Efeu - Die Kulturrundschau

Wie schön die Wirklichkeit sein könnte

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08.05.2023. Die taz erkundet mit der Kunstschau "RuhrDing" die männliche Tristesse von Essen-Steele. Nach einer ganz klassischen "Phädra" in Florenz fragt die FAZ, wo  Deutschland mit seinem postdramatischen Theater eigentlich international steht. Die FAS recherchiert zur Recherche über Til Schweiger und stößt auf die exklusive Partnerschaft von SZ und Constantin Film. In der FAS geißelt auch der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed den Imperialismus der russischen Kultur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2023 finden Sie hier

Kunst

Still aus Alicja Rogalskas "Sister Flats II"

Tagelang könnte taz-Kritikerin Sophie Jung mit der Kunstschau "RuhrDing" durch die Städte des Ruhrgebiets schlendern, die ihr die Realität von Mühlheim, Gelsenkirchen, Witten oder Essen ganz ohne "nostalgische Runtergebrochenheit" erfahrbar macht. Aber sie blickt auch, neu auf die Tabula-rasa-Moderne der sechziger Jahre zum Beispiel in Essen-Steele: "Den damals entstandenen Betongroßstrukturen mit Parkplatz, Ladenzeile und abgetreppten Wohnebenen fielen ganze Straßenzüge aus der Gründerzeit zum Opfer. Eine solch radikale Stadtsanierung wie in Essen-Steele hat es im Ruhrgebiet seither nicht gegeben. In einer dieser 70er-Jahre-Wohnungen hat Alicja Rogalska nun ein Interieur eingerichtet. Man steht in dem schönen, durchlichteten Apartment, das ja mit seiner Entstehungsgeschichte geradezu verdammt ist, und wird beim Blick auf Rogalskas Zimmerpflanzen, Kaffeemaschine oder Bügelbrett auf eine Leerstelle aufmerksam. Denn bei all den Planungen und Fehlplanungen für die Stadt bleibt die weibliche Perspektive aus. Jede Entscheidung zum Stadtumbau in Essen-Steele sei nur von Männern getroffen worden, erzählt eine örtliche Architektin in Rogalskas Film 'Sister Flats II', der in der Wohnung auf einem der Flatscreens abläuft."

Weiteres: In der taz porträtiert Ingo Arend recht zärtlich den Maler Timur Celik, der 1992 als "wilder Sozialist und Hippie" aus Istanbeul nach Berlin kam. Im Tagesspiegel freut sich Nikolaus Bernau über die Wiedereröffnung der Kunsthalle Rostock, auch wenn er nicht mit allen Sanierungsentscheidungen einverstanden ist. In der FAZ bespricht Tilman Spreckelsen die Ausstellung "Schätze aus Usbekistan" im Neuen Museum in Berlin.
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Stichwörter: Ruhrgebiet, RuhrDing, Usbekistan

Film

Am Freitag nichts Neues: Bei der für Ende der Woche anberaumten Verleihung des Deutschen Filmpreises wird Edward Bergers zwölffach nominierter Oscar-Erfolgsfilm "Im Westen nichts Neues" natürlich erneut in allen wichtigen Kategorien abräumen, schreibt Peter Körte in der FAS. Ein Grund zum Jubeln ist das nicht: "Wünscht sich die Akademie so den künstlerisch wertvollen und auch noch erfolgreichen Vorzeigefilm? ... Die Nominierungen verstärken in jedem Fall die Zweifel daran, dass es eine gute Idee war, der Zunft einer privatwirtschaftlichen Branche fast drei Millionen Euro aus öffentlichem Geld in die Hand zu geben, damit sie es nach eigenem Gutdünken verteilt. Auch deshalb, weil es sich um Prämien handelt, die ausdrücklich einer künstlerischen Leistung gelten sollen. Dass die Mitglieder der Filmakademie, unter denen Schauspielerinnen und Schauspieler die größte Gruppe bilden, praktisch noch nie etwas Gewagtes oder Avanciertes ausgezeichnet haben, ist keine neue Erkenntnis. Wo so viele abstimmen, geht der Trend zum Mittelmaß."

