Efeu - Die Kulturrundschau

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04.04.2023. Die FAZ nimmt in Berlin Platz in sowjetischen Smarthomes. Den "Schmerz der Schoah" spürt sie in Frankfurt in den Werken, die Samson Schames aus Schuhcreme, Rote-Bete-Saft und Kondensmilch schuf. "Die europäische Kultur hat sich seit Tausenden Jahren mit Antisemitismus vollgesogen", sagt der israelische Regisseur Avishai Milstein in der Welt. So geht Shakespeare heute, freut sich die nachtkritik über Jan Bosses genderfluiden "König Lear" in Hamburg. Und die SZ lässt sich von Angel Bat Dawids "Requiem for Jazz" nach allen Regeln der Kunst überfordern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.04.2023 finden Sie hier

Design

Modell des 'intelligenten Arbeitsraums' in Originalgröße, Teil der 'Heim-Informations-Maschine '(DIM), ausgestellt auf der Elektronik-Ausstellung, Moskau, Sowjetunion, 1971, Reprint, 2023, © Privatsammlung Wladimir Papernyj

Das Kunstgewerbemuseum Berlin wirft mit seiner Ausstellung "Retrotopia" einen Blick auf die Geschichte des sozialistischen Designs in den Ostblockländern. Die versammelten Objekte demonstrieren die in den Sechzigern und Siebzigern angeschobene Sehnsucht nach der Zukunft, nach "Smarthomes", schreibt Kevin Hanschke in der FAZ. "In der Sowjetunion wurden ab 1962 beispielsweise die kugelförmigen Staubsauger 'Saturnas' des litauischen Ingenieurs Vytautas Didžiulis hergestellt. Die blauen oder orangefarbenen Kugeln zeugen ebenso wie das Dickglas-Objekt 'Weltraumfantasie' von 1965 des Künstlers Algimantas Stoskus von der Kosmos-Verliebtheit dieser Epoche. Grafische Formen hängen von der Decke, bestückt mit Edelsteinen und Lavabrocken. In allen Teilen der Sowjetunion entstehen Designschulen, die eine Ästhetik des Weltraumzeitalters erschaffen."
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Literatur

Wolfgang Koeppens 1951 erschienener Roman "Tauben im Gras", um den sich wegen seiner drastischen Offenlegung der Mentalität der Nachkriegsdeutschen zuletzt eine ziemliche Kontroverse gebildet hat (unsere Resümees), soll im Schulunterricht komparativ mit Katharina Hackers 2007 erschienenen Roman "Die Habenichtse" und der darin festgehaltenen Darstellung der westlichen Gesellschaften nach 9/11 gelesen werden und "hätte es, so provokant er wirken mag, als vielstimmiges, auch ironisches Sprachkunstwerk verdient, auf diese Weise weiter ernst genommen zu werden", schreibt Jan Wiele in der FAZ. Matthias Niederberger berichtet in der NZZ von der 11. Eventi letterari auf dem Monte Verità, wo unter anderem Giuliano da Empoli und Kim de l'Horizon über ihre aktuellen Romane sprachen. Twitter staunt über das seit ihrem 14. Lebensjahr konsequent geführte Lesetagebuch der 94-jährigen Australierin Nada Rose, berichtet Christiane Lutz in der SZ.


Besprochen werden unter anderem Liv Strömquists Comic "Astrologie" (taz), Verena Keßlers "Eva" (Welt), Mina Havas "Für Seka" (Zeit), Gwendolyn Brooks' "Maud Martha" (SZ) und Abdulrazak Gurnahs "Nachleben" (FAZ).
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Kunst

Bild: Samson Schames, "Anzünden der Chanukka-Lichter", um 1956, Glasscherben, vielfarbig, im Relief geschichtet. Jüdisches Museum Frankfurt

