Efeu - Die Kulturrundschau

Die Zeitlichkeit der Gattung Mensch

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03.04.2023. Der Tagesspiegel betritt in der Berliner NGBK das Terrain des russischen Kolonialismus. Die FAZ lauscht in einer Klangausstellung in Basel dem widerständigen Surren des Prachtleierschwanzes. Und es gibt doch noch Wagner-Tenöre, jubelt die SZ nach Jonas Kaufmanns "Tannhäuser" bei den Salzburger Osterfestspielen. Im Standard kritisiert Milena Michiko Flašar die Pläne, in Österreich migrantischen Kindern das Sprechen ihrer Muttersprache auf dem Schulhof zu verbieten. Außerdem verabschiedet sie den japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto, den seine Respektlosigkeit berühmt machte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2023 finden Sie hier

Kunst

Foto: Alexander Anufriev/nGbK

"Өмә", baschkirisch für "kollektive Selbsthilfepraktiken", heißt die aktuelle Ausstellung in der Berliner NGBK, die sich zum Ziel gesetzt hat, den russischen Kolonialismus zu untersuchen, berichtet Bernhard Schulz (Tsp). Aber es braucht Vorkenntnisse, meint Schulz, denn "der russische Kolonialismus ist ein noch unausgeleuchtetes Terrain, und wer im heutigen Russland das Thema auch nur anrührt, wie die Menschenrechtsorganisation 'Memorial', wird kriminalisiert." Vom Verlust handelt beispielsweise "die Installation von Patimat Partu. Die Urgroßeltern der Künstlerin, ethnische Laken in Dagestan, einer Republik am Nordrand des Kaukasus, wurden zwangsumgesiedelt, wobei jede Familie nur so viel mitnehmen durfte, wie auf das Drittel eines zweirädrigen Karrens passte. Eine auf Folie aufgebrachte grafische Darstellung eines solchen Karrens lässt Partu vor dem Großfoto einer Gebirgslandschaft Dagestans wehen, wohl als Hinweis auf die Flüchtigkeit der Erinnerung an die Geschichte. Auch diese Deportation des Jahres 1944 klassifiziert die Broschüre als Völkermord, 'den Russland jedoch nicht anerkennt'."

Bild: Charlotte Salomon, Gouache from "Life? Or Theatre?" (M004319), 1940-1942, Collection of the Jewish Museum Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation. 
Im Alter von nur 26 Jahren wurde die Berliner Malerin Charlotte Salomon in Auschwitz ermordet, tragisch war ihr Leben auch zuvor: Über Generationen hinweg hatten sich Menschen in ihrer Familie das Leben genommen, weiß Chris Schinke (taz). Und doch will die Ausstellung "Leben? oder Theater?" im Münchner Lenbachhaus nun mit dem "Mythos der passiv Leidenden" aufräumen: "Ein Trauma ist der Suizid der Großmutter, Charlotte Salomon erlebt ihn mit. Der Großvater offenbart ihr, dass auch Charlottes Mutter Suizid begangen hatte, was sie bis dahin nicht wusste. Ein Blatt in der Ausstellung zeigt den zerschlagenen, verdrehten Leib der Mutter auf dem Asphalt. Die Enkelin solle selbiges Schicksal ereilen, meint der Großvater. Doch sie wehrt sich. (…) 2011 kam ein Brief Charlotte Salomons ans Tageslicht, der international für Furore sorgte. Die Familie hatte ihn bis dahin geheim gehalten. Darin gesteht Salomon die Tötung des Großvaters, durch Gift. Oder handelt es sich bei dem Brief auch um einen Teil von Salomons semifiktionalem Werk? Die Münchner Kurator:innen sehen die Schuld Salomons als belegt."

FAZ-Kritikerin Alexandra Wach lernt genau hinzuhören in der Ausstellung "À bruit secret" im Museum Tinguely in Basel, das Klangwelten in der Kunst vom siebzehnten Jahrhundert bis heute ausstellt: "Am verblüffendsten ... an diesem bestens sortierten Parcours ist der Prachtleierschwanz, den der algerisch-französische Künstler Kader Attia in einer BBC-Doku von David Attenborough aufgespürt hat. Der Vogel kann nicht nur Stimmen anderer Artgenossen imitieren, sondern auch technische Geräusche wie das Klicken von Kameraauslösern oder das Surren von Motorsägen. Außerdem baut er störende Töne, die seine Umgebung negativ beeinflussen, in seinen Gesang ein. 'Mimesis as Resistance' nennt Attia deswegen seine Huldigung an diesen ungewöhnlichen Überlebenskünstler und meint, dass der Vogel ein gutes Beispiel dafür sei, 'dass die Natur der Zivilisation immer überlegen sei. Die Überlegenheit der Natur bestimmt die Zeitlichkeit der Gattung Mensch.'"

