Efeu - Die Kulturrundschau

Zündvorrichtung für Seelisches

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2023. Zeit und FAZ feiern Makoto Shinkais Anime-Hit "Suzume" für sein Licht, die Melancholie und tiefenlaunische Requisiten. SZ und Tagesspiegel schwelgen in Emily Atefs Wendeliebesdrama "Irgendwann werden wir uns alles erzählen". Die NZZ bejubelt Benjamin Bernheim und Julie Fuchs als Operntraumpaar in Gounods "Roméo et Juliette". Der Guardian umkreist mit Steve McQueen die Brandruine des Grenfell Towers. Die SZ fühlt sich mit dem neuen Metallica-Album wie in einem Schuppen liebeskranker Biker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2023 finden Sie hier

Film

Rettet mit belebtem Stuhl die Welt: Suzume

Makoto Shinkais neuer Animationsfilm "Suzume" begeistert mit Jens Balzer und Dietmar Dath die beiden Anime-Spezialisten der Feuilletons. Die Geschichte um ein junges Mädchen, das sich gemeinsam mit einem belebten Stuhl daran macht, die Welt vor dem Untergang zu retten, schafft auch Raum für melancholische Zwischentöne, denn "Shinkai ist ein Meister des Lichts", schreibt Balzer in der Zeit, "wie kein anderer Zeichentrickfilmer der Gegenwart vermag er seinen Bildern mit Farben und Schatten eine Aura des Lebens zu stiften - und eine Aura des Todes. Wie kein anderer malt er Welten im Niedergang, der entschwindenden Erinnerung, der entweichenden Kraft; und dann bringt er seine Panoramen plötzlich zum Beben: mit den Erschütterungen einer berstenden Erde, aber auch mit den Zeichen einer erwachenden Zukunft." Shinkai löst sich mit diesem Film zusehends davon, die eigene Erfolgsformel (wie er es nach dem Hit "Your Name" mit "Weathering with You" getan hatte) einfach erneut umzusetzen, schreibt Dath in der FAZ. "Technik ist Shinkai stets Zündvorrichtung für Seelisches", führt er außerdem aus. Bei dem japanischen Filmemacher "werden selbst Requisiten tiefenlaunisch, seine Fahrräder etwa, die von vorn zu Strichen zusammengedrückt scheinen und dennoch Masse, Gewicht, Geltung haben."

Sexualität zwischen weiblicher Selbstbestimmung und Bemächtigung: Emily Atefs "Irgendwann werden wir uns alles erzählen"

Emily Atef bringt mit "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" Daniela Kriens gleichnamigen Wenderoman auf die Leinwand: Im brütenden Sommer 1990 geht es im thüringischen Grenzland um eine Amour Fou zwischen einer jungen Frau und einem deutlich älteren Bauer. "Weil Atef die Geschichte fast gänzlich aus Marias Perspektive erzählt, bleibt ein wichtiger Aspekt von Kriens Geschichte erhalten", schreibt Kathleen Hildebrand in der SZ: "Dass auch eine sehr junge Frau eine selbstbestimmte Sexualität haben kann. Dass nicht jeder Sex zwischen einer jungen Frau und einem deutlich älteren Mann von vornherein missbräuchlich ist. ... Die nervöse Spannung zwischen den beiden rührt dann auch weniger von dem Altersunterschied her als vielmehr von einer flirrenden Uneindeutigkeit in ihrer Beziehung - über der stets die schwierige, zugleich lustvolle und angsterfüllte Annäherung zwischen Ost und West steht: Verlieben sich da zwei gegen alle Vernunft und wollen zusammen sein? Oder testen sie nur die Grenzen des anderen aus?"

