR), die Schau "Maschinenraum der Götter" über Science-Fiction in der Antike im Frankfurter Liebighaus (SZ), die Yad-Vashem-Ausstellung "Flashes of Memory" mit Fotografien, die während des Holocausts entstanden, im Museum für Fotografie (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Sigrid Köhler, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen, findet in der taz, dass Wolfgang Koeppens Roman "Tauben im Gras" (unsere Resümees zur Debatte) nicht als Pflichtlektüre "an beruflichen Gymnasien" geeignet sei. Sie wirft ihm stilistische Mittel vor: "Die rassistischen Einstellungen der Figuren sollen durch diese Zuspitzung im Roman sicherlich kritisch vorgeführt werden." Auch beklagt sie, dass im Roman sexuelle Fantasien dargestellt werden: "Es sind zum Teil verstörende Passagen, wenn es zum Beispiel um die Figur Carla geht, die lustvoll von ihrer Vergewaltigung träumt: 'In der sechsten Woche hielt Carla es nicht mehr aus. Sie träumte von N*****. (...) Schwarze Arme griffen nach ihr: wie Schlangen kamen sie aus den Kellern'. - Es sind Passagen, die man eigentlich nicht mehr zitieren möchte oder zitieren sollte, aber offenbar angesichts des Insistierens vonseiten der Verantwortlichen in ihrer Drastik noch einmal zitieren muss."

Jürgen Kaube zählt in der FAZ alle Änderungen auf, die von "Bewusstheits-Lektoren" des Harper-Collins-Verlags an Agatha Christies Roman "And Then There Were None" (deutsch ursprünglich "Zehn kleine Negerlein") vorgenommen wurden, diskrete meist, aber sie summieren sich: Und doch: "Shakespeares 'Othello' könnte nach solchen Maßstäben gar nicht mehr gedruckt und gespielt werden. Und welche Komödie wäre je ohne Stereotype ausgekommen? Protestieren bald die tatsächlichen Kranken gegen den eingebildeten?"

Besprochen werden unter anderem Georg Kleins neuer Erzählband "Im Bienenlicht" (FAZ), ein Band über die Entstehung der "Katzenjammer-Kids" eines der frühesten Zeitungscomics in den USA, der von dem deutschen Rudoplh Dirks erfunden wurde (SZ) und Bernardine Evaristos neuer Roman "Mr. Loverman" (NZZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Kampf und Rausch in Heiner Müllers "Schlachten" Foto: Ute Langkafel/Gorki-Theater

Bewegt kommt taz-Kritiker Tom Mustroph aus Oliver Frljićs Inszenierung von Heiner Müllers Textcollage "Schlachten" am Berliner Gorki-Theater. Die Sprache sei poetisch, aber der Blick auf den Krieg finster: "Ein Kommandeur (Tim Freudensprung) nutzt die Selbstverstümmelung eines Untergebenen (Mehmet Yilmaz), um ein Exempel zu statuieren und die willenlose Horde Menschen unter ihm zu einem Bataillon zu schmieden. Schmiedehammer ist das Erschießungskommando, besetzt aus Kameraden des zum Tode Verurteilten. Der Rest der Truppe schaut zu. Es ist ein Initiationserlebnis. Ein Weg zurück, zu Recht und Moral des zivilen Lebens, bleibt denen, die mittun, und auch denen, die tatenlos zuschauen, nicht mehr. Der Rausch des Kampfes ist der einzige Ausweg. Frljic, aufgewachsen im Balkankrieg, dürften derartige Mobilisierungs- und Brutalisierungspraktiken vertraut sein."

Besprochen werden die Volksbühnen-Produktionen "Die Chor" und "Stechen und Sterben" zur Eröffnung des Prater-Studios ("irgendwie schrill und schaurig", notiert Irene Bazinger in der FAZ), Thomas Birkmeirs Inszeneirung von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" am Freitag im Wiener Renaissance-Theater (Standard) und die Neuauflage des Grips-Klassikers "Linie 1" (Tsp).
Archiv: Bühne

Musik

Pünktlich zu Ostern präsentiert der Dirigent Alexander Grychtolik ein Bachsches "Passionsoratorium", das er aus vorhandenen Textfragmenten und Musik zusammensetzt, die er im "Parodieverfahren" diesen Texten unterlegt - das "Parodieverfahren", das Bach selbst sehr häufig benutzt hat, bedeutete, dass man eine bereits vorhandene Musik einem neuen Text anpasst. Michael Stallknecht findet das Ergebnis in der SZ interessant: "Grychtolik bezeichnet sein Werk wissenschaftlich korrekt nur als 'Rekonstruktion eines Werkfragments und Vervollständigung', auch wenn er hier deutlich spekulativer agieren muss als sonst: Weil niemand weiß, in welchem Stadium Bach aufgab, wandte Grychtolik selbst das Parodieverfahren an. Suchte nach weiteren Arien in Kantaten Bachs, die in Prosodie und Affekt zu Picanders Text passen. Der Rest war 'Bastelarbeit', wie er sagt."
Archiv: Musik
Stichwörter: Bach, Johann Sebastian