Efeu - Die Kulturrundschau

Matschkern, Jammern und Sudern

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2023. Eine gute Nachricht vorweg: Jafar Panahi darf den Iran verlassen. Zum Auftakt der Leipziger Buchmesse erklärt Teresa Präauer in der SZ die Vorzüge des Österreichischen. Im Perlentaucher feiert Marie Luise Knott die russische Lyrikerin Maria Stepanova. Ebenfalls im Perlentaucher erkennt Ulf Erdmann Ziegler in Basel, was Shirley Jaffe ihrem amerikanischen Malerkollegen Wayne Thiebaud voraus hatte. Und alle trauern um Harry Belafonte, der die Welt in so freundlichem Calypso anklagte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Nach drei Jahren Pause aus allgemein bekannten Gründen kehrt die Leipziger Buchmesse zurück (mehr dazu in 9punkt). Ob auch das Publikum zurückkehrt, wird sich zeigen - die Veranstalter selbst sind jedenfalls eher zurückhaltend mit Champagnerstimmung, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Die Pandemie hat das Erfolgsmodell der Leipziger Buchmesse, nämlich primär als Publikumsmesse zu fungieren, ins Wanken gebracht", jetzt gelte es "die alten Stärken wieder auszuspielen: Die Messe fungiert als Forum gerade für kleinere Verlage, die viel mehr unter den Corona-Absagen gelitten haben als die großen."

Die russische Lyrikerin Maria Stepanova wird heute Abend mit dem Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung ausgezeichnet (mehr über diese bereits hier und dort). "Eine großartige Entscheidung", findet Marie Luise Knott im Perlentaucher, "denn in diesen sich verfinsternden Zeiten kann gerade die Poesie, in der die Regeln der Logik ausgesetzt sind, Räume der Verständigung öffnen. Deshalb wohl lobte die Jury in ihrer Begründung, mit welcher "Unbedingtheit" Stepanova auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht: "Die Gedichtzyklen - so liedhaft wie erzählerisch - führen eindrücklich vor, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt." Und nicht nur das. Mit ihrem Humor und mit allen Mitteln ihrer Kunst schafft sie der bedrängenden Wirklichkeit einen lebendigen Gegenraum." In der SZ porträtiert Sonja Zekri Stepanova. Mehr über sie aus unseren Resümees hier und dort.

Das Gastland des Buchmesse ist in diesem Jahr Österreich. Die beste junge Literatur kommt derzeit von hier, schwärmt Marlene Knobloch in der SZ. Die Schriftstellerin Teresa Präauer nimmt die Austrophilie vieler Deutscher zwar sanft aufs Korn, wenn sie in der SZ über die österreichische Sprachkultur nachdenkt, ohne dabei dennoch ein Lob auszusprechen: Das Österreichische "ist offen für Einflüsse, wie jedes Sprechen, und hat Angst vor Verfall und Bedeutungsverlust. ... Manchmal ist das Österreichische zart und zerbrechlich, oder es tut zumindest so." Doch "neben dem Verknappen allerdings auch dies: sehr viel Schwadronieren, Ausufern und Aufschneiden. Matschkern, Jammern und Sudern. Gern wird das eigne Unglück besungen, gern wird der eigne Erfolg ausgeschmückt. Mit dem Österreichischen kann man sich fein selbst beschimpfen, man kann aber auch gscheit großtun. ... Die Begriffe sollen die Deutschen klären, wir lassen uns treiben, sind komisch, charmant und spielen uns auf. Weisen dann brüsk jedes Klischee von uns. Wir essen unsere üppige Mahlzeit, wir reimen einfach und karg am Nachmittag."

Mehr zur österreichischen Literatur: Die Zeit spricht mit dem österreichischen Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila, der "als Schrifsteller im Kongo sozialisiert wurde", den "dunklen Humor" der österreichischen Literatur aufgegriffen hat und eine "Grazer Subjektivität" entwickelt hat, "mit der ich die Welt und den Kongo ansehe". Der Schriftsteller Michael Ziegelwagner verneigt sich in der FAZ augenzwinkernd vor der ÖVP, die es ihm gestattet, die Regierung mit ätzenden Satiren aufs Korn zu nehmen, und ihn dafür mit Veröffentlichungen in landeseigenen Verlagen und hochoffziellen Glückwunschschreiben überhäuft - aber noch "viel dankenswerter ist, was die Landespolitik an Satirisch-Verwertbarem abwirft". Der Standard dokumentiert die Rede des Schriftstellers Josef Haslinger zur Eröffnung der Ausstellung "Jetzt & alles" über österreichische Literatur der letzten 50 Jahre. Sophia Zessnik führt in der taz durch aktuelle österreichische Veröffentlichungen.

Außerdem: Gregor Dotzauer hat sich für den Tagesspiegel in die Welt von "BookTok" (also die jugendliche Leseratten-Welt auf TikTok, die derzeit auf ganz besonderes Interesse der Verleger stößt) versenkt und ist von dort komplett genervt zurückgekehrt. In der SZ fragt sich Lothar Müller anlässlich von Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" was eigentlich ein Schlüsselroman ist. Das Corona-Hilfsprogramm "Neustart Kultur" begünstigte auch rechsextreme Buchprojekte, ergab eine Recherche des Dlf Kultur - unser Resümee in 9punkt.

Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Empusion" (Tsp), Salman Rushdies "Victory City" (Welt), Peter Sloterdijks "Die Reue des Prometheus" (Freitag), John Irvings "Der letzte Sessellift" (TA), Gunter Hofmanns Biografie über Willy Brandt (FR), Etty Hillesums "Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943" (NZZ), Mary Hunter Austins "Land of Little Rain" (SZ) und Ulrike Draesners "Die Verwandelten" (FAZ). Außerdem bringt die taz heute ihre Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse. Hier das Geleitwort von Tania Martini und Dirk Knipphals. Besprochen werden unter anderem Andreas Maiers "Die Heimat" und Joy Williams' "Stories".
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Film

Was für eine gute Nachrichte: Jafar Panahi darf Iran verlassen, meldet seine Ehefrau Tahereh Saeedi auf Instagram. "Wir werden jetzt ein paar Tage reisen."
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Im Standard spricht Valerie Dirk mit Darren Aronofsky über dessen Kammerstück "The Whale" (unser Resümee) und insbesondere über den Schauspieler Brendan Fraser, dem er damit zum künstlerischen Comeback verholfen hat. Besprochen werden Christian Petzolds "Roter Himmel" (Jungle World, unsere Kritik hier) und Sam Mendes' "Empire of Light" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Verneinung in Farbe. Shirley Jaffe: "X, encore" (2007) © ProLitteris, Zürich. Private Collection New York. Foto: © Alan Wiener

Ulf Erdmann Ziegler denkt in einem kleinen Essay für den Perlentaucher über die nicht mehr ganz so neue amerikanische Kunst nach, die zur Zeit in zwei Baseler Museen zu besichtigen ist, der Popartist Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler und die abstrakte Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel. Thiebaud überzeugt ihn nicht: "Was nicht in die Balance kommen will, ist das Verhältnis von Coolness des Sujets zum einen und malerischer Hitze zum anderen. Da sind Torten, da gibt es Eis in der Waffel, und neckisch werden bunte einarmige Banditen (Glücksspielautomaten) in Einzeldarstellungen aufgereiht. Dieser Art von Vergafftheit in die Konsumwelt fehlt in der Tat der lässige Zynismus von Pop. Andererseits sind die Torten aus der Fresswelle der Nachkriegszeit keine würdigen Nachfolger der Flaschen Morandis oder der Äpfel Cézannes." Und dagegen Jaffe: "Sie hat wirklich keine Möglichkeit ausgelassen. Sie hat die Massierung probiert und die Entleerung; die Zitatecollage und deren Auslöschung; die Dominanz der Farben und deren Relativierung in der Fläche. Sie hat versucht, Spiel und Dogma zu versöhnen."
Archiv: Kunst

Architektur

Das Kunsthaus Bregenz von Peter Zumthor. Foto: Marcus Trimble 

In der FAZ gratuliert Matthias Alexander dem Architekten Peter Zumthor zum Achtzigsten, ach was, er huldigt dem "Magier des Minimalimus", der sich jeder kommerziellen Architektur versagte: "Zumthors Bauten sind von enormer Körperlichkeit. Das möglichst markante Bild für ihre Form entwickelt er aus der Topographie des jeweiligen Standorts, die zu verwendenden Materialien leitet er dagegen aus dessen Geschichte ab - Gneis im Fall der Valser Therme, hellen Klinker beim Museum Kolumba in Köln, erdfarbenen Stampfbeton bei der Bruder-Klaus-Kapelle in der Eifel. In immer neuen Varianten probiert Zumthor aus, wie sich Form und Baustoffe und Lichtführung zu stimmigen Innenräumen fügen. Am Ende steht selbst bei profanen Nutzungen eine Atmosphäre, die von vielen Betrachtern als sakral empfunden wird - ganz ähnlich wie bei dem anderen großen Minimalisten unserer Zeit, John Pawson... Investoren, die mit einem festen Raumprogramm und starren Vorgaben hantieren, brauchen sich erst gar nicht an ihn zu wenden; Bürohäuser wird man in Zumthors Werkliste vergeblich suchen."
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Bühne

In der NZZ porträtiert Rahel Zingg die sechzehnjährige Florinda, die mit unglaublicher Disziplin an ihrer Ausbildung als Balletttänzerin arbeitet. Die Zeit von Drill und Übergriff ist offenbar vorbei: "Die junge Tänzerin wunderte sich, als ihre Lehrerin im letzten Jahr plötzlich um Erlaubnis fragte, bevor sie sie korrigierte. 'Ja, komm nur. Du kannst mich auch einfach anfassen', dachte sie. Doch das gehört nun zum Code of Conduct von Danse Suisse. Wer sich bei der Vereinigung ins Berufsregister der Tanzpädagogen eintragen lassen will, muss seit 2021 einen Verhaltenskodex unterschreiben; seit Mai 2022 sind bei Verstößen Sanktionen möglich."

