Efeu - Die Kulturrundschau

Der Problemkörper des Protagonisten

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27.04.2023. Wir haben versucht, die Welt auf den verbrecherischen Charakter des russischen Regimes aufmerksam zu machen, sagt Maria Stepanova in der FR: Aber wir fanden kein Gehör. Darren Aronofskys "The Whale" starrt auf seinen schwer adipösen, homosexuellen Helden wie auf ein groteskes Ungeheuer, ärgert sich die Welt. SZ und FR sind mindestens irritiert, wenn Helge Achenbach in Birgit Schulz' Dokumentarfilm als Robin Hood des Kunstmarkts auftritt. Und VAN ruft der FDP zu: Rundfunkorchester sind keine Massagesessel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2023 finden Sie hier

Literatur

In der FR spricht Cornelia Geißler mit der Lyrikerin Maria Stepanova, die eben mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde. Unter anderem geht es um ihr Verhältnis zu ihrer russischen Heimat und ob sie sich als Repräsentantin Russlands sieht: "Ich habe nie und in keiner Weise Russland repräsentiert, als Schriftstellerin stehe ich grundsätzlich nur für mich selbst, für niemanden sonst. Sich zuständig zu fühlen, meint etwas anderes. In Russland und der russischsprachigen Welt wird die Frage der Verantwortung wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Seit 2003 schreibe ich über Putins Regime, wie eine ganze Reihe anderer russischer Intellektueller auch: Wir haben versucht, die Welt auf den verbrecherischen Charakter dieses Regimes aufmerksam zu machen. Aber das fand bei weitem nicht genug Gehör, wir haben nichts erreicht. Im Angesicht dieses Krieges müssen diejenigen, die irgendwie mit Russland verbunden sind, die von dort kommen, dort leben oder sich zugehörig fühlen, erkennen: Wir sind vielleicht nicht schuldig, aber wir sind ein Teil davon. Das bedeutet auch, sich dazu zu verhalten, der Ukraine auf jede nur mögliche Weise zu helfen, mit Geld, mit Worten, mit Solidarität." Im Perlentaucher bespricht Marie Luise Knott Stepanovas aktuellen Gedichtband "Winterpoem 20/21".

Im Welt-Gespräch behauptet der Journalist François Krug, dass die Schriftsteller Michel Houellebecq, Sylvain Tesson und Yann Moix rechtsidentitäres Denken in Frankreich salonfähig gemacht haben. Die Keimzelle dafür verortet er in den Neunzigern: "Wie es in den Siebzigerjahren angesagt war, links zu sein, war es in den Neunzigerjahren cool, sich als reaktionär auszugeben. Das war die Gegenkultur zur linken Kultur der Eltern, damit konnte man schockieren. Man galt als schick, wenn man die nicht veröffentlichten, antisemitischen Schriften Louis-Ferdinand Célines zitierte. Damals war es undenkbar, dass die Rechtsextremen eines Tages an die Macht kommen. An den drei Autoren kann man deshalb zeigen, wie diese Ideologie Boden gewonnen hat und ihre Ideen ausstrahlen." Rechsextrem findet er die drei Autoren zumindest in der Gegenwart nicht, aber, was ihn bei seinen Recherchen besonders interessierte, "ist die Tatsache, dass sie entweder aus einem rechtsextremen Milieu kommen oder Freundschaften mit rechtsextremen Figuren pflegen, und vor allem die Frage, warum sie das eigentlich verstecken."

Außerdem: Zu Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach" wurde gefühlt bereits alles gesagt und tatsächlich auch von jedem. Thomas Hummitzsch vom Intellectures-Blog hat nun doch noch einen bislang unterbelichteten Aspekt des Buches ausfindig gemacht: dessen Haptik und Hochglanzoptik. Außerdem legt uns Hummitzsch die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Literatur und Kritik wärmstens ans Herz. Standard-Kritiker Michael Wurmitzer flaniert über die Leipziger Buchmesse. Und die Zeitungen melden: Lavinia Frey wird künftig das Internationale Literaturfestival Berlin leiten und folgt damit auf den Festivalgründer Ulrich Schreiber, der nach Kritik an seinem Führungsstil zurückgetreten war.

