Efeu - Die Kulturrundschau

In jedem Ton wahr

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01.04.2023. Die SZ erklärt, weshalb sich der englischsprachige Literaturbetrieb gerade auf AutorInnen aus der DDR stürzt: Es gibt Bedarf an Romanen, die sich mit Klassenunterschieden und Überwachung auseinandersetzen. Mit Geoff MacCormack und David Bowie reist die SZ durch die Sowjetunion der Siebziger. In der FAZ schaut Anna Narinskaja auf die Blindheit der russischen Intelligenz für die Ideologie russischer Literatur. Außerdem wirft die FAZ einen ersten Blick durch die Lichtaugen von Stuttgart 21. Der Tagesspiegel spürt den Tod am eigenen Leibe im Humboldt Forum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Die nach Berlin migrierte russische Kritikerin Anna Narinskaja bescheinigt der russischen Intelligenz in "Bilder und Zeiten" der FAZ, blind für die Ideologie russischer Literatur sein: "Das Problem der postsowjetischen russischen Intelligenzija besteht darin, dass ihr sowjetisches Trauma, das einen ideologischen Blick auf die Kunst ablehnt, sie zugleich absolut blind und taub macht für eine Auseinandersetzung damit, wie Sachverhalte und Ideen der Zeit, in der diese Bücher geschrieben wurden, in den heutigen Kontext hineinwirken. Aus diesem Grund haben die klassischen russischen Texte nie einen ernsthaften, konsequent ethischen (und auch postkolonialen) Kommentar bekommen. Dabei wäre eine solche Arbeit in den zwei Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion und bis zur Annexion der Krim durchaus möglich gewesen. Das Wichtige, Universelle, unsere Seelen Betreffende in diesen Büchern wurde nicht von den Konventionen ihrer Zeit und deren Sprache getrennt."

Der englischsprachige Literaturbetrieb stürzt sich gerade auf Autorinnen und Autoren aus der DDR oder zumindest mit ost-biografischer Grundierung: Mit einem Mal "stellt sich die marxistisch-leninistische Grundausbildung, ohne die in der DDR niemand die Schule verlassen hat, gerade als unerwarteter Wettbewerbsvorteil heraus", schreibt Felix Stephan in der SZ. Hintergrund für dieses früher undenkbare Interesse sei ein Generationenwechsel in der Branche: "Heute säßen dort junge Frauen, deren Eltern einst selbst aus sozialistischen Ländern in Osteuropa und Asien immigriert seien", erfährt Stephan von der Übersetzerin Lucy Jones. Und "es gibt in der globalen, englischsprachigen Literaturproduktion erheblichen Bedarf an Romanen, die sich mit Klassenunterschieden, Machtstrukturen und Überwachung auseinandersetzen. Und als wollte der globale Kapitalismus vor der Kulturpolitik der DDR nachträglich doch noch einknicken, spült diese Nachfrage neuerdings ausgerechnet jene ostdeutschen Schriftsteller in die amerikanischen Verlage, die sich als ausdrücklich proletarisch und sozialistisch verstanden haben." So ist auch Clemens Meyers erneut für den Booker-Prize nominierter Roman "Als wir träumten" leichter vermittelbar, "weil es darin ein klares Bewusstsein für die eigene Klassenzugehörigkeit gebe, in westdeutschen Romanen oft rätselhaft abwesend".

Hilmar Klute hält in der SZ wenig von dem Vorschlag, Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman "Tauben im Gras" wegen seiner zweifellos (aber auch in direkter und indirekter Rede gefassten) rassistischen Sprache aus den Lehrplänen zu nehmen, wie dies Sigrid Köhler vorgeschlagen hatte (hier unsere Resümees zur Debatte). Deren Einwand, Koeppen finde jenseits seiner Dialoge keine antirasstische Sprache, hält Klute für "schlicht", da "bereits seine Terminologie von falschen Annahmen ausgeht. Der Erzähler ist keine Instanz mit regulativer Funktion, sondern er ist natürlich ein Teil der Realität und der Realitätsverzerrungen, über die er spricht. Seine Sprache ist die Sprache, die in jenen Jahren nach Koeppens Beobachtung von einer bestimmten Gruppe gesprochen wird. Und sein Blick auf Menschen findet nicht aus der Position dessen statt, der mit den Rassismusdiskursen und identitätspolitischen Paradigmen kommender Jahre vertraut ist. Wegen dieser Radikalität und Drastik ist Koeppens Roman ein einsames Beispiel avantgardistischer Erzählkunst in der literarisch oft etwas traditionell, wenn nicht gar bieder aufgestellten Nachkriegsliteratur."

