Efeu - Die Kulturrundschau

Ein gutes Stück hinter dem Beat

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28.04.2023. Die Preise der Leipziger Buchmesse sind vergeben - und das Feuilleton jubelt vor allem über die Auszeichnung für Dinçer Güçyeter, der mit bukolischem Humor vom Bildungsaufstieg erzählt. Die SZ lernt von Nicole Eisenman in München, dass der Gegenwart nur noch mit Perversion beizukommen ist. ZeitOnline verneigt sich vor Isabelle Huppert, die in Jean-Paul Salomés "Die Gewerkschafterin" die Whistleblowerin Maureen Kearney spielt. SZ und nachtkritik blicken mit Parnia Shams "Ist" beim Berliner FIND-Festival ins Innenleben einer Mädchenschule in Teheran.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2023 finden Sie hier

Literatur

Der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik geht an den Lyriker Dinçer Güçyeter für seinen ersten Roman "Unser Deutschlandmärchen". Weitere Preisträgerinnen sind Regina Scheer für ihre Biografie "Bittere Brunnen" und Johanna Schwering für ihre Übersetzung von Aurora Venturinis Roman "Die Cousinen". Die Auszeichnung für Güçyeter lässt tazler Jan Feddersen von Herzen jubeln - zumal die Auszeichnung hier auch einmal an einen geht, der im Brotjob denkbar kulturbetriebsfern seine Familie als Gabelstapelfahrer über die Runden bringt. "Güçyeters Gedichte sind schon gut, nahbar, wie blood, sweat & tears in Versmaßen fein, aber dieses sein Deutschlandmärchen ist von solcher Unmittelbarkeit, dass es einem buchstäblich beim Lesen die Sprache verschlägt". Güçyeter erzählt "vom Leben in Nettetal als Gastarbeiterfamilie, vom Leben und Schuften und Am-Leben-Bleiben der Mutter, die im Stahlwerk arbeitet und abends noch auf den Kohlfeldern, um Geld für die Familie zu verdienen. ... Da ist einer durchs Leben gegangen und hat offenbar mit jeder Sekunde seines Lebens dieses selbst zum Beobachtungsobjekt gemacht: Ein Bildungsaufsteiger größter Charmanz und von teils bukolischem Humor, ohne je seine Herkunft zu verraten, was ihn im Übrigen von Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis so unterscheidet wie die Venus vom Mars."

Auch Judith von Sternburg von der FR hält diese Würdigung eines Außenseiters aus einem Klein-Verlag für eine "Wucht" von Jury-Entscheidung. Die vergebenen Auszeichnungen wirken auf Gerrit Bartels vom Tagesspiegel "wie ein in sich stimmiges Konzept". In diesem Jahr sind es in den Büchern "Frauen, die entdeckt wurden, deren Lebensleistungen gewürdigt, denen zu verdienten Ruhm verholfen werden soll. Dinçer Güçyeter, Regina Scheer und Johanna Schwering stehen dabei vor allem helfend zur Seite, ohne dass das ihr jeweiliges Können als Schriftsteller, Sachbuchautorin und Übersetzerin schmälern würde." Dlf Kultur hat nach der Preisverleihung hier mit Güçyeter und dort mit Scheer gesprochen.

Mit ihrer Entscheidung, den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis zugleich an die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja (die in Berlin lebt und deren Bücher in Russland verboten sind) und den ukrainischen Illustrator Serhi Maidukow verleihen zu wollen, sorgt die Stadt Osnabrück für einen Eklat, berichtet Paul Jandl in der NZZ: Maidukow will sich dem aus Gründen des eigenen Wohlbefindens nicht aussetzen. Für Jandls Geschmack wird da zu viel vermengt, insbesondere auch im erhitzten Social-Media-Diskurs über die Entscheidung: "Als wären Ulitzkaja und Maidukow die reinen Repräsentanten ihres jeweiligen Volkes. Als würde schon ein Händeschütteln bedeuten: Schwamm drüber, es gibt keinen Schuldigen. Wenn Symbolik so einfach funktionierte, dann brauchte es wohl die Vertracktheiten der Kunst nicht."

