Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2023. Das Berliner Museum der Moderne soll grüner werden, hat Claudia Roth entschieden. FR und Tagesspiegel freuen sich über den ökologischen Coup, die FAZ  spricht von einer architektonischen Amputation. In der taz fragt Mathias Greffrath die Gegner von Wolfgang Koeppen: Wie kann Rassismus gedanklich durchdrungen werden, wenn seine Darstellung tabuisiert wird? Die FAZ erlebt in Prag die körperliche Wucht der Bohème. Die Kritiker feiern Christian Petzolds Rohmer-haften Sommerfilm "Roter Himmel".  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2023 finden Sie hier

Architektur

Im grünen Band der Sympathie: Das Museum der Moderne. Rendering: Herzg und de Meuron

Großes Hallo in der Hauptstadt. Das Museum des 20. Jahrhunderts, das von allen nur noch Museum der Moderne genannt wird, wird neu geplant, gestern präsentierte Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Pläne, das Kulturforum zu begrünen, die Sigismundstraße für den Verkehr zu schließen und den Bau deutlich ökologischer zu gestalten. Im Tagesspiegel mag es Rüdiger Schaper kaum glauben: "Mit 460 Millionen Euro geschätzten Gesamtkosten soll das Riesending im Rahmen bleiben. Für die Umplanung würden gerade einmal zehn Millionen Euro extra fällig. Sind wir noch in Berlin?" In der FR kommentiert Harry Nutt gutmütig: "Wer es bemerken wollte, konnte in der gewohnt Roth'schen Begeisterung eine straßenkämpferische Annahme der baupolitischen Herausforderung erkennen. 'Das ist unser Haus' zitierte sie einen frühen Song ihres einstigen Schützlings Rio Reiser... Einer der Architekten, Jacques Herzog, verlor keine Zeit, den weitgehend vom Tisch gefegten ersten Entwurf zu verteidigen. Einem Architekten müsse man die Idee der Nachhaltigkeit nicht eigens beibringen. Alles soll grüner werden. Die Ausdehnung des angrenzenden Tiergartens in das Kulturforum hinein sei immer die Idee für das Haus gewesen, so Herzog." Jörg Häntzschel schreibt in der SZ Museumsdirektor Klaus Biesenbach die Vision des Museumsgartens zu. In der FAZ ist Andreas Kilb entsetzt angesichts der neuen "umfassenden Verpanzerung des Gebäudes": Die Schiebetore fliegen raus, ebenso die transparenten Dachziegel. "Die ästhetischen Verluste der energetischen Nachbesserung reden sich die Verantwortlichen mit einem Begrünungsprogramm schön, das Züge von Kulissenschieberei hat", schreibt er. In der Welt möchte Swantje Karich lieber nicht lernen, ständig auf den Stromzähler zu starren.
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Literatur

Ja, Wolfgang Koeppens zuletzt sehr in die Kritik geratener Roman "Tauben im Gras" ist tatsächlich "eine Zumutung", findet Mathias Greffrath, Mitglied der Wolfgang-Koeppen-Stiftung, in der taz: Der Roman entfaltet ein Panorama der Trostlosigkeit und gesellschaftlichen Verrottung der deutschen Nachkriegsgesellschaft - und das "mit seiner aus der Wirklichkeit jener Jahre destillierten und deshalb mit antisemitischen Klischees und jeder Menge N-Wörtern durchsetzten Sprache". Zwar könne er, Graffrath, "schlecht argumentieren gegen jemanden, der verletzt ist. Ich muss das respektieren. Aber ich frage mich, ob diese Sensibilität nicht auch eine Verarmung nach sich zieht: den Verzicht auch der Verletzten, sich über die Empfindung hinaus auf eine durchwachsene Realität einzulassen und die Gründe für unakzeptable Haltungen zu durchdringen. Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierung dürfen nicht geduldet werden - aber wie soll das gelingen, wenn schon ihre Darstellungen tabuisiert werden."