Selbst mit einem "Code of Conduct", wie ihn die Constantin-Film pflegt, ist es für Betroffene von Machtmissbrauch bei Dreharbeiten oft nur schwer möglich, sich zu Wort zu melden ohne schwere Nachteile in Kauf zu nehmen, schreibt Julia Encke in der FAS mit Blick auf die Til-Schweiger-Recherchen des Spiegel samt dessen Aufgriff in den Medien. Dies zeige vor allem auch der lange Weg der Recherchen selbst: Angeblich sollten deren Ergebnisse zunächst in der SZ erscheinen. Gemeinsam mit zwei Kollegen von dort habe die Autorin der Constantin einen Fragekatalog vorgelegt. "Als die Chefredaktion der SZ nach den Antworten der Filmfirma plötzlich erklärte, die Recherche könne in der Form nicht erscheinen, waren vor allem auch die Filmschaffenden, die sich bereit erklärt hatten, Auskunft zu geben, aufgebracht. Dass die SZ und die Constantin nach Angaben von Horizont eine exklusive Partnerschaft verbindet, die vorsieht, dass Redakteure und Autoren der SZ die Produzenten und Drehbuchautoren von Constantin bei TV- und Filmprojekten exklusiv beraten und Recherchen aus der SZ dabei in die neuen Projekte einfließen könnten, stärkte das Vertrauen nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass, nach Informationen, die der FAS vorliegen, die SZ den externen Anwalt Martin Schippan mit der juristischen Prüfung der Recherche betraute, dessen Kanzlei nach Auskunft des juristischen Fachblatts Juve auch die Constantin Film zu ihren 'Kernmandanten' zählen soll."

Außerdem: Die Zahl lesbischer Filmfiguren steigt zwar, stellt Luka Lara Steffen in der Jungle World fest, doch "widerfährt den Queers ein Schicksal überproportional häufig: Sie sterben." Kirk Douglas wird beim Festival in Cannes eine Goldene Ehrenpalme erhalten, meldet Fritz Göttler in der SZ. Besprochen werden Offer Avnons Dokumentarfilm "Der Rhein fließt ins Mittelmeer" (online nachgereicht von der FAZ) und die Serie "Zwei Seiten des Abgrunds" (taz, Tsp).
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Bühne

Valentina Banci in Senecas "Fedra". Foto: Teatro della Pergola

Außerhalb Deutschlands scheinen Postdramatik, Immersion und "Extended Reality" keine Rolle zu spielen, staunt Simon Strauß in der FAZ nach einem Besuch im Teatro della Pergola in Florenz. Hier inszenierte Elena Sofia Ricci Senecas "Phaedra" ganz klassisch - mit "historischen Kostümen, melodischer Deklamation und expressiven Gesten". Strauß ist hin und weg: "Valentina Banci als Phaedra ist mehr Amazone als Götterenkelin, eine Frau im Delirium, mit feuerrot gefärbten Haaren und einem flutblauen Kleid, das ihren mächtigen Oberkörper nur mühsam bedeckt. Es scheint, als ob der Kleiderstoff ihre Leidenschaft nur schwer in Zaum halten könnte, als ob die Libido gegen die äußeren Zwänge aufbegehrt und hervorbrechen will. Mitleid mit Phaedras Lust hat man hier in keinem Moment, im Gegenteil wirkt ihr Begehren von Beginn an angsteinflößend ... 'Check deine Privilegien' lautet gerade ein beliebter Schlachtruf im moralpolitischen Milieu. 'Check deine Platzierung' könnte man daraus machen und dem deutschsprachigen Theaterbetrieb zurufen. Denn wer weiß, ob sich nicht gerade jener, der sich für den Trendsetter hält, im europäischen Vergleich am Ende als ästhetischer Außenseiter herausstellt."