Zurück zur Leipziger Buchmesse: Dirk Knipphals (taz) und Ronald Pohl (Standard) berichten von ihren Rundgängen übers Messegelände. Michael Wurmitzer vom Standard langweilt sich am Pavillon des österreichischen Gastlandes zumindest in architektonischer Hinsicht: Zu erleben ist ein "pragmatischer Nutzraum" aus "Kunststofffurnier". Gregor Dotzauer berichtet im Tagesspiegel von der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung an die russische Lyrikerin Maria Stepanova. Dlf Kultur würdigt die Preisträgerin mit einem Feature von Thomas David. Claudia Roths Eröffnungsrede lässt Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels mit ihrer Lust am Superlativ irgendwann nur noch genervt mit den Augen rollen. Marc Reichwein führt in der Welt Protokoll über die verschiedenen Auftaktereignisse. Im Tagesspiegel gibt Lars von Törne den Messebesuchern Comic- und Manga-Tipps. Das FAS-Feuilleton hat ihre satirische Suada zur Leipziger Buchmesse online gestellt.

Abseits von Leipzig: Alexandra Föderl-Schmid porträtiert für die SZ das Autorenehepaar Monika Helfer und Michael Köhlmeier. Özge Inan erkundigt sich für den Freitag, wie instagramtauglich heute junge Leser lesen. Besprochen werden unter anderem Ulrike Draesners "Die Verwandelten" (online nachgereicht von der FAZ), Petr Stančíks "Die Verjährung" (Freitag), Beppo Beyerls "Die bösen Buben von Wien. Gauner, Strizzis und Hallodris" (Freitag), Christina Viraghs "Montag bis Mittwoch" (NZZ) und Antonia Baums "Siegfried" (SZ). Außerdem empfiehlt die SZ die besten Comics für das Frühjahr.
Archiv: Literatur

Design

Brosche Stern. Foto: Otto Künzli.


In der FAZ kann Hannes Hintermeier gar nicht genug jubeln über die Ausstellung "Rot", die das Münchner Design Museum der Schmuckkünstlerin Therese Hilbert ausrichtet. Strahlten ihre Arbeiten vor mehr als fünfzig Jahren noch den "Geist calvinistischer Strenge" aus, wendete sich später Materialien wie Kunststoff und Silber und damit einer "Demokratisierung des Schmucks" zu, schreibt er. Vor allem aber behauptete sie sich im männlich dominierten Kunstmarkt, staunt Hintermeier. Sie habe "im Bayerischen Nationalmuseum ein Gegengift gegen die Beharrungskräfte der Stadt gefunden: mittelalterliche Piken, Hellebarden und Lanzen. Die Formensprache dieser Hieb- und Stichwaffen habe sie fasziniert. So sind die Variationen von Sternen, die Hilbert in dieser Zeit vielfach durchspielt, auch Ausdruck ihrer Widerständigkeit. Ihr Schmuck habe einfach nicht zum Dirndl gepasst, als Frau habe man damals 'doppelt strampeln' müssen. Da habe sie wohl buchstäblich die Krallen ausgefahren. Diese Haltung drückt sich am deutlichsten in einer Dornenkette aus, der eine Rose beigegeben ist - ohne sich zu verletzten ist die Kette nicht tragbar."

Archiv: Design

Bühne

Szene aus "Ist". Bild: Navid Fayaz.
Peter Laudenbach (SZ) applaudiert dem Mut der iranischen Schauspielerinnen des Stückes "Ist" auf dem Berliner FIND Festival in der Schaubühne, das in einer Teheraner Mädchenschule spielt und Alltagsprobleme von Mädchen in einer religiösen Diktatur schildert: Beim Schlussapplaus tragen sie "selbstverständlich keine Kopfbedeckung, auch wenn das in ihrem Land illegal wäre. Ob das bei ihrer Rückkehr nach Teheran Konsequenzen haben wird, können sie nicht wissen." Die Regisseurin Parnia Shams und die Produktionsleiterin Raha Rajabi lassen ihn "wieder an das Theater und seine Kraft" glauben. "'Viele Künstler sind nicht mehr bereit, Theater zu den Bedingungen der Islamischen Republik zu machen. Sie zeigen ihre Stücke lieber unzensiert im Untergrund, statt an den öffentlichen Bühnen unter der Kontrolle des Regimes', sagt Shams. 'Das ist der Grund, weshalb ich derzeit in Iran nicht an offiziellen Theatern arbeite. Ich hoffe, das ändert sich irgendwann, sodass wir auch an den großen Bühnen auf unsere Weise arbeiten können.' Dieses 'irgendwann' bedeutet: Nachdem wir uns unsere Freiheit erkämpft haben." Auch Nachtkritikerin Gabi Hift bespricht die Aufführung und zeigt sich so beeindruckt wie betroffen von der Wirkung, die das Stück auf sie hat:"Erstaunlich, dass so eine Arbeit an einer Universität in Teheran vor vier Jahren noch möglich war und danach auch im Land selbst noch mehrere Preise gewonnen hat. In diesen Tagen kann man das Stück schwer sehen, ohne an die unaufgeklärten Massenvergiftungen an genau solchen Mädchenschulen zu denken." Auch in der Berliner Zeitung wird das Festival besprochen.