So sieht es auch der Schriftsteller Peter Prange im Freitag, der 2021 in seinem Roman "Der Traumpalast" die Zeit vor 100 Jahren darzustellen versuchte, dabei auch auf einschlägige Begriffe zurückgriff. Prompt kam ein Anruf vom Lektorat, das um einen Disclaimer bat, den er allerdings ablehnte. Er rekonstruiere "die uns bis heute prägenden Ereignissen der Vergangenheit nicht aus der Besserwisser-Perspektive von uns Nachgeborenen, die wir den Fortgang der historischen Entwicklung in der Rückschau einigermaßen wohlsortiert vor Augen haben, vielmehr versuche ich, diese aus dem Dunkel des gelebten Augenblicks, aus der Perspektive der in der jeweiligen Epoche beheimateten und befangenen Zeitgenossen zu erzählen und gedanklich wie emotional nachzuvollziehen, um mit den Mitteln der Fiktion eine Vorstellung zu gewinnen, warum die historische Geschichte sich an und mit und durch unsere Vorfahren so entwickeln konnte, wie sie sich entwickelt hat."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Dilek Güngör geht in der "10 nach 8"-Reihe von ZeitOnline ins Gespräch mit ihrer inneren Stimme. Außerdem plaudert ZeitOnline - leider hinter einer Paywall - mit der großartigen Fran Lebowitz.

Besprochen werden Nico Bleutges Gedichtband "schlafbaum-variationen" (taz), Fabio Andinas "Davonkommen" (NZZ), Tom Gaulds Cartoonsammlung "Die Rache der Bücher" (SZ) und Zoran Ferićs "Die Wanderbühne" (FAZ).

Und: Hier haben wir für Sie die acht für den Deutschen Sachbuchpreis nominierten Bücher bequem zum Bestellen zusammengestellt.
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Film

Locker machen, der Wald brennt: "Roter Himmel" von Christian Petzold

Die Filmkritik feiert Christian Petzolds "Roter Himmel", in dem ein verschroben-verkniffener Schriftsteller in der Sommerfrische an der Ostseeküste (unter den Eindrücken eines nahenden Waldbrandes) lernt, dass er sich auch mal locker machen muss. Thomas Schubert spielt ihn, ein Neuzugang in der Petzold-Factory und eine Entdeckung, findet Susan Vahabzadeh in der SZ: "Es ist ein schöner Balanceakt, den er hier hinbekommt - er nervt, aber nie so sehr, dass man nicht mehr wissen wollen würde, wie er denn nun aus dieser Geschichte herauskommt. Wie ein tapsiger Welpe, der Porzellan zerschlägt." Der Film selbst "ist wunderbar leichtfüßig erzählt, kaum ein anderer deutscher Filmemacher kann so genau seine Figuren zeichnen, mit seinen Bildern so präzise Emotionen schaffen wie Christian Petzold".

Ein Film "wie eine Komödie nach Eric Rohmer", schreibt Gunda Bartels im Tagesspiegel: "Der Wind am Strand, das Sirren der Mücken und Summen der Fliegen: 'Roter Himmel' ist auch eine Sinfonie der Sommerklänge. Und ein Kaleidoskop aus verstohlenen Fensterblicken (Kamera: Hans Fromm), mit denen Leon die Unbeschwerten beargwöhnt, die nicht unter dem Druck stehen, sich als Schriftsteller beweisen zu müssen." Dlf Kultur hat ausführlich mit Petzold gesprochen. Auch die englischsprachige Filmpresse hat bei Petzold nachgefragt: Große Gespräche über seinen Film bringen Film Comment und Cinema-Scope. Außerdem spricht Petzold in der ersten Stunde dieser "Langen Nacht" beim Dlf Kultur ausführlich über Hitchcock.