In der FAZ berichtet Irina Rastorgujewa von einem Moskauer Prozess gegen die die Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk, denen die Anklage Feminismus und andere "destruktive Ideologien" vorwirft. Bei den Maifestspielen in Wiesbaden durfte dagegen Anna Netrebko in Verdis "Nabucco" brillieren, wie Judith von Sternburg in der FR ratlos konstatiert: "Die Maifestspiele sollten in diesem Jahr besonders politisch werden, zu erleben war jetzt das Gegenteil.  Kein Zueinander, sondern: draußen entrüstete Kriegsflüchtlinge, die vor den Kopf gestoßen worden sind, drinnen Festspielatmo pur. Mit so viel Zwischenjubel und Bravogeschrei, dass es eine Nummerngala wurde." In der SZ erkennt Helmut Mauró auch eine gewisse Ironie an der Besetzung.

Besprochen werden Roman Senkls Online-Stück "Hinter den Zimmern" vom Kölner Schauspiel für den Gaming-Kanal Twitch (Nachtkritik), Iris Laufenbergs Abschiedsinszenierung "Das Ende vom Lied" am Grazer Schauspielhaus (Nachtkritik), Bettina Jahnkes Adaption von Thomas Vinterbergs "Fest" am Hans-Otto-Theater Potsdam (Nachtkritik), eine Aufführung von Nikolaj Rimski-Korsakows "Märchen vom Zaren Saltan" an der Opéra National du Rhin in Straßburg (FAZ), das Stück "Die Namenlosen" der Wiener Gruppe Nesterval im Brut Nordwest (Standard) sowie der Theaterparcours "Ganymed Bridge" in KHM und NHM in Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Die FAS dokumentiert einen offenen Brief des ukrainischen Schriftstellers Oleksandr Mykhed, der es entschieden ablehnt, mit russischen und belarussischen Schriftstellern auf einem Podium in Berlin zu sprechen. Er sieht in der "russländischen Kultur" vor allem "ein Trojanisches Pferd, das seit Jahrhunderten geschickt die Propaganda unter dem Deckmantel 'Große Kultur' verhüllt." Ein Graus ist ihm, dass liberale Russen "so tun, als gäbe es ein 'gutes Russland', das von den 'bösen' Russländern besetzt sei. Ganz so, als seien es nicht die ukrainischen Gebiete, die Russland besetzt hält. ... Die Menschen in Russland haben mit Sicherheit unterschiedliche Auffassungen von der Zukunft ihres Landes, aber hinsichtlich der Zukunft der Ukraine teilen sie größtenteils das Narrativ von den 'Brudervölkern'. ... Die Russländer und wir sprechen verschiedene Sprachen. Sie sprechen Postsowjetisch, wir sprechen die Sprache des Krieges. Die Russländer und wir verfolgen verschiedene Ziele. Sie wollen Putin stürzen. Wir das imperiale Russland."

Man sollte ja meinen, die öffentlich-rechtlichen Sender würden ihr literarisches Angebot im Netz gerade wegen ihres Kulturauftrags sichtbarer und stolzer in der Öffentlichkeit präsentieren. Das Gegenteil ist der Fall, stellt Perlentaucherin Alice Fischer fest: Man muss schon gehörig danach suchen und landet dabei oft doch nur im Nirwana veralteter Angebote. "Angesichts weiter steigender Rundfunkbeiträge kann man sich schon fragen, warum es nicht möglich ist, das alles benutzerfreundlicher zu gestalten. Sinnvoll wäre natürlich auch, träumen darf man ja, ein übergreifendes Literaturportal der Sender, mit dem man auf alle Angebote einfach zugreifen könnte. Beispiel Buchrezension: Wie praktisch wäre es für Privatpersonen wie für JournalistInnen, wenn man, ohne aufwendige Recherchen zu betreiben, die Kritiken der einzelnen Sender zu aktuellen Neuerscheinungen an einem (Online-)Ort versammelt finden würde? Oder die Podcasts und Features zu speziellen Themen. Das hieße ja nicht, die Vielfalt der Programme einzuschränken, sondern sie leichter zugänglich zu machen." Einen Überblick mit Links zu den Literaturangeboten der öffentlich-rechtlichen Sender gibt es am Ende des Textes auch.