Besprochen werden Performance-Arbeiten der New Yorker Wooster Group beim Berliner FIND-Festival, die sich unter anderem der polnischen Theaterlegende Tadeusz Kantor widmeten (taz), Shakespeares Alterswerk "Der Sturm" am Schauspiel Stuttgart (SZ) und Brechts "Herr Puntila und sein Knecht Matti" im Berliner Ensemble (ZeitOnline).
Archiv: Bühne

Musik

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Abschied von Harry Belafonte: Der Sänger, Schauspieler und Bürgerrechtler ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Er war eine "Ikone sowohl des kulturellen wie politischen Lebens (beileibe nicht nur) in den USA", schreibt Jan Feddersen in der taz und hebt vor allem Belafontes internationales politisches Engagement hervor. "Belafonte, der war ein Weltbürger, wie er selbst sagte, zuhause in erster Linie unter seinen Freundinnen*, ob in der Bundesrepublik, Südafrika, Nigeria, Japan, der Sowjetunion, Kanada oder eben den USA." Es komme eben "darauf an, dass man aus seinem Zorn etwas macht", schreibt Jan Wiele in der FAZ. und empfiehlt dringend die Lektüre von Belafontes Autobiografie. "Wem beim Gedanken an Belafonte nur freundliche Calypso-Klänge in den Sinn kommen, der weiß nicht, welcher Not diese abgerungen waren. ... So fröhlich diese Musik wirkt, war sie es teils doch nur vordergründig: Belafontes berühmtestes Lied, 'Day-O (Banana Boat Song)', ist trotz aller Motivationsqualitäten im Grunde eine bittere Anklage, gesungen von todmüden Hafenarbeitern nach ihrer Nachtschicht beim Verladen von Bananen. Sein Engagement, später auch als Initiator von 'We Are the World' und als UNICEF-Botschafter, lässt indes manchmal verkennen, wie umfangreich Belafontes musikalisches Ouevre wurde. Er hat 29 Studioalben veröffentlicht, von denen manche in Vergessenheit geraten sind, auch weil sie schwer greifbar oder ganz vergriffen sind, selbst in digitaler Form - wie kann das eigentlich sein bei einem Künstler, der sogar einst als 'bigger than Elvis' galt?"



Die SZ widmet ihre ganze Seite Drei dem Verstorbenen. "Fast immer hatte seine Musik bei aller Fröhlichkeit und allem Schmelz einen Bezug zu den Umwälzungen, die sich in Amerika und der Welt zu seinen Lebzeiten abspielten. Und die er aktiv vorantrieb", erinnert Andrian Kreye. "Neben seinem Vermächtnis als Bürger- und Menschenrechtskämpfer wirken seine Karrieren als Pop- und Filmstar fast wie Mittel zum Zweck. Hätte er nicht so vielen Nischen der Popkultur den Weg in den Kanon geebnet." Eigentlich wollte Belafonte Schauspieler werden, doch bald landete er als Sänger im Jazz, der ihm nicht sonderlich lag - bis ihm ein Konzert des Blues- und Folkmusikers Huddie Ledbetter den Weg zeigte: "Da gab es keine Kadenzen und Soli, keine Doppeldeutigkeiten, wie im Jazz. Das war Musik des Volkes mit einer Kraft, die Belafonte im Jazz nicht gefunden hatte. Und so machte er sich auf nach Washington, um im Folk-Music-Archiv der Kongressbibliothek nach Songs für sein Repertoire zu suchen"

Das dürfte den BDS-Aktivisten und deren Sympathisanten gar nicht gefallen: Belafonte war auch ein großer Freund Israels, wie die Jüdische Allgemeine erinnert. Der Nachruf in der New York Times lohnt sich alleine schon wegen des sagenhaft tollen Bildmaterials. Weitere Nachrufe schreiben Nadine Lange (Tsp), Karl Fluch (Standard), Manuel Brug (Welt) und Harry Nutt (FR).

Außerdem: Für den Tagesspiegel hat Rüdiger Schaper ein großes Gespräch mit Daniel Barenboim geführt. Egbert Tholl blickt für die SZ interessiert auf das Experiment der Thüringer Bachwochen: Um die noch immer niedrigen Zuschauerzahlen etwas anzukurbeln, wurde der Eintrittspreis auf "Zahl, was Du willst" mit einer beigelegten Empfehlung geändert - und dies "funktionierte offenbar ganz wunderbar". Das Frankfurter Gerichtsurteil, welches das von der Stadt verordnete Auftrittsverbot für Roger Waters aufhebt, mag "im Sinne der Kunstfreiheit womöglich richtig" sein, kommentiert Jan Wiele in der FAZ, aber es ist "deshalb noch nicht gut".

Besprochen werden der Essay "Gott hassen" der norwegischen Musikerin Jenny Hval über das Transgressive im Black Metal (taz), ein Konzert der Berliner Staatskapelle mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes unter Andrew Davis (Tsp) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Comeback-Album "Fuse" von Everything But the Girl (ein "Album für Leute, die lieber allein tanzen, aber doch gerne zu zweit aufwachen", meint Karl Fluch im Standard).

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