Efeu - Die Kulturrundschau

B-Waren-Wörter

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17.04.2023. Auf ZeitOnline blickt der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr betrübt auf den ein zweites Mal, nun von der KI totgeschlagenen Autor. Rassistische Begriffe aus alten Romanen zu streichen, hält die NZZ für antiaufklärerisch. Die SZ feiert den schwarzen Humor der ukrainischen Dramatikerin Natalia Vorozhby. Die taz entdeckt den Optimismus in Eli Singalovskis Bildern des brutalistischen Beershevas. Außerdem stellt sie den Verband der iranischen Komponistinnen vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Wir machen uns noch gar keinen Begriff davon, wie tiefgreifend sprachgenerative Verfahren durch künstliche Intelligenz unser Verständnis von Sprache und unseren Umgang damit ändern wird, sagt der Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr im ZeitOnline-Gespräch: "Was wir im Augenblick erleben, ist absolut neu und durch keine Theorie zu erklären, die wir schon haben. ... Unser lebensweltliches Verständnis von Text wird sich in Zukunft fundamental verändern. Denn schon heute ist eine Situation eingetreten, in der ich mir nicht mehr sicher sein kann, ob der Autor ein Mensch oder eine Maschine ist. Wir haben es mit postartifiziellen Texten zu tun, wie ich das nenne. Es ist ab diesem Punkt schlicht nicht mehr beweisbar, was natürlicher, menschlicher Text ist und was artifizieller, maschinengenerierter Text. Und wenn der Zweifel an der Herkunft erst mal eingetreten ist, lässt er sich nicht mehr abschaffen. In der Literaturwissenschaft spricht man seit dem französischen Poststrukturalismus vom 'Tod des Autors'. Nun scheint es, als sei der Autor ein zweites Mal totgeschlagen worden, diesmal durch die KI." In einem Radioessay für den Dlf führt Bajohr seine Gedanken weiter aus.

Dazu passend fragt sich Michael Moorstedt in der SZ, ob der Vorrat an Wort- und Sprachquellen für K.I.-Systeme irgendwann zur Neige gehen wird: Irgendwann ist schließlich auch der letzte Bernhard-Roman ausgelesen, um entsprechende Twitter-Bots zu füttern. "Was passiert nun, wenn die KIs zunächst auf die B-Waren-Wörter losgelassen werden? Würde die vermeintliche Maschinenmagie in faulen Zauber umschlagen? Denn wie so oft gilt auch hier: Die Qualität des Outputs ist bedingt durch die des Inputs. Und dann? Könnte man künftige KIs auch mit Inhalten trainieren, die selbst wiederum von KIs erstellt wurden? Oder schafft man damit eine Rückkopplungsschleife des schlechten Geschmacks und fragwürdigen Stils?"

Roman Bucheli hält in der NZZ nichts davon, Wörter wie das N-Wort nachträglich aus Jahrzehnten alten Roman zu streichen. Denn nicht immer sei dessen Gebrauch rassistisch - anderenfalls wäre es eh eine Sache für den Staatsanwalt. Aber "es stellt einen schwerwiegenden Eingriff dar, wenn Texte postum korrigiert werden, weil sich Redeweisen in fünfzig und mehr Jahren verändert haben. Es äußert sich darin ein fundamentales Missverständnis dessen, was Literatur leisten kann. Texte sind Erkenntnisinstrumente, sie sind wie Fernrohre oder Mikroskope. Sie holen Entlegenes heran und bringen Unsichtbares zur Kenntlichkeit. Werden sie nachträglich umgeschrieben, wird nicht bloß ein inkriminiertes Wort eliminiert. Es wird auch das Gedächtnis an jene Denkweisen ausgelöscht, für die das Wort gerade Zeugnis ablegen könnte und müsste. Denn das ist ein Teil des aufklärerischen Impetus der Literatur, dass sie, sei es willentlich, sei es unwissentlich, davon ein Bild vermittelt, wie einmal gesprochen, gedacht oder gehandelt worden ist."

