Efeu - Die Kulturrundschau

Mit zärtlich delirierendem Gesang

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30.03.2023. Er macht autobiografische Filme, sagt Christophe Honoré in der taz, und in ihnen schimmern Leid und Lust in rosa und in blau, notiert der Perlentaucher in seiner Kritik zu "Der Gymnasiast". Auch Frauke Finsterwalders Film "Sisi und ich" begeistert die Kritik. Der Tagesspiegel erfindet mit dem Kunstmuseum Wolfsburg Piet Mondrian neu. Die FAZ ist ergriffen von Christian Josts Oper "Voyage vers l'Espoir" in Genf. Ebenfalls in der FAZ erzählt die Übersetzerin Andrea Paluch von ihrer Korrespondenz mit Ted Hughes.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2023 finden Sie hier

Film

Szene aus "Der Gymnasiast"

Christophe Honorés neuer Film "Der Gymnasiast " ist ein Film der Trauer eines Sohns um den Vater, der bei einem Autounfall ums Leben kam, erzählt Perlentaucher-Kritiker Karsten Munt: "In blau und rosa schimmern Leid und Lust. Ein ständiger Wechsel, der wirkt, als könne sich das Leben nicht entscheiden, ob es in Leidenschaft aufblühen oder in Trauer stillstehen sollte. Blau, wie schon 'Sorry Angel' blau war, rosa wie Honorés Filme es im besten Fall sind (und 'Der Gymnasiast' ist ein solcher Bestfall): sanft, leidenschaftlich, aufrichtig."

Er macht autobiografische Filme, sagt Honoré im Gespräch mit Michael Meyns in der taz, und Marcel Proust ist dabei eine Inspiration für ihn: "Es war mir ein Anliegen, loyal über meine Erfahrungen und Erlebnisse zu erzählen. Ich will sie nicht beschönigen oder aufweichen, sondern aufrichtig sein. Aber um diese Wahrhaftigkeit hinzubekommen, kann man keine buchstäbliche Wiedergabe wählen, man muss verklausuliert erzählen, nicht eins zu eins die Realität nachbilden, sondern über den Umweg der Stilisierung."

Frauke Finsterwalders Film "Sisi und ich" schafft es, die Kritik zu begeistern: "Am ehesten ist 'Sisi und ich' vergleichbar mit Marie Kreutzers hervorragendem Film 'Corsage' aus dem vergangenen Jahr", schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ. "Beide widmen sich Sisis letzten Jahren, ihrem Ringen mit den Ansprüchen der Öffentlichkeit, mit ihrem kaiserlichen Gemahl und der Unmöglichkeit von Freiheit." Der Film spielt auf Korfu, so weit möglich von allen "Sissi"-(mit Doppel-S)-Klischees entfernt, schreibt Perlentaucher Jonas Nestroy: "Für Sisi die Möglichkeit, sich ein nahezu männerloses Refugium fernab von Hof und Habsburger Doppelmonarchie aufzubauen: Nur Kammerzofen, die man auch küssen kann, eine strenge Diät mit Kokain und Ziegenmilch." Johanna Adorjan interviewt dazu die beiden Hauptdarstellerinnen Susanne Wolff und Sandra Hüller  für die SZ

Außerdem: Rainer Hermann guckt für die FAZ türkische Propagandaserien. Besprochen werden Sophie Linnenbaums Debütfilm "The Ordinaries" (taz und FAZ), Yun Sung-hyuns "Kill Boksoon" (SZ), "Maigret" (FR), "John Wick 4" (NZZ), Lars Kraumes "Der vermessene Mensch", den Hanns-Georg Rodek in der Welt zusammen mit Steve Mcqueens Filmserie "Small Axe" bespricht, und "Manta Manta - Zwoter Teil" ("zum Schreien bescheuert" laut Julia Lorenz in Zeit online, aber nicht online). Hier ein Überblick über alle Filmstarts der Woche.
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Kunst

Nicole Büsing und Heiko Klaas haben sich für den Tagesspiegel die Ausstellung "Re-Inventing Piet. Mondrian und die Folgen" im Kunstmuseum Wolfsburg angesehen, die an 150 Exponaten den Einfluss von Piet Mondrians Werk auf Kunst, Design und Alltagsobjekte zeigt. Schon erstaunlich, was man aus Mondrian alles machen kann, finden die Kritiker: "Der Franzose Mathieu Mercier provoziert mit Do-it-Yourself-Mondrians aus brüchigen Sperrholzplatten, die er mit Farbfolie und Isolierband beklebt. Und die queere Österreicherin Jakob Lena Knebl lässt ihre nackten Rundungen mit einem Mondrian-Muster bemalen. Dazwischen Architekturmodelle, Yves Saint Laurents Cocktailkleider, ein Video von Iván Argote, der zwei unter Glas befindliche Mondrians im Pariser Centre Pompidou besprüht."

