Efeu - Die Kulturrundschau

Wunder der Gegenwart

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03.05.2023. In der NZZ überlegt Regisseur Stas Zhyrkov, wie das ukrainische Theater an seine einstige Avantgarde anschließen könnte. Mit ihrem großen Streik stemmen sich Hollywoods Drehbuchautoren auch gegen die Aussicht, durch KI überflüssig zu werden, weiß die SZ. Die Fotografen sind eh schon in Schockstarre, ergänzt Boris Eldagsen in der Welt. Die Musikkritiker trauern um Folkmusiker Gordon Lightfoot, der seine Melodien so enorm samtig hintupfen konnte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2023 finden Sie hier

Bühne

"Antigone in Butscha" am Zürcher Schauspielhaus. Fot: Philip Frowein

Der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov inszeniert am Zürcher Schauspielhaus gerade "Antigone in Butscha". Im NZZ-Interview mit Ueli Bernay blickt er sehr solidarisch, aber nicht unkritisch auf das Theater in der Ukraine, das noch immer ein wenig rückständig sei, aber nicht schlimm wie das russische: "Das Niveau kultureller Auseinandersetzungen ist in der Ukraine zu tief. Wahrscheinlich ist das immer noch darauf zurückzuführen, dass Stalin die ukrainische Intelligenz weitgehend liquidieren ließ. In der sogenannten Völkergemeinschaft der Sowjetunion ließ das Regime überdies jedem Volk einen speziellen Volkscharakter andichten. Die Ukrainer galten als eher dümmliche, aber lustige Dörfler, die gut sangen und tanzten. Die ukrainischen Theater haben diese Stereotype übernommen und reproduziert. So konnte vergessengehen, dass sich in den 1920er Jahren eine starke ukrainische Theateravantgarde um den Künstler Les Kurbas bildete, der das Theater ähnlich beeinflusste wie im Westen Bertolt Brecht. Damals herrschte eine euphorische Aufbruchstimmung. Man hoffte noch, im Rahmen der Sowjetunion die ukrainische Kultur fördern zu können."

Weiteres: In der Nachtkritik verteidigt Esther Slevogt Fabian Hinrichs von der Kritik verrissenen Theaterabend "Sardanapal". In der SZ porträtiert Christine Dössel die Schauspielerin Lisa Wagner, die gerade in Yasmina Rezas neuem Stück "James Brown trug Lockenwickler" das Publikum des Münchner Residenztheaters von den Sitzen reißt.

Besprochen werden Mieczysław Weinbergs Oper "Der Idiot" nach Dostojewskis Roman im Musiktheater an der Wien ("Eindringlicher lässt sich Literatur mit Musik kaum deuten", meint Reinhard Kager in der FAZ) und das Stück "Welcome Everybody" beim Festival Tanzmainz (FR).
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Film

Hollywoods Drehbuchautoren streiken mal wieder. Wer sich an den letzten großen Streik (2007) erinnert, weiß: Die können hartnäckig sein. 100 Tage dauerte der Arbeitskampf damals und legte zig Serienproduktionen lahm und sorgte für erhebliche Verzögerungen im Kino-Produktionsplan. Die Gewerkschaft der Autoren "kritisiert, das Aufkommen von Streamingdiensten und die damit verbundene Explosion von Produktionen hätten die Arbeitsumstände der Autoren erodieren lassen", berichtet Corina Gall in der NZZ: "Früher wurden Autoren in der Regel für eine ganze Staffel einer Serie angestellt, die mehr als zwanzig Episoden umfasste. Die Produzenten entlöhnten die Autoren für das Skript, aber zahlten auch einen zusätzlichen Lohn, wenn die Serie erneut ausgestrahlt wurde. Heute ist das anders. Die Produzenten geben pro Staffel weniger Folgen in Auftrag. Die Praxis der zusätzlichen Zahlungen haben sie mehrheitlich eingestellt. Dies, obwohl Serien jahrelang auf den Streamingplattformen bleiben. Autoren profitieren bei den teilweise großen Erfolgen der Serien nicht mit."

Außerdem geht es um Künstliche Intelligenz, schreibt Susanz Vahabzadeh in der SZ: "Die Autoren verlangen strenge Regeln, die Gewerkschaft soll verhindern, dass ganze Serien-Folgen oder Filme von einem Programm generiert und dann von einem Autor nur noch ein bisschen poliert werden. Was passiert, fragt einer der Gewerkschaftsvertreter in der New York Times, wenn jemand alle Drehbücher von Nora Ephron, die beispielsweise 'Harry und Sally' geschrieben hat und 'Schlaflos in Seattle', in eine künstliche Intelligenz füttert und sie ihren Stil imitieren lässt und das Publikum mit der recycelten Ephron zufrieden ist? Bis zu den nächsten Tarifverhandlungen 2026 ist das bestimmt schon geschehen. Dieser große Autorenstreik von Hollywood wäre dann der letzte seiner Art."