Außerdem: Der Schriftsteller Andreas Maier denkt in einem Essay für den Standard über Heimat und Herkunft nach. Gerrit Bartels wirft in seiner Proust-Reihe für den Tagesspiegel einen Blick darauf, wie der Erzähler der "Recherche" die Homosexualität entdeckt. Harry Nutt berichtet in der Berliner Zeitung von einem Literaturabend mit Mely Kiyak und dem Aktionskünstler Philipp Ruch. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Pat Barker zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem neue Bücher von Sofia Andruchowytsch und Mike Johansen (NZZ), Pankaj Mishras "Goldschakal" (online nachgereicht von der FAZ), Etty Hillesums "'Ich will die Chronistin dieser Zeit werden'. Sämtliche Tagebücher und Briefe" (Welt), Arnold Stadlers "Irgendwo. Aber am Meer" (Standard) und Martin Suters "Melody" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Röhnert über Friedrich Georg Jüngers "Wong":

"Mein Kater sieht mich an.
Sein Fell glänzt wie Sand.
Steppenfarben, falbweiss, gebleicht ..."
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Musik

Der Pianist Menahem Pressler ist im Alter von 99 Jahren gestorben. Mit dem Beaux Arts Trio, dessen einzig verbliebenes Gründungsmitglied er am Ende war, sorgte er für Aufsehen: "Man hätte meinen können, der Name des Ensembles stehe für seine ästhetische Haltung - ein Bekenntnis im Sinne der alten Pariser Académie des Beaux-Arts zu einem Kunstideal der Grazie und der überzeitlichen Schönheit", schreibt Jan Brachmann in der FAZ. "Tatsächlich verstand Pressler die Kunst zwar nicht als Gegenentwurf zur Wirklichkeit, doch als 'etwas, das zeigt, wie schön die Wirklichkeit sein könnte'. ... Eleganz, Zartheit, Durchsichtigkeit zeichneten das erlesene Klavierspiel von Pressler aus." Manuel Brug blickt in der Welt auf Stationen aus einem "Leben in schwarzem und weißem Elfenbein" - und freut sich, dass er nur durch Flucht den Nazis entkommene Pressler im Alter seinen Frieden mit Deutschland machen konnte: "Er war wirklich zu einem Weltbürger der Musik avanciert, der glasklar verstand, dass er seinen Status nicht nur für seine eigentliche Begabung am Klavier, sondern eben auch als Beispiel für Aufklärung einsetzen konnte."



Weitere Artikel: Helmut Mauró resümiert in der SZ die musikalische Untermalung der Krönung von König Karl III. und ist froh, dass Händels "Zadok the Priest" hier einmal nicht "als brachiales Brüllstück geboten" wurde. Für die NZZ porträtiert Matthias Niederberger Roberto Blanco.

Besprochen werden Yves Tumors Album "Praise a Lord Who Chews" (FR, mehr dazu hier), ein Auftritt von Tokio Hotel (FR), das Debütalbum von Paula Paula (Tsp), das neue Album von Ed Sheeran (Tsp, Standard) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter die CD "Contra-Tenor" von Michael Spyres, der laut FAZ-Kritiker Jürgen Kesting "wie keiner zuvor alle Kategorien des Fachs Tenor sprengt". Wir hören rein:


Archiv: Musik
Stichwörter: Pressler, Menahem, Tokio