Außerdem: Im München-Teil der SZ erzählt René Hoffmann, wie sich die Stadt München mit der Aufarbeitung des Antisemitismusskandal um Wajdi Mouawads Stück "Die Vögel", der dann keiner war, abmüht.
Archiv: Bühne

Film

Glauben Sie dieser Frau? Isabelle Huppert ist "Die Gewerkschafterin"


In Jean-Paul Salomés "Die Gewerkschafterin" spielt Isabelle Huppert die Whistleblowerin Maureen Kearney, die in Frankreich 2012 einige Hinterzimmerdeals aufdeckte und darüber Opfer eines Vergewaltigungsanschlags wurde, dem eine Drangsalierung durch die Polizei folgte. "Huppert spielt den Prozess, in dem diese einst so entschlossene Frau langsam an den Fragen und Unterstellungen zerbricht, absolut fantastisch", schreibt Maja Beckers auf ZeitOnline. "Oder ist es der Prozess, in dem sich eine Heldin als Betrügerin entpuppt? Lügt sie oder lügt sie nicht? Huppert bringt genau die Ambivalenz mit, die ein Politthriller braucht." Doch leider bleibt es bei diesem Kippspiel: "Nach etwa einem Drittel kippt der Politthriller ins Psychodrama und kreist einzig um die Frage: Glaubt jemand dieser Frau?" Es ist wie es ist, "Salomé ist kein Könner wie Chabrol", seufzt auch Andreas Kilb in der FAZ. "Statt seine Inszenierung auf den Ton einzustimmen, den seine Hauptdarstellerin vorgibt, erzählt er die Geschichte mal als staatskapitalistischen Industriekrimi, mal als Familiendrama und verliert dabei die Essenz des Stoffs, den Kampf Maureen Kearneys gegen die Männermacht der Apparate, immer wieder aus den Augen."

Außerdem: Elmer Krekeler spricht in der Welt mit dem Schauspieler Mehmet Kurtulus. Die Presse plaudert mit Tyron Ricketts, der in der Disney-Serie "Sam - ein Sachse" Samuel Meffire (hier im großen Gespräch mit Dlf Kultur) spielt, der Sachsens erster schwarzer Polizist gewesen ist, bevor er selbst in die Kriminalität abgerutscht ist. Catherine Corsinis kurzzeitig wegen mehrerer, teils sehr diffuser MeToo-Vorwürfe aus dem Cannes-Programm geflogener Film "Le Retour" wird nun doch im Mai an der Croisette laufen, meldet Niklas Bender in der FAZ.

Besprochen werden das auf Paramount+ gezeigte Remake des 80s-Horror-Reißers "Hellraiser" (taz), die auf AmazonPrime gezeigte Actionserie "Citadel" (Tsp) und die auf AppleTV+ gezeigte Serie "The Big Door Prize" (TA).
Archiv: Film

Kunst

Nicole Eisenman: The Triumph of Poverty. Bild: ICA Philadelphia.

Offenbar ist der Gegenwart nur mit "Perversion" beizukommen, lernt Catrin Lorch bei Nicole Eisenman, der das  Münchner Museum Brandhorst , derzeit die Ausstellung "What happened" ausrichtet. Mit "monumentaler, fieser Virtuosität" beeindrucken sie etwa Eisenmans Arbeiten über den Zustand der amerikanische Gesellschaft: "Ein fast akademischer Wirbel in Blau legt sich um das Bild vom Limonadenstand, dem klassischen Self-Made-Mythos. Nur sind es keine Engel oder Blumen, sondern eine Gruppe Pfadfinderinnen, die sich gelb leuchtenden Urin abzapfen und in den jungen Wirtschaftskreislauf einspeisen." Auch die Verweise auf Meister wie Tintoretto oder Breughel erkennt Lorch: "Auf 'The Triumph of Poverty', entstanden im Jahr 2009, hängt eine überladene Familienkutsche im Straßengraben vor verlassenen Holzhäusern fest. Davor steht ein Banker mit heruntergelassenen Hosen, er schleift noch einen zwergenkleinen Aufmarsch hinter sich her, unübersehbar Breughels 'Blindensturz' spiegelnd."

Außerdem: Für die FR resümiert Lisa Berins einen Vortrag des israelischen Soziologen Natan Sznaider im Rahmen der "Hearing"-Reihe des Lehr- und Forschungszentrums "Erziehung nach Auschwitz" und der Jüdischen Akademie an der Frankfurter Goethe Universität. Der Debatte um die documenta 15 mangelte es an der Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz, sagt er, hält dann aber fest: "Gegen politischen Aktivismus kann man nicht diskutieren."