Weiteres: Der Stülerbau, der das Museum Berggruen beherbergt, wird noch bis 2025 geschlossen bleiben, also reisen die wichtigsten Werke Picassos aus der Sammlung nach Japan und China, berichtet Birgit Rieger, die für den Tagesspiegel das The National Museum of Western Art in Tokio besucht hat. Besprochen werden die David-Hockney-Ausstellung im Londoner Lightroom (SZ), die Ausstellung "After Impressionism: Inventing Modern Art" in der Londoner National Gallery (Tsp) und die Ausstellung "Vittore Carpaccio: Dipinti e Disegni" in der Fondazione Musei Civici, Palazzo Ducale in Venedig (NZZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Die Schriftstellerin Milena Michiko Flašar, in den Achtzigern als Kind mit japanisch-österreichischen Wurzeln in Niederösterreich Ausgrenzungen und Angriffen ausgesetzt, wendet sich im Standard ganz entschieden gegen die Pläne, in Österreich migrantischen Kindern das Sprechen ihrer Muttersprache selbst in der Pause auf dem Schulhof zu verbieten. "Für mich war das Japanische eine Art familiärer Zufluchtsort. Da ich es mit niemandem als mit meiner Mutter und meinem Bruder sprach, bildeten wir zu dritt eine überschaubare Sprachinsel. Eine, auf der ich mich sicher fühlte, bis mir bewusst wurde, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung bisweilen weit auseinandergehen können. Was für mich ein Gewinn war, wurde mir von außen nur allzu oft als ein Verlust angerechnet. 'Tsching, tschang, tschung', hieß es, wenn uns einer miteinander reden hörte, 'Chinese sein nicht dumm' oder es flogen auch mal Steine auf uns 'Schlitzaugen'. ... Sollten wir uns da nicht lieber nach vorn bewegen? Wem nutzt eine mittelalterlich anmutende, von oben verordnete Einsprachigkeit? Sind sprachpolizeiliche Maßnahmen nicht prädestiniert dafür, sich zu Schikanen auszuwachsen, und schaffen wir nicht noch mehr von den 'gewissen Brennpunktschulen', indem wir Menschen verbieten, sich in ihren jeweiligen Herzenssprachen miteinander zu unterhalten?"

Außerdem: Der Übersetzer und Verleger Ondrej Cikán erzählt im Standard, warum es ihm eine Herzensangelenheit war, das Theaterstück "Radús und Mahulena" des Schriftstellers Julius Zeyer nach 20 Jahren des Haderns und Zauderns endlich ins Deutsche zu übersetzen. Immer mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller leiden an der Gegenwart, stellt Christiane Peitz in ihrer Menschenrechts-Kolumne im Tagesspiegel fest.

Besprochen werden unter anderem Judith Hermanns Poetikvorlesung "Wir hätten uns alles gesagt" (NZZ), Helga Schuberts "Der heutige Tag" (Standard), Etty Hillesums "'Ich will die Chronistin dieser Zeit werden.' Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943" (Zeit), Adam Andrusiers "Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn" (taz), Alexei Salnikows "Petrow hat Fieber" (NZZ), Carolina Schuttis "Meeresbrise" (Standard), Andreas Maiers "Die Heimat" (FR) und neue Krimis, darunter Hayley Scrivenors Debüt "Dinge, die wir brennen sahen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Walter Mehrings "Dreizehnter und letzter Brief aus der Mitternacht":

"Aus Nächten, die ich nie beschrieb
Nicht schlief, vertrieb Mich-Selbst mein Trieb ..."

Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Tannhäuser". Bild: Monika Rittershaus

Mit seinem "Tannhäuser" bei den Salzburger Osterfestspielen straft Jonas Kaufmann, der in Romeo Castelluccis Inszenierung sein Rollendebüt gibt, "jene Unkenrufe Lügen, die mitunter behaupten, es gebe keine Wagner-Tenöre mehr", staunt Egbert Tholl in der SZ. Und das trotz Andris Nelsons oft schleppender "schattenhafter Klangverweigerung", fährt Tholl fort: "Es ist berückend zu erleben, mit welcher Sorgfalt sich Jonas Kaufmann auf diese Partie vorbereitet hat. Man versteht jedes Wort, weil er jedes Wort denkt. Die Höhe hat er, mal mit Kraft, mal mit Überlegenheit, er weiß inzwischen längst, wie er das Fundament seines baritonal grundierten Timbres farbenreich gestalten kann." Im Standard lobt Ljubisa Tosic diesen "Tannhäuser" wegen der Unbestimmtheit Castelluccis: "Die Uneindeutigkeit seiner Ideen ist zweifellos eine Magiequelle seiner Arbeiten. Er ist der Bilder malende Regisseur, der assoziative Gestalter szenischer Gemälde, deren Charisma aus dem Poetischen ebenso schöpft wie aus dem Drastischen." Weitere Besprechung in der FAZ.

"Pointen, Pobacken und Posaunenpupse" bekommt Simon Strauss in Antú Romero Nunes' Inszenierung von Nona Fernández' Stück "Molière -  der eingebildete Tote" in Basel geboten - und ist dabei rundum glücklich. "Eine dringend nötige Befreiung des Theaters von allen winterlichen Schwermut- und Tiefsinnsexzessen", jubelt er: "Nunes setzt dem Basler Bürgerpublikum selbstbewusst eine herzhafte Portion Comédie Française vor, eine molièrehafte Mogelpackung über Molière", dessen "Eingebildeter Kranker" hier als Treppenwitz erzählt werde, in dem Moliere als Geist herumspukt: "Während seine Truppe um ihren legendären Maestro trauert, während sie ihn zu Grabe trägt, das Glas auf ihn erhebt und - typisch wankelmütiges Schauspielergemüt - sich gleichzeitig von seinem ärgsten Widersacher verführen lässt, während sich all das zuträgt und sein Nachruhm droht, den Bach herunterzugehen, steht der untote Molière dabei und begreift nicht, was um ihn herum geschieht."

Außerdem: Florentina Holzinger ist mit ihrem Stück "Ophelia's Got Talent", das im September Premiere an der Volksbühne hatte (Unsere Resümees) zum Theatertreffen eingeladen, für den Standard hat deshalb Stephan Hilpold mit Holzinger über Lust an der Provokation und Geschlechtervorstellungen gesprochen.

Besprochen werden: Lydia Steiers Inszenierung von Richard Strauss' Oper "Die Frau ihne Schatten" bei den Osterfestspielen in Baden-Baden ("Dieses schwere Stück lächelt. Ein Opernfest der Extraklasse", schreibt Eleonore Büning im Tagesspiegel, "Große Musik, mangelhafte Inszenierung", meint Jan Brachmann in der FAZ, weitere Besprechungen: FR), Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Funny-van-Dannen-Liederabend "Forever Yin Forever Young" am Deutschen Theater (Tagesspiegel), Christoph Mehlers Inszenierung von Erich Kästners "Fabian" am Staatstheater Darmstadt (FR) , das Stück "Hear Eyes Move. Dances with Ligeti" der Compagnie Making Dances beim Tiroler Opernfestival (Standard), Markus Olzingers und Elisabeth Sikoras Inszenierung "Briefe von Ruth" beim Musical-Frühling in Gmunden (Standard), Bernhard Mikeskas Inszenierung "Going Home :: Wer ist Gerda?" am Mecklenburgischen Staatstheater (nachtkritik), Grzegorz Layers Inszenierung "Der Widerspenstigen Zähmung" am Theater Freiburg (nachtkritik), Rikki Henrys Inszenierung von Anton Tschechows "Onkel Wanja" am Theater Dortmund (nachtkritik), Jonas Knechts Inszenierung "Selig sind die Holzköpfe!" am Theater St. Gallen (nachtkritik), Ulrich Rasches "Johannes-Passion" an der Staatsoper Stuttgart (nachtkritik), Mateja Koležniks Inszenierung von Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Wiener Burgtheater (Welt) und Jessica Glauses "Anti War Women - Wie Frauen den Krieg bedrohen" an den Münchner Kammerspielen (SZ).
Archiv: Bühne

Film

Sieht viel mehr nach Depardieu aus: "Maigret" 