Außerdem: In der Verlagswelt blickt man derzeit eher noch gelassen auf die Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz, fasst Mara Delius ihre Erkundigungen in der Literarischen Welt zusammen und stellt auch an sich selber fest: "Nach Stunden in der betriebsam-beflissenen flachen Sprachwelt der Chatbots wendet man sich lieber der echten zu." In der WamS erzählt Tilman Krause von seiner Begegnung mit Dagmar von Gersdorff, die seit Jahrzehnten über in Vergessenheit geratene Autorinnen der Goethezeit und der Romantik forscht. Markus Bauer erinnert im Literarischen Leben der FAZ an den israelischen Dichterkreis Lyris, der auch nach der Shoah der deutschen Sprache mit Treffen und Lesungen die Treue hielt.

Besprochen werden unter anderem Annette Pehnts "Die schmutzige Frau" (taz), neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Eva Lindströms "Wir sind die Könige des Waldes, sozusagen" (taz), Tanja Maljartschuks "Gleich geht die Geschichte weiter..." (FR), Bernhard Aichners neuer Bronski-Krimi "Bildrauschen" (Presse), Claudia Piñeiros "Kathedralen" (NZZ), A.I. Kennedys "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" (Literarische Welt) und Shelly Kupferbergs "Isidor" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Gerhard Richter, MV 133, 2011, Lack auf Farbfotografie, 10,1 x 15,1 cm © Gerhard Richter 2023

Bestimmt sind die hundert Dauerleihgaben von Gerhard Richter für das geplante Museum des 20. Jahrhunderts, aber bis zu dessen Fertigstellung wollte niemand mehr warten. Nun sind die hundert Werke, die Richter nach 1989 schuf in der Neuen Nationalgalerie zu sehen, aber es ist vor allem der 2014 geschaffene Birkenau-Zyklus, der die KritikerInnen einmal mehr in den Bann zieht: "Die Serie ist das Fazit der langen Auseinandersetzung des Malers mit dem Holocaust und dessen Darstellbarkeit", erinnert Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung: "Basis waren vier Fotos aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die Richter auf die vier Leinwände übertrug, um sie dann nach und nach zu übermalen. Es sind abstrakte Landschaften zum Zivilisationsbruch. Aber aus der schwarzgrauen Asche der Vernichtung drängte es blutrot, für das wieder auferstehende Leben. Und lebendiges Grün sprießt aus den aufgerissenen Bildgründen. Mit jeder Farbschicht ließ der Maler die fotografischen Vorlagen - auch sie hängen links und rechts des Zyklus - ein bisschen mehr verschwinden." "Gute Malerei", kommentiert Boris Pofalla in der Welt: "Aber kann man den Holocaust malen? Soll man es? Darf man es? Richters Birkenau-Bilder geben keine eindeutige Antwort darauf, sie sind selbst Fragen." Weitere Besprechung im Tagesspiegel.

Gunda Bartels (Tsp) erfährt das Sterben geradezu am eigenen Leib in der immersiven Ausstellung "Un_endlich. Leben mit dem Tod" im Humboldt Forum, das sich in fünf Akten nicht nur kulturgeschichtlich mit dem Sterbeprozess auseinandersetzt: Etwa in der Videoinstallation "Konferenz des Sterbens", "in der zwölf Menschen aus aller Welt von ihren Erfahrungen als Sterbebegleiter:innen erzählen. Im Booklet, das einen durch die Schau schleust, ist ihr medizinischer oder spiritueller Background benannt. Im dritten Akt 'Tod' wird es dann gruselig. In einer Kabine schildert eine Stimme bei flackernden Lichteffekten die neurologischen Vorgänge beim Sterben. Du kannst jetzt nicht mehr schlucken, es folgt das Todesrasseln." Wer es nicht aushält, wählt den Exit durch den Vorhang." "Der Tod als Theater des Lebens, darunter macht es die mitunter an die Kursführung einer Geisterbahn erinnernde Ausstellungsdramaturgie nicht", kommentiert Harry Nutt in der Berliner Zeitung.