Kerstin Decker lobt den Film im Tagesspiegel "für seinen abwesenden Erklärungsdrang": Die Regisseurin "macht Filme aus Atmosphären". Die Sexualität des Bauern "ist hart, sie ist Angriff, Bemächtigung, nichts weiter. Und dem liefert sich diese sensible junge Frau aus? Regisseurin und Darsteller wagen eine - gelingende - Gratwanderung, denn das sind beileibe keine kinoalltäglichen Beischlafszenen; und der Zuschauer ist kaum gestimmt, sich unversehens in einer Studie über sexuelle Hörigkeit wiederzufinden. Dazu ist das, was sonst noch geschieht, viel zu wesentlich." FAS-Kritiker Peter Körte hingegen ist ratlos - und dies vor allem über sich selbst, was den schwelgenden Tonfall des Films betrifft: "Einer schwärmerischen 17-Jährigen mögen lyrisches und reales Ich ganz von selbst verschmelzen; beim Zusehen geht das nahtlos in Kitsch über. Es ist auch nicht zwingend oder stilsicher, wenn auf die großen Gefühle ständig Bilder weiter Himmel folgen, mit dramatischen Wolken und starken Farben, oder Ähren im Wind in Großaufnahme. Als Metapher für Seelenlandschaften ist das ziemlich verbraucht. ... Und dennoch verfehlt dieses konventionelle Aufgebot erzählerischer Mittel seine Wirkung nicht. Warum das so ist, bleibt ungleich interessanter als die Frage, wie der Film denn nun ist."

Außerdem: Hanns-Georg Rodek spricht in der Welt mit Tarik Saleh, dem Regisseur des Thrillers "Die Kairo-Verschwörung". Marian Wilhelm wirft für den Standard einen Blick ins Programm des Wiener Pornfilmfestivals.

Besprochen werden Michael Biedowiczs beim Filmfestival "Achtung Berlin" gezeigte Doku "Alles anders machen" über die Ost-taz, die 1990 drei Monate lang erschien (Tsp), Ben Afflecks "Air" (NZZ, unsere Kritik), Lars Kraumes "Der vermessene Mensch" (NZZ), die Netflix-Serie "Transatlantic" (taz), die dritte Episode der letzten Staffel der HBO-Serie "Succession" (TA), die auf AppleTV+ gezeigte Serie "Extrapolation" über den Kampf gegen den Klimawandel (TA), Léa Mysius' "The Five Devils" (SZ) und Elizabeth Banks' Groteske "Cocaine Bear" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Benjamin Bernheim und Julie Fuchs in Gounods "Roméo et Juliett" in Zürich. Foto: Herwig Prammer

Als wahres Operntraumpaar feiert NZZ-Kritiker Christian Wildhagen Benjamin Bernheim und Julie Fuchs in Gounods Shakespeare-Oper "Roméo et Juliette" in Zürich, die in Ted Huffmans Inszenierung ganz auf die Liebenden abzielt und die sozialen Konflikte in den Hintergrund rücken lasse. Dabei brauchen Bernheim und Fuchs eine Zeit, um zueinanderzufinden, wie Wildhagen bemerkt, Opernprofis seien eben Einzelkämpfer: "Und dann kommt es zu jenem Moment, nach dem nichts mehr so ist wie zuvor: Romeo und Julia sind sich am Rande eines Balls begegnet, flüchtig, wie immer, aus Angst vor Entdeckung - 'Adieu mille fois!', singt sie aus der Tiefe der Bühne, ganz hinten rechts an einer Tür; er aber steht vorne links an der Rampe und schickt ihr mit seinem Ruf 'Repose en paix! Sommeille!' einen Liebesgruß hinterher, der uns das Schicksalhafte dieser Beziehung schlagartig begreifen lässt. Ja, man meint sogar, die unsichtbaren Funken zu sehen, die in diesem Augenblick einmal quer über die gesamte Bühne sprühen... Wo immer sie singen, glüht und blüht die Musik""

Weiteres: In der FAZ schreibt Wiebke Wüster voller Verehrung für den verstorbenen Choreografen und Pariser Ballettdirektor Pierre Lacotte, der sogar die Literatur in Tanz verwandeln konnte und nur an Stendhals "Rot und Schwarz scheiterte.