David Steinitz nimmt den Kinostart des Films nochmal zum Anlass, um auf das peinliche Versagen der Deutschen Filmakademie hinzuweisen, die für die Vergabe des Deutschen Filmpreises zuständig ist - und "Roter Himmel" nicht einmal für die Vorauswahl qualifizierte, mutmaßlich weil Petzold kein Akademiemitglied ist. Ärgerlich wird dies vor allem, weil der private Verbund erhebliche Beträge aus Steuermitteln zu verschenken hat und schon eine Nominierung Vorteile bei der Förderung weiterer Filme schafft. Da stellt sich "die Frage, warum die diesjährige Spielfilmjury nicht nur eine Handvoll Filme, sondern 40 Prozent eines Jahrgangs preiswürdiger findet als das bereits hymnisch rezensierte Werk eines der wichtigsten deutschen Filmemacher" und auch "ob das Blödheit oder Absicht ist". Immerhin fällt auf, dass sowohl Publikumsfilme als auch Kritiker-Erfolge "es beim Filmpreis oft besonders schwer haben, während das Mittelmaß die Preise unter sich aufteilt".

Außerdem: Georg Seeßlen erklärt im epischen ZeitOnline-Essay den Disney-Konzern, der in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert, zu einer Religion. Im Tagesspiegel empfiehlt Christiane Peitz das Ukrainian Film Festival in Berlin. Besprochen wird die von Arte online gestellte Doku "Die Zukunft in unseren Händen" über die Arbeit von Hebammen (ZeitOnline).
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Kunst

Libuše Jarcovjáková: Ohne Titel, aus der T-Club-Serie, 1980er. 

Ein bisschen oberflächlich, aber doch auch aufregend findet Ursula Scheer die Schau "Bohemia" in der Kunsthalle Prag, die das bohemistische Künstlerleben aus Poesie, Rausch und melancholischer Schönheit sucht: "Ziemlich viele Männer in Schwarz-Weiß, die gelangweilt in die Kamera schauen, eine Fluppe zwischen den Fingern oder ein Glas in der Hand, versammelt diese Ausstellung mit Werken von 37 Künstlern. Es fällt ihr oft schwer, mit all diesen Fotos die Wucht körperlicher Erfahrung zu vermitteln, die das Boheme-Leben auszeichnet: den Exzess, das rücksichtslose Sichverbrauchen. Dann wieder scheint genau das auf: in Nan Goldins 1981 begonnener, intime Diashow 'The Ballad of Sexual Dependency', die auch ein Requiem auf Opfer der Aids-Krise der Achtziger ist, in Libuše Jarcovjákovás Fotos ungeschönter Leiber aus der Subkultur der Tschechoslowakei oder in der Aufnahme von einer Performance des chinesischen Künstlers Zhang Huan, der 1994 nur mit Honig und Fischfett bedeckt in einer öffentlichen Toilette ausharrte."

Weiteres: In der SZ runzelt Andrian Kreye die Stirn über den Fall des Berliner Fotografen und Künstlers Boris Eldagsen, der seinen Sony World Photo Award nicht annehmen wollte, weil er das Bild mit einer KI geschaffen hatte, was die Jury auch wusste. Eldagsen wollte sein KI-Bild nicht subsumiert haben in der Kategorie "kreativ", sondern als eigenständige Kunstform anerkannt. Im Standard berichtet Ivona Jelcic vom Streit um Antony Gomleys Landschaftsskulpturen in den Vorarlberger Alpen.

Besprochen werden die Ausstellung der 1943 in Auschwitz ermordeteten Malerin Charlotte Salomon im Münchner Lenbachhaus (FAZ), eine Schau in der Tate Modern, die Hilma af Klint und Piet Mondrian unter dem Aspekt der Spiritualität zusammenzwängt (un die Guardian-Kritiker Jonathan Jones zeigt, dass künstlerisch zwischen den beiden Malern Kontinente liegen), Jana Stolzers und Lex Rüttens Ausstellung "We grow, grow and grow" inm Hartware MedienKunstVerein (taz) sowie Peter Reichenbachs und Sibylle Cazajus' Film "Durchs Höllentor ins Paradies" über das Kunsthaus Zürich (NZZ).
Archiv: Kunst