Außerdem: In der FAS widmet sich der Literaturwissenschaftler Andrii Portnov der Geschichte der Geringschätzung der ukrainischen Sprache in der osteuropäischen Literatur: Immer wieder zeigt sich ihm dabei, "dass die russische Literatur eine Reihe etablierter Stereotypen über die Ukraine enthält und reproduziert, deren Kern die Verweigerung der vollen kulturellen und politischen Handlungskompetenz der Ukraine ist". Dlf Kultur spricht mit den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse. Für die Berliner Zeitung spricht Arkadiusz Łuba mit Dorota Maslowska, die sich für ihr Buch "Bowie in Warschau" von David Bowies Besuch in der polnischen Hauptstadt 1973 inspirieren ließ und dabei von der Idee geleitet war, "in die gefälschte, didaktische Sprache der polnischen Popkultur der 70er-Jahre einzutauchen". Im Standard-Gespräch kurz vor der Leipziger Buchmesse, wo Österreich Gastland sein wird, denkt die Literaturjournalistin Katja Gasser darüber nach, was Deutsche an österreichischer Literatur fasziniert,und wünscht sich, dass der Bernhardismus - literarisch gedrechselter Hass aufs eigene Land - künftig etwas nachlässt. Krimi-Experte Joachim Feldmann durchleuchtet für den Freitag aktuelle Kriminalromane dahingehend, wie sie ihre Schurken in Szene setzen. In der FAZ gratuliert Niklas Bender dem Schriftsteller Pierre Assouline zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Leonardo Sciascias "Die Affäre Moro" (Freitag, unsere Kritik), Dinçer Güçyeters "Unser Deutschlandmärchen" (Standard), Bücher von Alexander Kluge und Marcel Beyer über den Krieg in der Ukraine (FAS), Mathias Énards "Der perfekte Schuss" (NZZ), Maria Stepanovas "Winterpoem 20/21" (NZZ), Peter Roseis autobiografisches Erinnerungsbuch "Das wunderbare Leben" (Standard), die von Katharina Raabe und Kateryna Mishchenko herausgegebene Anthologie "Aus dem Nebel des Krieges" über die Gegenwart der Ukraine (Tsp), Zoran Drvenkars Kinderbuch "Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück" (online nachgereicht von der FAZ), Arnold Stadlers "Irgendwo. Aber am Meer" (FR), Uwe Neumahrs "Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '45. Treffen am Abgrund" (Standard) und neue Hörspiele, darunter Friedrich Anis bei Audible veröffentlichtes Krimi-Hörspiel "Wenn der Mordmann kommt" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Eustache Deschamps' "Ballade":

"Ich gehe immer krümmer und gebückt,
Ich hör kaum mehr, mein Leben schwindet,
Die Haare fallen aus, was mich bedrückt ..."
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Bühne

"Green Corridors" an den Mänchner Kammerspielen. Foto: Armin Smailovic

Völlig überwältigt ist SZ-Kritiker Egbert Tholl von Jan-Christoph Gockels Inszenerung "Green Corridors" an den Münchner Kammerspielen. Das Stück der mit abgrundtief schwarzem Humor gesegneten Dramatikerin Natalia Vorozhby erzählt von drei Ukrainerinnen, die dem Grauen des Krieges nach Deutschland entkommen sind und hier eine Schauspielerin totprügeln, die nichts erlebt hat, alles spielen kann und sich was auf ihr kospmopolitisches Leben einbildet: "Svetlana Belesova spielt fabelhaft, ihre drei Kolleginnen aus der Ukraine sind fabelhaft. Erst sprechen sie vor allem Ukrainisch (mit Übertiteln), dann immer mehr Deutsch, sie kommen an am Fluchtpunkt. Wo Johanna Eiworth auf sie lauert, als Gutmenscheneuropäerin aller Art, immer hysterisch, immer laut - die Ukrainerinnen spielen sie an die Wand. Dann setzen alle Mittel aus. Tanya Kargaeva erzählt, was der Nageldesignerin widerfuhr. Erzählt, wie sie tagelang vergewaltigt wurde. 'Sie wollen jetzt keine Details hören ... oder doch?' Man hört sie." Auch in der Nachtkritik schwärmt Martin Jost: "So etwas hat München noch nicht gesehen."

Weiteres: Ausgesprochen positiv bilanziert Reinhard Kager in der FAZ die Intendanz von Nora Schmid und Roland Kluttig am Grazer Opernhaus. Schmid wechselt an die Semperoper nach Dresden. Lilo Weber stellt in der NZZ Cathy Marston vor, die ab der nächsten Spielzeit Direktorin des Zürcher Balletts wird.

Besprochen werden Timofej Kuljabins "Macbeth"-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt (FR, FAZ), "Der Raub der Sabinerinnen" als Schwank mit Birgit Minichmayr im Wiener Akademietheater (Nachtkritik, SZ, Standard), Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" am Theater Koblenz (Nachtkritik) und Tennessee Williams' "Suddenly Last Summer" im English Theatre Frankfurt (FR).
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Kunst

Eli Singalovski: Dubiner, 2015. Bild: Stadtmuseum München

Das Stadtmuseum München zeigt in der Ausstellung "Sunbreakers" Eli Singalovskis Fotografien von brutalistischen Bauten in der israelischen Wüstenstadt Beersheva, und taz-Kritiker Chris Schenke schult dabei die ruppige Seite seiner Ästhetik: "Man solle die größtenteils bei Nacht entstandenen Aufnahmen unvoreingenommen betrachten. Die lange Belichtungszeit lässt die abgebildeten Bauten unwirklich erträumt erscheinen. Die brutalistische Architektur in Be'er Sheva erzählt von einer Zeit, in der ein optimistisches Zukunftsbild herrschte. Singalovskis hochaufgelöste Digitalbilder deuten aber auch eine mögliche Kritik an. In der detailreichen Aufnahme eines langgezogenen Sozialbaus zeigt sich, wie die Bewohner aus der Einförmigkeit der Megastruktur auszubrechen versuchen. Individuelle Erweiterungen und Anpassungen überwuchern hier die Klarheit der Architektur. Wer genau hinsieht, dem erzählen Singalovskis Bilder also auch eine mögliche Geschichte von morgen."