Nur zwölf Werke von Samson Schames braucht die Ausstellung "Fragmente des Exils" im Frankfurter Jüdischen Museum, um FAZ-Kritikerin Carlota Brandis den "Schmerz der Schoa und die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs" vor Augen zu führen: "Schames gehörte zu den Künstlern der verschollenen Generation, die dennoch nicht aufhörten, Kunst zu schaffen. Gerade die Alternativlosigkeit der Internierung zwang Schames, die Flucht und das Exil in seine Kunst mit aufzunehmen: So wurden Schuhcreme, Rote-Bete-Saft und Kondensmilch seine Farbpalette, eigene Barthaare an einen Ast gebunden sein Pinsel. Diese Kunst aus der Mitte des Alltags und der Dürftigkeit scheint ihn inspiriert zu haben. Aus dem Lager entlassen, zurück in London, begann Schames Scherben, Porzellan, Holz und Nägel von Gebäudetrümmern einzusammeln, die vom 'Blitz'-Angriff der Wehrmacht zerbombt wurden. Aus dieser Zerstörung und dem resultierenden Schmerz heraus schuf er seine nächsten Kunstwerke, wie 'Die Träne', 'Die Dornenkrone' und 'Unbekanntes Opfer'."

Bild: Adam Pendleton: Untitled (Anthology), 2022. © Adam Pendleton, courtesy of the artist

Ganz klar wird Katharina Rustler im Standard nicht, worauf der amerikanische Künstler Adam Pendleton, dem das Wiener Mumok derzeit mit "Blackness, White, and Light" die erste große Soloschau in Europa ausrichtet, eigentlich hinaus will: "Grundlage für einen Großteil der Werke ist die 2008 entstandene Idee des 'Black Dada', die eine nie abgeschlossene Untersuchung der Beziehung zwischen Blackness, Abstraktion und Avantgarde darstellt. Das 2017 veröffentlichte Manifest des Konzeptkünstlers bringt europäische dadaistische Texte, die auf das Trauma des Ersten Weltkriegs Bezug nehmen, und Schriften aus dem Black Arts Movement zusammen, die auf rassistischer Gewalt der 1960er-Jahre basieren - und kombiniert sie."

Weiteres: Alistair Hudson folgt auf Peter Weibel als neuer wissenschaftlich-künstlerischer Vorstand am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, meldet der Tagesspiegel. Besprochen werden die Gerhard-Richter-Schau in der Neuen Nationalgalerie (ZeitOnline), die nun von dem Berliner Maler Thomas Lucker fertiggestellte 12. Version der im Krieg verschollenen "Auferstehung" in der Berliner Nikolaikirche (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Flashes of Memory - Fotografie im Holocaust" im Berliner Museum für Fotografie (taz).
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Bühne

Szene aus "König Lear". Foto: Armin Smailovic

"So geht Shakespeare im 21. Jahrhundert", jubelt Nachtkritiker Stefan Forth, nachdem er am Hamburger Thalia Theater in Jan Bosses Inszenierung einen genderfluid kostümierten König Lear, der Strukturen von Machtmissbrauch unabhängig von Geschlecht mit viel Glamour und Glitzer in Frage stellt, gesehen hat: "Mal schweben dutzende Glühbirnen von der Decke und sorgen für schummriges (Sternen-)Funzellicht, dann lässt im Moment der größten Katastrophe eine Armada weißer Tischtennisbälle an fette Hagelkörner einer Naturgewalt oder an brutal herausgerissene Augäpfel denken. Und die Discokugel taugt im Zweifel ebenso als Unterschlupf in einer unwirtlichen, stürmischen Nacht draußen auf der Heide wie als fulminantes Bild einer sinnbefreiten, kalten Erde." Leicht genervt von Bosses bedingungslosem Unterhaltungswillen hat Till Briegleb in der SZ zumindest an Wolfram Koch als Lear Freude. Auch wenn das Grenzen hat: "So brillant er die aufbrausende Naivität, die missglückende Staatsräson in der Disco, den nutzlosen Mann in ständiger Selbstüberschätzung spielt, so wenig erkennt man in ihm den gefährlichen Herrschertypus, der Gewaltpolitik aus persönlicher Kränkung forciert." In der FAZ lässt Irene Bazinger das Stück "seltsam kalt".