Design

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Ziemlich super findet es Gerhard Matzig in der SZ, dass Frank Lloyd Wright mit einem Turnschuh geehrt wird: Gerade ist der Sneaker New Balance 998 Broadacre City erschienen, ein für Sammler gestalteter Entwurf, der für einen ansehnlichen dreistelligen Betrag verkauft wird und eine Hommage an den berühmten Architekten darstellt. Designer Ronnie Fieg "ahmt in Form- und Farbgestaltung einen nie realisierten Stadtutopie-Entwurf von Wright namens 'Broadacre City' einerseits und die seit den Achtzigerjahren zur Legende (unter Sneakerfreunden) gewordene Silhouette des 998-Modells andererseits nach. ... Fiegs Version erinnert an frühe Skizzen des Broadacre-Entwurfs, der als Studie 1932 im Artikel 'The Disappearing City' vorgestellt wurde." Darin plante Wright "eine suburbane, dezentral organisierte und von titanischen Highways durchzogene Welt ... Fußgänger gibt es in diesem Reich nicht. Aber vielleicht ist die Vorstellung, Sneakers könnten etwas mit dem Gehen zu tun haben, so bizarr wie Wrights Farmhaus-Romantik, die in Deutschland in Form pendlerpauschalhaft zerdieselter und zersiedelter Eigenheim-Wucherungen Wirklichkeit wurde."
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Bühne

Besprochen werden Bridget Breiners Ballett "Maria Stuart" nach Schiller in Karlsruhe (FR), Ambroise Thomas' "Hamlet" an der Komischen Oper Berlin (den Dieter David Scholz in der NMZ anders als seine Kollegen gestern ausgesprochen konventionell findet) und Mozarts "Figaro" unter Joana Mallwitz in Nürnberg (NMZ).
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Musik

Universal geht gegen den Song "Heart on my Sleeve" vor, in dem Drake und The Weeknd unter der Produktion von Metro Boomin ein Duett hinlegen, meldet Andrey Arnold in der Presse. Die drei standen aber nie zusammen im Studio - der Song ist ein lupenreiner K.I.-Fake. Binnen weniger Stunden ging der Song auf Tiktok viral und erzielte auf allen Plattformen im Nu über 15 Millionen Abrufe. "Er lässt sich tatsächlich nicht von einem Drake-Original unterscheiden", schreibt Martin Fischer im Tages-Anzeiger. "Die Musikbranche hat dieses Problem kommen sehen: Vor gut einer Woche wurde bekannt, dass die großen Labels ein Verbot KI-generierter Musik fordern." Denn "die künstlichen Intelligenzen sind inzwischen so fit, dass sie locker einen Hit nach populären Mustern generieren können. Trainiert werden sie in der Regel mit der Musik der erfolgreichsten Künstlerinnen und Künstler der letzten Jahre, die gerade im kommerziell dominanten Hip-Hop-Bereich elektronisch produziert wird - und sich leichter imitieren lässt. ... Universal fragt in einem Statement Musikfans, Plattformbetreiber und KI-Komponisten, auf welcher Seite sie stehen wollen: 'Auf jener der Künstlerinnen und Künstler und des menschlichen kreativen Ausdrucks oder auf der Seite der Fälschungen und des Betrugs'?"

Außerdem: Eine neue Studie über Einkünfte freier Musiker bestätigt bisherige Erkenntnisse, schreibt Clemens Haustein in der FAZ: Freie können von der Musik kaum leben und Frauen verdienen oft weniger als Männer. Christian Schachinger wirft im Standard Schlaglichter auf LSD in der Popkultur - die Droge wurde heute vor 80 Jahren entdeckt.

Besprochen werden das neue Album von Feist (taz), das neue Metallica-Album (NZZ, BLZ) und ein Auftritt von Van Morrison (Standard).
Archiv: Musik