Besprochen werden unter anderem Ulrike Draesners "Die Verwandelten" (Tsp), Dinçer Güçyeters "Unser Deutschlandmärchen" (Tsp, NZZ), Thomas Stangls Erzählband "Diverse Wunder" (Freitag), Kim de l'Horizons "Blutbuch" (Tell), Lana Bastašićs Erzählband "Mann im Mond" (NZZ), Robert Seethalers "Das Café ohne Namen" (SZ) und Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" (Zeit). Außerdem stellt ZeitOnline die besten Sachbücher des Monats vor. Auf der Spitzenposition: Julia Lovells "Maoismus".
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Film

Weiche Seele in einem extremen Körper: "The Whale"

Darren Aronofskys "The Whale" über einen schwer adipösen, homosexuellen Mann kurz vor dem körperlichen wie biografischen Zusammenbruch beschäftigt die Filmkritik weiter (unser erstes Resümee). Das Kammerstück gibt  "in seiner konzentrierten, entfärbten Gleichförmigkeit Raum gibt zum Nachdenken, zum Abschweifen", schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher. Da kommt man dann auch auf ungewöhnliche Assoziationen: "Tatsächlich erinnern sowohl der exakt definierte Schauplatz als auch das Figurenensemble an klassische Sitcoms. Die Verbindung von szenischem Minimalismus im klassischen 4:3-Format, teils absurd überzeichneten Figuren und einem dezent ins wahnwitzige abgleitenden Plot (sowie außerdem die Obsession mit Sprache, insbesondere in Form ominöser, mit Bedeutung überfrachteter Essays) ist nicht ganz weit weg von einer Serie wie 'Seinfeld'. Tatsächlich ist 'The Whale' letztlich genau wie 'Seinfeld' die Chronik einer Selbsteinschließung."

Dass der Film sich ein bisschen sehr an der Fettleibigkeit und damit einhergehenden Vorurteilen weidet, muss Cosima Lutz von der Welt erst einmal verkraften. "Es schadet nicht, sich zu vergegenwärtigen, dass dicke Charaktere in der Vergangenheit vor allem der Belustigung des Publikums dienten." Der Regisseur entscheidet sich jedoch "klar für die Drastik. Auf den Problemkörper des Protagonisten starrt 'The Whale' von der ersten Masturbationsszene an wie auf ein groteskes Ungeheuer", um dann aber doch darin auf "eine weiche Seele, irgendwo tief drin in einem extremen Männerkörper" zu stoßen. Diese Empathiemaschine bleibe aber äußerlich: Aronofskys "Problem ist, dass er diese Thematik nur benutzt, um in seiner letztlich reaktionären Story des sich selbst bestrafenden schwulen Eigenbrötlers dick aufzutragen." Außerdem besprechen Katja Nicodemus (Zeit), Sandra Kegel (FAZ), Daniel Kothenschulte (FR) und Arabella Wintermayr (taz) den Film.

Sehr berechtigt findet es Andreas Busche vom Tagesspiegel, dass der Verein Schwarze Filmschaffende e.V. in einem an zahlreiche Kultureinrichtungen geschickten Offenen Brief gegen Lars Kraumes "Der vermessene Mensch", der aus weißer Perspektive vom Genozid an den Herero erzählt (unsere Resümees hier und dort), protestieren: Sie wollen unter anderem von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und der Berlinale wissen, "warum der Bund mit seinem Bekenntnis gegen Diskriminierung in jeglicher Form einen Film fördert, der rassistische und koloniale Stereotype verbreite, dieser bei einem Internationalen Filmfestival läuft, das ebenfalls mit Steuergeldern finanziert wird, und er der Akademie sogar noch als preiswürdig erscheint. Das war ein angemessen klarer Tonfall, den man innerhalb der kuscheligen deutschen Branche nicht gewohnt ist. Eben weil diese, trotz zahlreicher Reformankündigungen, immer noch so homogen ist, dass niemandem auffällt, wie problematisch die sogenannte Erinnerungskultur in 'Der vermessene Mensch' eigentlich ist. Ein Film, der künftig, so steht zu befürchten, im Schulunterricht gezeigt wird."