Maigret, das war in den Romanen von Georges Simenon die Verkörperung einer in sich ruhenden Selbstgewissheit im Angesicht der sittlichen und moralischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, schreibt Tobias Kniebe in der SZ. Umso interessanter findet er Patrice Lecontes gleichnamigen Film (unser Resümee), in dem auch die Leibesfülle Gérard Depardieus den Regisseur nicht daran hindert, Maigret als strauchelnden Mann zu zeigen, dem man aus gesundheitlichen Gründen gar seine Pfeife genommen hat. Maigret als "beschädigter Mann" - "dieser Idee verleiht Gérard Depardieu hier die durchscheinendste, verletzlichste und anrührendste Präsenz, die man sich vorstellen kann. Sie offenbart den eigentlichen Kern von Patrice Lecontes erzählerischem Unterfangen. Eine Figur, die anfangs viel mehr nach Depardieu als Maigret aussieht, wird auf Entzug gesetzt und zugleich mit Versuchungen konfrontiert, aber nur, um dann nach und nach ihr wahres Selbst zu enthüllen - das wegführt von allen schmutzigen, eben doch nicht gezähmten, zerstörerischen Begierden. Hin zu einer Souveränität, die all das überwunden hat, die sich im Vertrauen und der Liebe eines anderen Menschen aufgehoben weiß. Kurz gesagt, hin zu Maigret, wie er als Urbild immer war."

Außerdem: Im Tagesspiegel empfiehlt Andreas Busche eine Schau des Berliner Kinos Arsenal zum Werk der moldawisch-ukrainischen Regisseurin Kira Muratowa, die von der Kulturpolitik der Sowjetunion teils hart gegängelt wurde. In seiner Serienkolumne für die Zeit erinnert Matthias Kalle an die Autodarstellungen in "Beverly Hills 90210". Besprochen werden Frauke Finsterwalders "Sisi und ich" (Standard, FAZ, unsere Kritik), Christophe Honorés "Der Gymnasiast" (Jungle World, unsere Kritik) und Michal Blaškos "Victim" (FAZ).
Archiv: Film

Musik



Der große Ryuichi Sakamoto ist bereits am 28. März gestorben, wie gestern am späten Nachmittag bekannt wurde. Erst vor kurzem erschien sein Abschiedsalbum "12", auf dem sich der japanische Musiker und Komponist mit seiner wiederkehrenden Krebserkrankung auseinandersetzte (unser Resümee). Andrian Kreye schreibt in der SZ einen ersten, kurzen Nachruf. Auf den zarten Ambient aus Sakamotos letzter Schaffensphase ließen die Anfänge in den Siebzigern noch nicht schließen, als er mit der Band Yellow Magic Orchestra weltweit berühmt wurde: "Inspiriert vom Komponisten Isao Tomita und der deutschen Band Kraftwerk produzierten sie eine wilde Mischung aus Elektropop, japanischem Rock und Exotika, die sie bald schon zu einer der maßgeblichsten Bands Asiens machte. ...Es war aber vor allem ihre Respektlosigkeit vor den sonst gerade in Japan so verehrten amerikanischen Vorbildern, die das Yellow Magic Orchestra zu so einer Größe machte. Ausgerechnet mit einer höchst albernen Coverversion des Soul-Klassikers 'Tighten Up' schaffen sie es dann auch in die amerikanischen Charts." Solo jedoch "verließ er die Traditionen des Pop immer weiter. Egal ob mit Flügel, Elektronik, Band oder Orchester, Sakamotos Musik ging immer mehr in die Tiefe und in die Fläche. Musik stand für ihn aber nie für sich selbst, sondern immer in einem größeren Kontext." Für ein Restaurant, dessen Essen er schätzte, dessen Musik ihm aber gehörig auf den Geist ging, stellte Sakamoto übrigens einmal eine handverlesene Playlist zusammen:



Weiteres: Manuel Brug von der Welt hat zwar durchaus kleinere Einwände gegen den neuen Klassik-Streamingdienst von Apple, der offenbar nach dem Motto "viel hilft viel" zusammengestellt ist und auch liebevoll aufbereitete Infos oder gar Booklets, wie sie andere Anbieter digital präsentieren, missen lässt, findet aber dennoch: "Reichweite, Visibilität, Benutzerfreundlichkeit - alles fein." In seinem Poptagebuch für den Rolling Stone grübelt Eric Pfeil über Pop und Bier.

Besprochen werden ein von Oksana Lyniv dirigiertes Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters in Berlin (Tsp), ein Auftritt von Arif Sağ und Kardeş Türküler (taz), Daniel de Visés Biografie über B.B. King (NZZ), der Auftakt des Rachmaninow-Zyklus des Tonhalle Orchesters Zürich (TA), ein Konzert der HR-Sinfoniker zum 100. Geburtstag von György Ligeti (FR) und ein von Yutaka Sado dirigierter Abend mit dem Berliner Konzerthausorchester (Tsp).
Archiv: Musik