Außerdem: In der taz wirft Fabian Lehmann einen Blick auf den Erfolg von Kryptokunst, die inzwischen in den großen Museen und Auktionshäusern angekommen ist. In der SZ trifft sich Thomas Kirchner mit den Nachfahren von Vincent van Gogh, die dankbar sind, dass alle Werke einer Stiftung übergeben wurden, auch wenn sie andernfalls heute Milliardäre wären. Besprochen werden die Tehching-Hsieh-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (FAS), die Ausstellung "Flashes of Memory. Fotografie im Holocaust" im Berliner Museum für Fotografie (FAZ) und die Ausstellung "One Can Only Hope and Wonder" der nigerianischen Künstlergruppe The Critics Company im Frankfurter Zollamt MMK (FR).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Bilder von uns". Foto: Arno Declair

Christian Stückl braucht nur wenige Striche, um in seiner Inszenierung von Thomas Melles "Bilder von uns" am Münchner Volkstheater das ganze Ausmaß sexuellen Missbrauchs an katholischen Einrichtungen zu skizzieren, staunt Egbert Tholl in der SZ. Melle ging es vor allem darum, zu erzählen, was der Missbrauch im Inneren der Opfer anrichtet, Stückl, der selbst einige Jahre am Kloster Ettal verbrachte, inszeniert den Text "kühl, analytisch, in jeder Geste, jedem Ton wahr", lobt Tholl: "Es gibt bei Melle keine Anleitung, wie sich Opfer richtig verhalten könnten. Das wäre auch degoutant, alles erscheint falsch und manches möglicherweise richtig. Und auch Christian Stückl macht gar nichts anderes, als vier Haltungen, die in sich permanent changieren, mit äußerster Klarheit auf die Bühne zu bringen. Daraus entsteht ein Erkenntniskrimi, wenn sich die vier mühevoll, schmerzhaft, immer wieder auch verneinend, abwiegelnd in die eigene Erinnerung hineinbewegen. Soll man das, was man dort findet, ans Licht holen?" Zu "eindimensional" findet indes Nachtkritikerin Christa Dietrich die Inszenierung.

Besprochen werden "Linie 1", eine musikalische Revue von Volker Ludwig unter der Regie von Tim Egloff am Berliner Gripstheater (nachtkritik), Markus Öhrns Inszenierung "Szenen einer Ehe" nach dem Film von Ingmar Bergman am Wiener Volkstheater (nachtkritik, Standard), Alexander Eisenachs Inszenierung des "Götz von Berlichingen" am Münchner Residenztheater (nachtkritik, SZ), Tom Kühnels Stück "Forever Yin Forever Young. Die Welt des Funny van Dannen" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Armin Petras' Inszenierung von Fritz Katers "blut wie fluss" am Theater Bonn (nachtkritik), Jessica Glauses "Anti War Women - Wie Frauen den Krieg bedrohen" an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik) und Andrea Amorts Tanzsstück "Glückselig. War gestern, oder?" im Brut Theater Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Die Welt als Müll und Verstellung: "Matter out of Place" 

Artechock-Kritiker Philipp Stadelmaier hat sich bei seinem ersten Besuch des Grazer Diagonale-Festivals zum österreichischen Film in Stadt wie Festival prompt verliebt. Was insofern auch gut passt, da das Festival inhaltlich einen deutlichen Schwerpunkt auf die Erkundung von Orten legte: "Matter Out Of Place" von Nikolaus Geyrhalter erweist sich hier als "Schlüsselfilm. Das Thema ist der Müll, dem Geyrhalter in verschiedenen Variationen rund um die Welt folgt, doch tatsächlich sucht Geyrhalter nach einer filmischen Form für die Struktur, die Müll (als menschliches Abfallprodukt und Signatur des Menschen) und die Natur des Planeten aufeinander bezieht. Die großformatigen, statischen Einstellungen richten genaue Blickwinkel ein, die Natur und Müll vereinen. Der Müll taucht auf unter Wiesen, auf Lastwagen, in Mülldeponien im Globalen Süden und reichen Bergdörfern in der Schweiz. Er ist bereits ein Teil der Natur, ein Schlüssel zur Welt - und gleichzeitig ihre Vermüllung und Verstellung. Der Müll bleibt Rest, Überschuss, a matter out of place, der seinem Verschwinden widersteht, nie in die Natur integriert werden kann, auch dann nicht, wenn beide ununterscheidbar werden." Der Filmemacher "verwandelt die (naheliegende und einfache) ökologische Forderung nach einer Reduktion von Müll und Nachhaltigkeit in den (komplexen) Nachvollzug der fatalen Präsenz des Menschen auf der Erde, die das Anthropozän zum Purgamentozän macht."