Außerdem: Für den Standard wirft Bert Rebhandl einen Blick ins Programm des Linzer Festivals "Crossing Europe", das sich in diesem Jahr besonders mit der Ukraine befasst. Dass Cathérine Corsinis "Le retour" im Mai in Cannes laufen soll, sorgt in Frankreich für erhitztes Debattenaufkommen, meldet Hanns-Georg Rodek in der Welt: Die Regisseurin soll am Set ungeheuer gewütet haben, hinter den Kulissen soll es sexuelle Übergriffe gegeben haben und eine minderjährige Schauspielerin soll vor der Kamera eine seitens des Drehbuchs nicht vorgesehene Masturbation simuliert haben müssen. Philipp Stadelmaier versenkt sich mit einem Programmschwerpunkt der aktuell laufenden Kurzfilmtage Oberhausen in Filmwelten, die in den Umgebungen von Computerspielen erstellt wurden.

Besprochen werden Jean-Paul Salomés "Die Gewerkschafterin" mit Isabelle Huppert (Tsp, FAZ), Bobby Farrellys Komödie "Champions" (Perlentaucher, Standard), Rian Johnsons Krimiserie "Poker Face" (taz, Presse, mehr dazu bereits hier), Constantin Wulffs Dokumentarfilm "Für die Vielen" über die Arbeiterkammer Wien (taz), die auf Disney+ gezeigte Serie "Sam - Ein Sachse" über Samuel Meffire, den ersten schwarzen Polizisten Sachsens (FR, FAZ, ZeitOnline), Bettina Blümners Roadmovie "Vamos a la playa" (Tsp) und die fünfte Folge der letzten Staffel von "Succession" (TA). Außerdem verraten uns die SZ-Filmkritiker, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Kunst


Konnte Helge Achenbach im Grunde gar nicht anders, als den Aldi-Erben Berthold Albrecht um Millionen zu betrügen? Das jedenfalls scheint Birgit Schulz' Dokumentarfilm nahezulegen, in dem Peter Richter in der SZ vor allem Düsseldorf und die Gier des Kunstmarkts am Pranger sieht. Achenbach ist indes zu sehen als "Mann, der erst als Robin Hood und jetzt als PR-Mann in eigener Sache unterwegs ist: bisschen larmoyant, bisschen selbstgerecht, und dann doch unverbesserlich, aber am Ende noch am sympathischsten von allen, die man sonst so zu sehen kriegt. Denn es ist für solche Filme inzwischen geradezu typisch, dass sie ins Genre des Schelmenromans spielen, wo ein dreister, aber doch irgendwie anrührender Held lediglich die Irrsinnigkeit der Welt ausnutzt und offenlegt. In diesem Fall ist das die der Kunstwelt, die oft genug von deren eigenen Protagonisten bekopfschüttelt wird." In der FR vermisst auch Daniel Kothenschulte eine Position zur "Ethik des Kunstmarkts, auch über dokumentarische Ethik ließe sich diskutieren: Weite Strecken des Films, die Achenbach in seiner erfolgreichsten Phase und im Gefängnis zeigen, wurden aus dem Material einer RTL-Produktion gekauft, ohne die Quelle jedoch wie üblich einzublenden. Anderes Archivmaterial, das die Sicht der Albrecht-Witwe Babette wiedergegeben hätte, wurde nicht erworben."