Avishai Milsteins "Die Friedensstifterin" am Staatstheater Kassel. Foto © Katrin Ribbe


Vergangene Woche wurde Avishai Milsteins Stück "Die Friedensstifterin" über eine deutsche Cellistin im Gaza-Streifen in der Inszenierung von Josua Rösing am Staatstheater Kassel uraufgeführt. Es ist ein Stück, das einen Kulturbetrieb aufs Korn nimmt, "der seine tiefsten Gefühle immer dann entdeckt, wenn es um Israel und die Juden geht", schreibt Jakob Hayner, der mit Milstein in der Welt auch über Antisemitismus und die Vorwürfe gegen Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel" (Unsere Resümees) gesprochen hat: "Das ist eine groteske Mode. Ich habe 'Vögel' drei Mal gesehen, in Deutschland und Österreich, das kam mir nicht wie ein antisemitisches Stück vor. Es ist ein Trend, den Antisemitismus in solchen Texten zu suchen und zu vergrößern. Das kann ich nicht ernst nehmen. Und es tut mir leid, dass Leute darauf hineinfallen." Dass die "Menschen in Deutschland antisemitisch denken", habe er schnell gelernt. "Die europäische Kultur hat sich seit Tausenden Jahren mit Antisemitismus vollgesogen. (...) Wenn ich hier leben will, muss ich mich mit dem Antisemitismus abfinden. Und ich weiß, dass eine antisemitische Bemerkung nicht die Gaskammer von Auschwitz ist."

Außerdem: Für die taz spricht Robert Matthies mit Branko Šimić, Leiter des Hamburger Krass-Festivals, das Leben von Rom*nja und Sinti*zze in Europa in den Mittelpunkt stellt. Berndt Schmidt bleibt bis 2029 Intendant im Friedrichstadt-Palast, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. In der FAZ denkt Boris Motzki darüber nach, weshalb Joseph Roths Romane so oft für das Theater adaptiert werden.

Besprochen werden Manuel Schmitts Inszenierungen von Benjamin Brittens Kirchenparabeln "The Prodigal Son" und "The Burning Fiery Furnace" in der Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot (FR), das Stück  "lil'pieces - Body Particles" der Lil'Luke Dance Company im Frankfurter Gallustheater (FR), Jessica Glauses Stück "Female Peace Palace" an den Münchner Kammerspiele (taz), Sergio Morabitos Inszenierung von Monteverdis "Il ritorno d'Ulisse in patria" an der Wiener Staatsoper (Standard), Laura N. Junghanns Inszenierung von Nava Ebrahimis "Die Cousinen" am Wiener Volkstheater (Standard), Ricky Simonds' und Simon Vaughans Berlusconi-Rockoper "I am the Jesus Christ of politics" im Southwark Playhouse Elephant in London (NZZ), Søren Nils Eichbergs Inszenierung von Margaret Atwoods "Oryx and Crake" am Staatstheater Wiesbaden (nmz), Romeo Castelluccis "Tannhäuser" bei den Osterfestspielen in Salzburg (nmz) und Ricardo Fernandos Inszenierung von Henry Purcells Shakespeare-Adaption "The Fairy Queen" am Staatstheater Augsburg (nmz).
Archiv: Bühne

Film

Besprochen werden die Netflix-Serie "Wellmania" (taz) und die auf MagentaTV gezeigte Serie "The Congregration" (Tsp).
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Stichwörter: Netflix

Musik

SZ-Kritiker Andrian Kreye sortiert Angel Bat Dawids neues Album "Requiem for Jazz" im Regal sofort neben jene anderen Werke der Jazzgeschichte ein, die ihr Publikum nach allen Regeln der Kunst überfordern. Die ganze Geschichte der Musikgattung plus die "afroamerikanische Musikgeschichte" packt Dawid in diese "heilige Messe", die zugleich einen "Schlüsselmoment der Gegenwart" darstellt: Bezugnehmend auf Edward O. Blands Film "The Cry of Jazz" aus dem Jazz-Umbruchjahr 1959 nimmt Dawid "den Faden der Geschichte an einem Punkt auf, an dem es wieder Debatten um die Rolle der Schwarzen in der Geschichte und des Jazz in der Kulturgeschichte gibt". Beide Werke "sind vernichtende Kritiken an Amerikas Gesellschaft." Daneben ist Sun Ra für Dawd ein zentraler Bezugspunkt, schreibt Maxi Broecking in der taz. Mit ihrem Mehrgenerationen-Ensemble, in dem sich gefühlt die ganze Chicagoer Jazzszene befindet, schafft es Dawid "die als römisch-katholische Liturgie konzipierte Suite in ein Gesamtkunstwerk aus sich kaleidoskopisch ineinanderschiebenden Fragmenten afroamerikanischer Musikkultur zu transformieren: Vom Introitus über das Kyrie eleison bis zum Lux aeterna. Sie selbst vergleicht ihre Kompositionspraxis mit Mozart: Die Partitur sei bereits fertig in ihrem Kopf und müsse nur noch aufgeschrieben werden." Mehr zum Album bei Pitchfork. Der WDR stellt die Musikerin und das Album in seiner Jazzsendung vor.