Außerdem: Unter den Überlebenden und Hinterbliebenen der Grenfell-Tower-Katastrophe regt sich enormer Unmut darüber, dass die BBC den Fall in Form einer Doku-Serie aufbereiten will, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ: Einerseits wird Heischen mit Sensationen vorgeworfen, andererseits, dass den Leuten ihre Geschichte geraubt werde, andere kritisieren wiederum, dass sie nicht angehört wurden. Martina Knoben (SZ) und Chris Schinke (taz) geben Tipps zum heute beginnenden Dok.Fest München. Michael Ranze (FAZ) und Magnus Klaue (Welt) resümieren die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, wo sich ein Schwerpunkt mit in Games-Umgebungen produzierten Kurzfilmen befasste. Besprochen werden die DVD-Ausgabe von Giuseppe Tornatores Porträtfilm "Ennio" über Ennio Morricone (Intellectures), Lee Cronins Splattersause "Evil Dead Rise" (Presse), James Gunns "Guardians of the Galaxy Vol. 3" (Tsp) und die Serie "White House Plumbers" über den Watergate-Skandal (ZeitOnline).
Archiv: Film

Design

Gerhard Matzig fällt in der SZ aus allen Wolken, als er die Preise sieht, die mittlerweile für uralte Ikea-Möbel auf dem Vintage-Markt hingelegt werden: Die einstigen Billig-Möbel erzielen mitunter Mondpreise. "Vintage bezeichnet heute eine Rendite, die ein Objekt durch Alterung, Selektion und Verknappung erfährt - sowie durch die allgemeine Sehnsucht nach einer Geschichtlichkeit, die sich wie das Pendel ausnimmt, das der vermeintlichen Stunde Null antwortet. Vintage-Ikea ist in genau diesem Zirkelschluss von verblüffender Logik: Das Neue ist jetzt endlich das Alte." So ist "der Eames für Arme (alt, Ikea) also mittlerweile teurer als der Eames für Reiche (neu, Vitra). Das definiert das Phänomen Vintage-Ikea als Wunder der Gegenwart und der Imagination. ... Ein Möbel mit Narben, Schrammen und Kratzern, das mehr wert ist als ein makelloses Möbel: Es ist die Rache der postmodernen Underdogs am heroischen Perfektionismus der Moderne."

Im ZeitMagazin resümiert Yasmine M'Barek das kostümierte Schaulaufen der Promis bei der Met-Gala. Im Guardian wirft Hannah Marriott einen ersten Blick dort am Freitag eröffnende Karl-Lagerfeld-Ausstellung.
Archiv: Design

Architektur

Die Ausstellung "Macht Raum Gewalt" in der Berliner Akademie der Künste möchte die Ergebnisse der Historikerkommission "Planen und Bauen im Nationalsozialismus" anschaulich machen, zugleich aber auch einen stadtplanerischen Bogen in die Gegenwart schlagen. Beides lasse sich nur schwer unter einen Hut bringen, moniert Andreas Kilb in der FAZ, der den Schwerpunkt zur Architektur der Lager gar nicht versteht: "Dabei wird die fortschreitende Ausdehnung und Verfestigung des Ausbeutungs- und Vernichtungsapparats augenfällig, ohne dass man Einzelheiten über die beteiligten Firmen und ihre Architekten erführe. Die Pläne von Treblinka und Auschwitz-Birkenau, die im gleichen Raum gezeigt werden, sind ohne die Darstellung der dahinterstehenden industriellen Strukturen historisch unlesbar. Hier brüskiert die Ausstellung ihr Publikum, indem sie es unterfordert. Wer den Konnex von Macht, Raum und Gewalt im Nationalsozialismus verstehen will, muss das auch ohne den Erwerb der tausend Seiten dicken Forschungsergebnisse tun können, durch die schiere Evidenz des ausgebreiteten Materials."
Archiv: Architektur