Weiteres: Die Künstlerin Hito Steyerl hat in der neuen Ausgabe der Zeit einen Teil des Feuilletons gestaltet und zwar nach dem Prinzip eines "neuronalen Netzwerks": "Es ist ein Blick in den Maschinenraum der KI: Wer arbeitet da eigentlich? Wer hat das Sagen? Wie viel Energie wird verschleudert? Und überhaupt, wohin soll das alles führen: Welche Auswirkungen auf die Gesellschaft hat die neue Technik?", schreibt sie dazu.

Besprochen werden Nicole Eisenmans Ausstellung "What happenend" im Münchner Museum Brandhorst (FAZ), die Lee Lozano Retroperspektive in der Pinacoteca Agnelli in Turin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "The power and pleasure of books and possessions" in der Galerie Neugerriemschneider in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

Kerstin Holm stellt in der FAZ das Musikprojekt "Nach Russland" des Filmregisseur Roma Liberov vor. Emigrierte russische Musiker vertonen hier die Gedichte emigrierter russischer Dichter, auch aus früheren Phasen der Heimatlosigkeit. "Von der glühenden Sehnsucht nach kultureller Zugehörigkeit kündet das Gedicht 'Nach Russland zurückkehren - in Versen' (Wernut'sja v Rossiju - stichami), von Georgi Iwanow (1894 bis 1958), das der erst 22 Jahre alte dagestanische Sänger R. A. Svet (Ramasan Achmedow), der nach Australien geflohen ist, mit zärtlich delirierendem Gesang unterlegt hat. Iwanow, der in Paris starb und tatsächlich nur in Versen postum in sein Land zurückkehrte, hatte als 'Erster Dichter' der russischen Emigrantenszene eine Sonderstellung." Mehr auf der Website der Platte.

Hier ist das Lied:



Jonathan Fischer besucht für die Welt die malische Popdiva Oumou Sangaré in Bamako. Sie steht hinter der neuen Militärjunta, die die Franzosen rausgeschmissen hat und lieber mit Putins Wagner-Söldnern kooperiert: "Sangaré erhebt ihre Stimme und nimmt eine mütterliche Strenge an, die sie bisher unter einem Lächeln versteckt hielt: 'Die ehemaligen Kolonialherren haben uns zu lange wie unmündige Kinder behandelt. Wir Malier empfangen jeden Gast mit großer Fürsorge. Aber wenn wir Nein sagen, dann meinen wir auch Nein!'"

Besprochen wird Lana del Reys neues Album "Did you know..." (Zeit und Tagesspiegel).
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Stichwörter: Russische Musik

Bühne

Szene aus Christian Josts Oper "Voyage vers l'Espoir" in Genf. Foto  © Gregory Batardon


FAZ-Kritiker Werner M. Grimmel ist ergriffen von Christian Josts Oper "Voyage vers l'Espoir" im Genfer Grand Théâtre. Der Regisseur hat den gleichnamigen Film von Xavier Koller, der 2016 einen Oscar als bester fremdsprachiger Film gewann, für die Bühne adaptiert. Der Stoff ist so aktuell wie erschütternd, schreibt Grimmel, erzählt wird die Flucht einer alevitisch-kurdischen Familie in die Schweiz. Die Inszenierung von Kornél Mundruczó und die musikalische Verarbeitung des Stoffes findet Jost ganz fabelhaft: "Unaufdringlicher Einsatz der Drehbühne und die magischen Beleuchtungskünste von Felice Ross ermöglichen rasch wechselnde Blicke auf die Handlung. In einem veritablen Lastwagen fährt der sympathische Matteo bis vor an die Rampe und nimmt die im strömenden Regen marschierende Familie mit. An der Schweizer Grenze ist ohne Pässe freilich kein Durchkommen. In einer verrauchten Spelunke wartet der Landsmann Haci Baba, ein Mafioso-Mephisto übelster Sorte, der für Haydars letztes Geld das Paradies verspricht. Die konzise Reduktion von Kollers Filmhandlung in Josts Oper lässt Raum für wirkmächtiges Erzählen in Tönen. Die sinfonisch konzipierte Partitur fordert ein großes Orchester mit viel Schlagwerk. Atmosphärische Farben und bewegte, häufig rhythmisch durchpulste Klangflächen schaffen einen reichen, manchmal dissonant eingetrübten Soundtrack."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel stellt Frederik Hanssen das Programm der letzten Saison des Intendanten der Berliner Staatsoper, Matthias Schulz, vor. Unterdessen macht sich Michael Maier in der Berliner Zeitung Gedanken über die Nachfolge Barenboims an der Staatsoper. Andreas Hartmann unterhält sich für die FR mit Alexander Bernstein über dessen Vater Leonard Bernstein, dessen "West Side Story" Ostern an der Frankfurter Oper gespielt wird.