Axel Brüggemann berichtet in seinem Crescendo-Newsletter von seinem Trip nach London, wo ihm Apple seinen neuen Klassik-Streamingdienst vorstellte, der rein visuell wie für Apple typisch ziemlich stylish ist und auch mit hoher Klangqualität punkten kann. "An der Oberfläche sieht alles aus wie eine Kopie von Idagio, und Apples neues Klassik-Wohnzimmer könnte schnell zum Sarg für diesen Klassik-Streaming-Pionier werden. Außerdem zeigt Apple Music Classical, dass es in Zukunft auch eng für die Labels werden könnte. Berliner Philharmoniker oder Cleveland Orchestra produzieren schon lange selbst. Die Wiener Philharmoniker sind (neben den Berlinern und dem Concertgebouworkest) mit ihren Abo-Konzerten nun ebenfalls exklusiv bei Apple, auf dem Apple-Label Platoon. Streaming-Diensten ist es (anders als Labels) egal, was gestreamt wird, sie wollen nur, dass bei ihnen gestreamt wird. Umso erstaunlicher, dass die Deutsche Grammophon den neuen Apple-Service aktiv promotet (obwohl man sich gerade selber an einer Streaming-Plattform versucht hat)."

Die Feuilletons reichen die Nachrufe auf Ryuichi Sakamoto nach, dessen Todesmeldung am späten Sonntagnachmittag wohl nach Redaktionsschluss kam. Als "Spezialist für ruhig dahinfließende Sounds" sieht ihn NZZ-Kritiker Christoph Wagner. Albert Koch verneigt sich auf ZeitOnline vor einem "unermüdlichen Klangforscher", der bereits auf seinem ersten, 1978 veröffentlichten Solo-Album "jenes grenzenlose Musikverständnis bereits" andeutete, "das sein Werk in den kommenden Jahrzehnten bestimmen würde. Synth-Pop-Tracks standen neben Entwürfen von musique concrète, zeitgenössische klassische Musik stand neben elektronischen Experimenten." Sein "ästhetisches Verfahren ist das einer Amalgamation gewesen", hält Wolfgang Sandner in der FAZ fest. Auch Daniel Kothenschulte verneigt sich in der FR vor Sakamotos stilistischer Bandbreite. In dieser Aufnahme aus dem Jahr 1988 spielt er das Thema aus seinem Soundtrack zu Bertoluccis "Der letzte Kaiser":



Weitere Artikel: Spanisch wird immer mehr zur kommerziell tragfähigsten Sprache der Popmusik, stellt Lena Karger in der Welt fest. Michael Ernst porträtiert in der FAZ die ukrainische Dirigentin Nataliia Stets, die im Richard-Wagner-Haus Graupa Unterschlupf vor dem Krieg fand. Jakob Biazza schreibt in der SZ zum Tod des Musikmanagers Seymour Stein, der die Ramones, die Talking Heads und Madonna groß gemacht hat. Karl Fluch erinnert im Standard an das vor 40 Jahren veröffentlichte Debütalbum der Violent Femmes.

Besprochen werden zwei von Iván Fischer und Andrés Orozco-Estrada dirigierte Konzerte beim Mendelssohn-Fest in Luzern (NZZ), eine von Franz Welser-Möst dirigierte Aufführung von Bachs "Matthäus-Passion" durch die Wiener Philharmoniker (Standard), ein Beethoven-Konzert der Berliner Staatskapelle unter Jérémie Rhorer (Tsp), ein Auftritt von Badmómzjay in Berlin (Tsp), ein Konzert von Marc Almond (Presse) und das Ballett-Album "Mythologies" des früheren Daft-Punk-Musikers Thomas Bangalter, das FAS-Kritiker Thomas Lindemann ob seines Versatzstück-Charakters ziemlich stöhnen lässt.

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