Besprochen werden die Ausstellung "Nebel des Krieges" mit Arbeiten kasachischer und aserbaidschanischer KünstlerInnen zu staatlicher Gewalt und Unterdrückung in verschiedenen Goethe-Instituten (FAZ), Steve McQueens Dokumentarfilm "Grenfell" über die verheerende Brandkatastrophe von 2017 in der Londoner Serpentine Gallery (taz) sowie die Schau "Nachtwach Berlin" von Fotograf Ingo von Aaren und Schriftsteller David Wagner im Haus am Kleistpark (Tsp).
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Film

Die Soziologie der Körpersprache: "The Good Mothers" auf Disney+

Tazler Ambros Waibel ist hin und weg von der auf Disney+ gezeigten Mafiaserie "The Good Mothers", die auch schon auf der Berlinale ausgezeichnet wurde: "Die Tristesse eines zentralen Ortes der 'Ndrangheta wie dem in der Ebene von Gioia Tauro gelegenen Rosarno, die Geducktheit der Menschen und die Brutalität, der Hass auf die Frauen und der Rassismus des mafiösen Milieus" wurden seiner Ansicht nach noch nie "so eindrücklich und realistisch" gezeigt. Zu erleben "ist ein großes Kunstwerk". Insbesondere die Schauspielerinnen Valentina Bellè, Micaela Ramazzotti, Gaia Girace und Simona Distefano "spielen in einer anderen Liga der Intensität, der soziologischen Recherche der Körpersprache".

Besprochen werden Makoto Shinkais Animationsfilm "Suzume" (Standard, unsere Kritik), die neue Staffel von "The Marvelous Mrs. Maisel" (Welt), Anna Wingers Netflix-Serie "Transatlantic" (Tsp) und Elizabeth Banks' Trashfilm "Cocaine Bear" (online nachgereicht von der FAZ, NZZ, unsere Kritik).
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Musik

Anna Schors stellt in der taz die Arbeit des 2017 im Exil gegründeten Verbands der iranischen Komponistinnen (IFCA) vor, in der sich iranische Musikerinnen in der Diaspora vernetzen. Für sie ist der Verband "ein Zuhause in der Fremde und in der fremd gewordenen Heimat ein Anker der Hoffnung. Komponistin und Pianistin Homa Samiei schreibt auf Instagram: 'When I think about IFCA, Two words come to mind: 'Hope '&' Home'.' Mittlerweile hat der Verein über 70 Mitglieder, auf der ganzen Welt verstreut. ... Während daheim ultrakonservative Mullahs die Deutungshoheit iranischer Kulturgeschichte beanspruchen, sind es in Wahrheit die Musikerinnen der IFCA, die inmitten der Diaspora die Kulturschätze ihres Landes hüten. Scrollt man auf der Facebook-Seite des Vereins an den selbstbewusst strahlenden Gesichtern seiner Mitglieder entlang, fällt auf, wie jung sie sind - die Mehrzahl zwischen 20 und 40." Ebenfalls im Verband organisiert ist Aida Shirazi. Deren Stück "Shadows" wird am 1. Mai in der Kölner Philharmonie bei freiem Eintritt aufgeführt.

Auf ZeitOnline porträtiert Julia Lorenz die kanadische Indiemusikerin Feist, der es gut getan hat, "ihren signature sound von allem allzu Niedlichen zu befreien. In den Zehnerjahren glich ihre Musik einer biegsamen Pflanze, die langsam verholzt und wetterfest wird. Der Sound wurde schroffer, karger. Heute ist Feist eine Art Elder Stateswoman der Independentmusik, eine über alle Zweifel erhabene Heldin der älteren Millennials, die womöglich nur noch zirka anderthalb popkulturelle Zeitenwenden davon entfernt ist, von einer neuen Generation als Retrophänomen entdeckt zu werden." Gerade ist ihr Album "Multitudes" erschienen:



Besprochen werden der Berliner Auftritt von Patti Smith mit dem Soundwalk Collective (Tsp) sowie ein Konzert von Brad Mehldau und Ian Bostridge in Wien (Standard).
Archiv: Musik