Bild: Marc Camille Chaimowicz: The Hayes Court Sitting Room, October 2022. Courtesy of the artist and Cabinet, London. Foto: Mark Blower. 
"Wie schön anders Kunst sein kann" erfährt Hans-Jürgen Hafner (taz) in der Ausstellung "Nuit américaine" mit Werken von Marc Camille Chaimowicz im Brüsseler Kunsthaus WIELS, etwa in der Arbeit "The Hayes Court Sitting Room" (1979-2023): "In diesem Raum mit handgemachten Tapeten, dem sorgsam ausgewählten, teils selbst entworfenen Mobiliar, den Büchern und Bildern, dem Tisch mit Alkoholika hat der Künstler jahrzehntelang gelebt. Jetzt ist dieses Environment in vier Teile zerschnitten, die Wände wie ein Filmset aufgefächert, die abgenutzten Requisiten dabei fast aufdringlich real exponiert und dennoch künstlich entrückt. Wie bei echten Reliquien auch bleibt Nicht-Eingeweihten unklar, wo ihr Nutzen, wo ihr Wert liegt - was ihre Aura nicht schmälern muss."

Außerdem: Moritz von Uslar ist für die Zeit mit Maike Cruse, Chefin des Berliner Gallery Weekends, schonmal durch ein paar Berliner Galerien gezogen: "Wenig Marktgängiges, Internationalisierung, Politisierung, Diskursnähe (Rassismus, Blackness, Wokeness), das seien so die Stichworte in diesem Jahr, so Cruse." Ebenfalls in der Zeit erzählt Hanno Rauterberg eine kleine Geschichte der großen Kunst-Unfälle.
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Bühne

Im Standard rät Helmut Ploebst, frühzeitig mit der Suche nach einem Nachfolger für Martin Schläpfer, Direktor des Wiener Staatsballetts zu beginnen. In der SZ begrüßt Dorion Weickmann die Preisträger des Deutschen Tanzpreises 2023, darunter vier ehemalige Mitglieder des Tanztheaters Wuppertal. Besprochen werden Fabian Hinrichs "Sardanapal" an der Berliner Volksbühne (Zeit) und Ulrich Wiggers' Inszenierung von Emmerich Kálmáns Operette "Das Veilchen vom Montmartre" an der Musikalischen Komödie in Leipzig (nmz).
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Musik

Dass die FDP nach einem Parteitagsbeschluss sich dafür einsetzen will, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf seine Kernkompetenz wie Information, Bildung und Kultur zu beschränken, könnte für die Rundfunkorchester des Landes an und für sich eine gute Nachricht sein, schreibt Hartmut Welscher im VAN-Magazin. Das Gegenteil ist der Fall: Die eh nur wenig Geld vom Gebührenbeitrag beanspruchenden  Orchester seien nach Ansicht der Liberalen trotz einem seit Jahren waltenden Sparkurs noch immer viel zu groß und sollten vielleicht sogar generell der freien Marktwirtschaft überlassen werden. "Dass traditionsreiche Klangkörper wie das Sinfonieorchester des MDR oder das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die beide nächste Saison ihren hundertsten Geburtstag feiern, in eine Reihe gestellt werden mit Massagesesseln, dem Bozen-Krimi oder Florian-Silbereisen-Shows, ist ein ziemlicher gedanklicher Kurzschluss - oder doch eher bewusste Irreführung?"

Außerdem: Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit Kent Nagano über die Elbphilharmonie und Kriterien für gute Musik. Lotte Thaler resümiert für VAN die Wittener Kammermusiktage. Judith Gerhardt spricht für VAN mit der Blockflötistin Dora Donata Sammer, die in diesem Jahr den Berlin Prize for Young Artists gewonnen hat. Im aktuellen Streit um die österreichische Nationalhymne schlägt Standard-Popkritiker Christian Schachinger seinen Landsleuten vor, es doch mal mit Austro-Pop zu versuchen. Für die NZZ porträtiert Andreas Scheiner den in Hollywood spielenden, Zürcher Musiker Martin Tillmann. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Lucia Quinciani und dort Maria Frances Parke.

Besprochen werden ein Konzert von Yo La Tengo (Tsp) und Roger Waters' Auftritt in Zürich (NZZ).

Außerdem stellt sich heraus: Auch Glenn Gould musste üben:
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