Besprochen werden die Wiederaufnahme von Kirill Serebrennikows "Parsifal" an der Wiener Staatsoper (Standard), die Uraufführung von Christian Josts Oper "Voyage vers l'Espoir" in Genf (NMZ) und Barrie Koskys Memoiren "Und Vorhang auf!" (Welt).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit Meir Shalev "verliert Israel einen seiner angesehensten Schriftsteller, zudem in Zeiten innerer Zerrissenheit, der die Besonnenheit und der Witz dieses Autors gutgetan hätten", schreibt Andreas Platthaus in der FAZ zum Tod des Autors. Hans-Peter Kunisch holt für die SZ die Geschichten des ukrainischen Schriftstellers Meir Blinkin, dem Urgroßvater des heutigen US-Außenministers Antony Blinken, aus dem Regal. Eine Highschool in Florida hat nach Druck einer konservativen Aktivistengruppe Ari Folmans Comicbearbeitung der Tagebücher von Anne Frank aus der Schulbibliothek genommen, weil das Buch angeblich den Holocaust verharmlose, meldet Martina Knoben in der SZ.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Nachleben" (online nachgereicht von der FAZ), Riku Ondas "Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen" (FR), Leander Fischers "Die Doppelgänger" (Standard) und eine Box mit Prosa, Gedichten und Erzählungen von Tarjei Vesaas (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Filmstill aus Steve McQueens "Grenfell". 

Die Londoner Serpentine Gallery zeigt Steve McQueens Film "Grenfell", in dem der britische Filmkünstler die Ruine jenes von den Behörden vernachlässigten Hochhauses verewigt, in dem 72 Menschen zu Tode kamen, als es in nur wenigen Augenblicken wie eine Fackel abbrannte. Im Observer hält Laura Cumming den Atem an: "Die Bewegung ist schwindelerregend und wird in Paul Gilroys grandios pamphletistischem Begleittext ganz richtig als Wirbel beschrieben. Aber Bewegung ist alles, was McQueen bietet. Er versucht nicht, mehr zu sehen, als man sehen kann, oder ein Requiem für die Toten zu schaffen. Sein Film ist ein Ritus der reinen Beobachtung in Form einer langen Filminstallation. Ein Zug fährt in einen nahe gelegenen Bahnhof ein. Die Kamera kreist weiter. Ein einsamer Vogel fliegt vorbei. Die Wiederholung ertappt sich selbst und stellt die Fähigkeit auf die Probe, weiter und weiter zu beobachten. Wie wird es enden, dieses Zeugnis?"

Besprochen werden eine Ausstellungen mit Druckgrafiken von "Dürer, Munch, Miró" in der Albertina in Wien (FAZ) sowie die Soloausstellung des Australiers Daniel Boyd und die Gruppenschau "Indigo Waves" im Berliner Gropiusbau (Monopol).
Archiv: Kunst

Musik

Auf dem neuen Metallica-Album "72 Seasons" gibt sich Sänger und Gitarrist James Hetfield mal wieder als energischer Schmerzensmann vom Dienst, schreibt Joachim Hentschel in der SZ: "Früher erzählten Heavy-Metal-Stücke vor allem über das Schächten von Kampfgegnern, das Glück des unerwarteten Oralverkehrs und ab und zu davon, dass der verdammte Rock 'n' Roll der König der Welt sei. Metallica aber singen heute so, wie damals maximal Psychotherapeuten sprachen." Dieses Album bietet "deutlich mehr Stampf-Metal in mittlerem Tempo als Thrash-Blitzregen. Die Platte walzt mehr, als dass sie splittert. An einigen Stellen singen Hetfield und Bassist Robert Trujillo in Doppelharmonien, als müssten sie einen Schuppen liebeskranker Biker bei Laune halten. Und ja, es wird zwischendurch reichlich monoton. Wenn es um die Frage geht, was die Band Metallica mit dem ganzen Klang-, Groll- und Wah-Wah-Material anfangen soll, das in ihrem großen Griesbreitopf vor sich hin blubbert, setzt sie heute mehr auf Hypnose und Beschwörung." Wir hören rein:



Außerdem: Sabine Paries porträtiert für die FAZ den früheren Deutschrapper Ben Salomo, der aus Protest gegen Antisemitismus im Deutschrap seine Karriere an den Nagel gehängt hat und nun vor Schülern auftritt. Die Stuttgarter Band Trigger Cut wurde wegen undurchsichtiger Brexit-Regelungen an der britischen Grenze abgewiesen und musste daher ihre Tour in Großbritannien absagen, meldet Alexander Menden in der SZ.  Christian Schachinger verabschiedet sich im Standard von Fettes Brot.

Besprochen werden Händel- und Strauss-Konzerte der Berliner Philharmoniker bei den Osterfestspielen Baden-Baden (FAZ), Niels Freverts neues Album "Pseudopoesie" (FAZ) und das neue Algiers-Album "Shook" (FR).
Archiv: Musik