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Moritz Eggerts Operette "Die letzte Verschwörung" unter der Regie von Lotte de Beer an der Wiener Volksoper (nmz), ein Gastspiel von Till Lindemanns Zirkusschau "The Greatest Comedian Freakshow" in Berlin (Tsp), Markus Öhrns Stück "Szenen einer Ehe" am Volkstheater Wien (Standard), Natalie Baudys Inszenierung von "Absence" im Wiener Kosmos-Theater (Standard), die Erinnerungen des Schauspielers Samuel Finzi (nachtkritik), Oliver Frljics Inszenierung von Heiner Müllers "Schlachten" am Gorki-Theater Berlin (SZ) und Marlon Tarnows Inszenierung von Martin McDonaghs "Der einsame Westen" am Anhaltischen Theater Dessau (FAZ).
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Literatur

Claudia Ingenhoven schreibt in der taz eine kleine Hommage auf Judith Hermann, die in den nächsten Tagen ihr Buch "Wir hätten uns alles gesagt" in Berlin vorstellt (die Termine sind in dem Artikel genannt). Aus diesem Buch erzählt Ingenhoven eine kleine Episode und feiert die Schwebe, in der es sie zurücklässt: Hermann schildere die überraschende Begegnung mit ihrem Psychoanalytiker. "Jahrelang war sie bei ihm in Behandlung, ganz klassisch saß er hinter ihr, während sie lag und sprach. Oder schwieg. Oder weinte. Er wusste viel über sie, sie fast nichts über ihn. Und jetzt, lange nach Beendigung der Analyse, trifft sie ihn nachts auf der Kastanienallee, beide leicht angetrunken. Sie folgt ihm in eine Kneipe, auch um zu fragen, wie er denn ihre Erzählung fand, die sie ihm in den Briefkasten gesteckt hat. Welche Erzählung? Er habe keine bekommen."

Die Übersetzerin Andrea Paluch erzählt in einem schönen Text für die FAZ, wie sie zusammen mit ihrem Mann Mann Robert Habeck Ted Hughes' "Birthday Letters" übersetzte, seine an die tote Silvia Plath gerichteten Gedichte. Sie waren vor seiner Bärbeißigkeit gewanrt worden, aber in ihren Briefen, dann Faxen erwies er sich in Wirklichkeit als sehr liebenswürdig und erpicht, bestimmte Anspielungen zu erklären: "Hughes hielt unseren Spielraum beim Übersetzen für begrenzt: 'Ich weiß nicht, ob diese konzentrierte Unmittelbarkeit und Intimität im Deutschen leicht zu finden und aufrechtzuhalten ist. Im Englischen ist sie nicht leicht zu finden und aufrechtzuerhalten. Aber die Reinheit und Schlichtheit gibt einem Übersetzer vielleicht wenig Möglichkeit - keine Möglichkeit, Bilder zu entwickeln oder rhetorische Fertigkeiten an den Tag zu legen: alles, was ich versucht habe zu tun, war, mich nackt zu machen wie ein Kind und einzutauchen.'"

Außerdem: Julia Hubernagel in der taz und Gregor Dotzauer im Tagesspiegel würdigen György Dalos, der den Heinrich-Mann-Preis erhalten hat. Besprochen werden unter anderem Dieter Borchmeyers großes Thomas-Mann-Buch (Borchmeyer hat sein eigenes Buch jüngst auf zwei Seiten in der NZZ als ein wahres Wunderwerk gepriesen. Edo Reents verspricht zu prüfen, ob zu recht), Herbert Clyde Lewis' Roman "Gentleman über Bord" von 1937 (laut Christina Lutz in der SZ eine große Wiederentdeckung),Doireann Ní Ghríofas Buch "Ein Geist in der Kehle" (FR).
Archiv: Literatur