Literatur

Michael Wurmitzer freut sich im Standard über den überzeugenden Gastlandauftritt Österreichs bei der Leipziger Buchmesse. Besprochen werden Alexander Kluges "Kriegsfibel 2023" (online nachgereicht aus der WamS), Lisa Taddeos Kurzgeschichtenband "Ghost Lover (Welt), Michael Sollorz' "Zeit der Kräne" (FR), Zülfü Livanelis "Der Fischer und der Sohn" (SZ) und Carole Angiers Biografie über W.G. Sebald (FAZ).
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Stichwörter: Leipziger Buchmesse

Kunst

In der FAZ freut sich die Bild-Designerin Sabine Paries über die neuen Möglichkeiten der KI-generierten Fotografie: "Das, was wir in der KI-Bildgestaltung sehen, ist eine Weiterentwicklung in fraglos völlig anderen Dimensionen, aber eine Fortführung im Bestreben nach Perfektion." Im Welt-Interview hatte gestern der Künstler Boris Eldagsen, der mit seinem Bild beim Sony Award den Trubel ausgelöst hatte, berichtet, dass die Foto-Branche geradezu in Schockstarre verfallen sind über die Möglichkeit der Promptografie, also durch Text-Befehle Bilder zu erzeugen: "Generierte Bilder kosten nicht nur weniger, es gibt auch keine juristischen Probleme mit Persönlichkeits- und Urheberrechten." 

Besprochen wird die Ausstellung "Indigo Waves and Other Stories" im Gropius Bau und im Savvy Contemporary in Berlin (mit der Kuratorenteam Natasha Ginwala und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung auffallend vorsichtig und "ästhetisch leise" den Blick weg von Europa und hin zum "Afrasischen Meer" dezentriert, wie taz-Kritikerin Amelie Sittenauer bemerkt).
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Stichwörter: Urheberrecht

Musik

Die Feuilletons trauern um den Folkmusiker Gordon Lightfoot, der auch Elvis, Johnny Cash und vielen anderen Hits auf den Leib geschrieben hat. In den Siebzigern "veröffentlichte er eine großartige Platte nach der anderen", schreibt Tilmann Spreckelsen in der FAZ. "If You Could Read My Mind" ist wohl sein bekanntestes Lied. "Es steckt alles in diesem Stück, was den begnadeten Songwriter und Schmachtfetzen-Gott Lightfoot ausmachte", schwärmt Jakob Biazza in der SZ: "Die enorm samtig hingetupften Akustikgitarren, die Harmonien, die so viel Hoffnung atmen, aber dann, gerade wenn die Erleichterung ausströmen will, in herbstlich beklemmende Melancholie kippen. Die Melodien. Himmel, diese Melodien."



Lightfoot lebte den Folk-Lifestyle bis zuletzt, schreibt Jan Feddersen: "Ein ewiger Roadster, der immer, selbst bei Konzerten im höheren Alter, ein wenig der sehnsuchtsvoll Reisende blieb, sesshaft nur ausnahmsweise, wenn es die Tourpausen erzwangen. Lightfoot verkörperte für die kleine Gemeinde der Folk-Nerds in Deutschland diese gewisse Atmosphäre freundlicher Traurigkeit aus Prinzip - ein Buddyship-Anführer auf der Gitarre von höchsten Gnaden."

Artur Weigandt wirft für die FAZ einen Blick darauf, wie der russische Popstar Shaman mit mittlerweile unverhohlen faschistischer Ästhetik propagandistische Musikvideos produziert und dabei offensichtlich Jewgeni Samjatins dystopischen Roman "Wir" positiv umdeutet: "Samjatin erzählt von einer Welt, in der Menschen nur noch Nummern sind, Ansätze von Individualität medizinisch ausgemerzt werden und alle an einem Apparat arbeiten, der das Weltall unterwerfen soll. Das erste Video von 'Wir' könnte in Samjatins Roman spielen. Nach einer Textsequenz, die verkündet, Russland vereine eine große Vergangenheit mit einer großartigen Zukunft, sieht man Shaman in einer Art kosmischem Labor stehen, von Kindern in soldatischer Formation umringt. ... Der Propaganda-Popsong und das futuristische Video sollen deutlich machen, dass der Krieg gegen die Ukraine nicht im Interesse alter Männer geführt wird, sondern für die junge Generation und die Zukunft des Landes. Der Text und der musikalische Gestus beschwören die fast übermenschlichen Fähigkeiten der Russen, sofern sie sich nur kompetenten Anführern unterordnen und die Reihen schließen. "



Besprochen werden ein Konzert des Pianisten Alexandre Kantorow (Tsp) und ein Auftritt von Sam Smith in Berlin (Tsp).
Archiv: Musik