Besprochen werden Frauke Finsterwalders "Sisi und ich" (Artechock, unsere Kritik), Christophe Honorés "Der Gymnasiast" (Artechock, unsere Kritik), Byun Sung Hyuns auf Netflix gezeigter koreanischer Thriller "Kill Boksoon" (ZeitOnline), Sophie Linnenbaums "The Ordinaries" (Artechock), Til Schweigers "Manta Manta, Zwoter Teil" (Artechock) und der Apple-Film "Tetris" (Welt).
Archiv: Film

Architektur

Der Rohbau von Stuttgart 21 ist fertig - und Niklas Maak (FAZ) schaut direkt mal nach, ob der Bau die Kosten von annähernd zehn Milliarden Euro wert ist. Beeindruckend ist der Bahnhof schon, gesteht er: "Was als Erstes auffällt, ist das Dach des Bahnhofs: Dies hier ist kein Deckel, der von vielen Stützen getragen wird. In der Halle wachsen anstatt Pfeilern 27 sogenannte Kelche in die Höhe, die in Lichtaugen münden, durch die die Sonne in den riesigen Raum fällt. Der Effekt dieser Kelche ist erstaunlich; es ist, als ob das Licht nach einer geheimnisvollen alchemistischen Rezeptur als cremige Flüssigkeit in die Halle gegossen würde und dort noch im Fluss aushärtete. Die Idee für die Kelche geht auf den großen Stuttgarter Ingenieur Frei Otto zurück, der von Stützen träumte, die gleichzeitig Tageslicht in eine Halle bringen und natürliche Belüftung - was beides am Ende auch Energie spart."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Stuttgart 21

Musik

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Die im Wende Museum in Los Angeles ausgestellten Fotos, die Geoff MacCormack 1973 von David Bowies per Schiff und Bahn unternommener Moskau-Reise machte, sind "spektakuläre Dokumente, in denen sich popkultureller Vordergrund und zeithistorischer Hintergrund auf erstaunliche Weise verbinden", schwärmt Andreas Bernard in der SZ. Ziggy Stardust, Bowies Kunstfigur zur damaligen Zeit, "wirkt auf keinen anderen Bildern tatsächlich so fremd in seiner Umgebung wie hier, in der UdSSR der frühen Siebzigerjahre. Die Fotos, die MacCormack von den sowjetischen Menschen machte - eine Gruppe von Jungen auf dem Bahnsteig, Bäuerinnen mit Kopftuch an der Wegstrecke, aus- und einsteigende Passagiere, eine seilspringende ältere Dame an einem sibirischen Bahnhof - zeigen Physiognomien und Kleidungsstile, die genauso gut auch von 1953 oder 1923 stammen könnten - Protagonisten einer längst vergangenen Wirklichkeit. Die berühmte Pop-Figur mit den grellen Haaren dagegen altert nicht, und es hat fünfzig Jahre später beinahe den Anschein, als wäre die Gestalt wie ein Comic-Held in die schwarz-weiße historische Realität hineinmontiert, ein Roger Rabbit des Pop." Hier der Katalog zur Ausstellung.

Außerdem: Im WamS-Gespräch erzählt Klaus Meine von den Scorpions, dass er den schwärmerischen Moskau-Einstieg seines Wende-Klassikers "Wind of Change" für die aktuelle Tour umgedichtet hat in "Now listen to my heart - it says Ukrainia, waiting for the wind to change". In der NZZ erinnert Christian Wildhagen an Sergei Rachmaninow, der vor 150 Jahren geboren wurde. Außerdem bespricht er ein Rachmaninow-Konzert von Yuja Wang. In der SZ plaudert Sven Regener, dessen Band Element of Crime dieser Tage ein neues Album veröffentlicht, über seine wirr-wilde Zeit als Jugendlicher in den westdeutschen K-Gruppen und dass er auch mit 62 lieber keine Songs über Arthrose und Blasenschwäche schreibt: "Was ist daran toll? Das wären Songs, die keinen Spaß machen." Stattdessen wird im aktuellen Vorab-Video viel getrunken und geraucht:



Besprochen werden Lana del Reys "Did you know that there's a tunnel under Ocean Blvd" (taz, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt von Shabaka Hutchings mit seiner Band The Comet is Coming in Berlin (Tsp), ein von Mirga Gražinytė-Tyla dirigiertes Wiener Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestras (Standard) sowie Burkard Kunkels und Bob Degens Album "Two Geese By the River" (FR).
Archiv: Musik