Besprochen werden die Ausstellungen "Natur. Und wir?" im Stapferhaus Lenzburg, die Ausstellung "Re-Orientations" im Kunsthaus Zürich (Tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Karl Bruckmaier geht in der taz zwar nicht so sehr vor Rickie Lee Jones' neuem Album "Pieces of Treasure" auf die Knie (das "nicht ganz so toll geraten ist, aber dann doch"), sondern vor allem vor der Künstlerin selbst, der "ewig Scheiternden", deren seit 1979 beschrittenen, ziemlich kurvenreichen Lebens- und Schaffensweg er mit höchster Freude nacherzählt. "Was zeichnet die großen Jones-Momente quer durch all die Alben und Bootlegs und Stilrichtungen aus? Vielleicht: Sich kieksend und tastend, immer ein gutes Stück hinter dem Beat in ein fremdes Leben hinein zu fühlen, an manchen Stellen mit der Glaubwürdigkeit einer Folksängerin aus den Appalachen über Nachtclubmelodien zu gurren, dass Weltenende und Liebesverlust ein und dasselbe seien. Dazu die Nacktheit vieler Arrangements." Oder vielleicht "doch die großflächig hinbetonierten Musikparkplätze eines Klang-Suburbia à la 'Pirates'?"

Joachim Hentschel berichtet in der SZ von seiner Begegnung mit ihr: Sie "spricht, wie sie singt, und sie singt wie keine andere (auch nicht Joni Mitchell). Wenn es sein muss, kann sie auch hübsch säuseln, aber lieber trötet und meckert sie. Sie koloriert wie eine verkaterte Katze oder tobende Gewitterkönigin, wirft sich mit generöser Freigiebigkeit in Dissonanzen und Schrägtöne. Auf 'Pieces of Treasure', dem neuen Album mit den Jazzcovern, kann sie mühelos alles auffahren - sie bewohnt viele dieser Songs offenbar seit Jahrzehnten, kennt jede Ecke in ihnen. Die Mitternachtsballade 'There Will Never Be Another You' quäkt sie voll atemloser Zärtlichkeit, Nat King Coles 'Nature Boy' wird zum osmanischen Hirtinnengesang."



Das Album "Green Hat" des chinesischen Produzenten Tzusing kitzelt die Formulierungslust in tazler Julian Weber hervor: "Blastbeats ziehen eine Grundspur, wie Stahlpfeiler, die von einer Dampframme durch Teer in den erdigen Untergrund gebohrt werden. Zersplitternde Soundeffekte begleiten den subsonischen Megawumms, ständige Snarewirbel und zerfaserte Stimmfragmente erzeugen spektakelnde Unruhe, als würden Kreissägen im Chor winseln. Dazu Percussion als feinziseliertes Geklöppel in Fässern, Pfannen und Schüsseln, es doppelt die Wucht der Musik. Wenn es die akustische Entsprechung eines Spiegelkabinetts gäbe, Tzusing könnte sie mit 'Green Hat' hörbar gemacht haben. Im Surroundsound dringt die Musik auf die Hörer ein, die Anstrengung lohnt." Mehr zu dem Album bei Dazed und Pitchfork.



Außerdem: Der Horowitz-Wettbewerb in Genf war überschattet von Interventionen von außen, berichtet Eleonore Büning in der NZZ: Im Vorfeld gab es russische Hackerangriffe, währenddessen brach ein Shitstorm los, als der russische Pianist Stanislav Korchagin ins Halbfinale einzog, schließlich gewann der ukrainische Pianist Roman Fediurko. Frederik Hanssen ist im Tagesspiegel gespannt auf die kommende Saison des Deutschen Symphonie-Orchesters: Da werde es entsprechend früheren Ankündigungen der künstlerischen Leiterin Marlene Brüggen kein Konzert ohne Arbeit einer Komponistin geben. Amira Ben Saoud porträtiert im Standard die deutsche Sängerin Kim Petras, die als erste Transfrau die Billboard-Charts stürmte. Jana Weiss porträtiert im Tagesspiegel die Berliner Musikerin Ava Vegas. Tomasz Kurianowicz erzählt in der Berliner Zeitung von seiner Begegnung mit dem schwer erkrankten Musiker Rainald Grebe. In seinem Poptagebuch für den Rolling Stone erzählt Eric Pfeil die Geschichte, wie es dazu kam, dass ein Plattenhändler ihn bekniet hat, doch bitte keine Platten in seinem Laden zu kaufen.
Archiv: Musik