Efeu - Die Kulturrundschau

Immun gegenüber '-ismen' aller Art

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12.05.2023. Heute abend wird der Deutsche Filmpreis verliehen: Die FR fordert endlich eine unabhängige Jury, die einen undotierten Ehrenpreis vergibt, statt den jetzt amtierenden Selbstbedienungsladen. Außerdem beginnt heute das Theatertreffen: Der Tagesspiegel nimmt das zum Anlass, über das schlechte Verhältnis von Theater und Kritik nachzudenken. In Paris wurde Miriam Cahns Gemälde "Fuck Abstraction!" von einem Rechtsaußen mit Farbe überschüttet. Wenigstens war sie violett, meint die FAZ. Das Van Magazin feiert Mieczsylaw Weinbergs Oper "Der Idiot" am Musiktheater an der Wien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.05.2023 finden Sie hier

Film

Heute Abend wird der Deutsche Filmpreis verliehen - die Debatten in der deutschen Filmbranche laufen derweil heiß. In der FR kommt Daniel Kothenschulte erneut auf den Skandal zu sprechen, dass Christian Petzolds auf der Berlinale prämierter, von der Filmkritik und vom Publikum gefeierter "Roter Himmel" nicht einmal für eine Nominierung vorausgewählt wurde - wohl auch, weil Petzold kein Akademie-Mitglied ist. Ohnehin steht das Verfahren seit vielen Jahren in der Kritik, dass hier Branchenmitglieder Branchenmitgliedern aus Steuern finanzierte Preisgelder zuschanzen. Künftig soll das Verfahren wohl transparenter werden, aber für Kothenschulte führt kein Weg daran vorbei, dass "die Vergabe dieser wichtigen Fördermittel - immerhin 250.000 Euro nur für eine Nominierung zum Hauptpreis - wieder durch eine unabhängige Jury erfolgen muss." Auch "sollte die Zeit reif sein, es vergleichbaren Instituten in den USA, Frankreich oder Spanien gleichzutun: Oscars, Césars oder Goyas - all diese renommierten Preise werden von den nationalen Akademien als undotierte Ehrenpreise vergeben. Was hindert die Filmakademie daran, den Makel des Selbstbedienungsladens abzustreifen?"

Schier fassungslos ist derweil Hanns-Georg Rodek in der Welt: Die Deutsche Kinemathek in Berlin verliert in anderthalb Jahren ihren Standort am Potsdamer Platz, was seit zehn Jahren bekannt ist - doch wo die Reise 2025 hingeht, steht derzeit noch in den Sternen. "Es soll eine Vorauswahlliste mit vier Standorten geben, alle innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, alles existierende Bauten, aber selbst wenn diesen Sommer eine Entscheidung fiele, müssten diese erst kinematheksgerecht umgebaut werden. Es wäre dann, sagt Kinematheksdirektor Rainer Rother, nur ein 'Zwischenquartier'", denn "die Kinemathek träumt von einem neuen Filmhaus, nur 300 Meter Luftlinie von dem alten, auf dem Parkplatz des Martin-Gropius-Baus, des Ausstellungs-Tempels. Die Idee entstand Ende der Zehnerjahre, und fünf Jahre später steht immer noch der Platanenwald auf dem Parkplatz, und - befürchten Skeptiker - wird auch in fünf Jahren noch dort stehen."

Derweil bedrängen die Filmproduzenten Claudia Roth, endlich die seit vielen Jahren ersehnte Reform der Filmförderung auf den Weg zu bringen, berichtet Helmut Hartung in der FAZ: "Die Förderung sei zu kleinteilig, aufgesplittert in sich teilweise widersprechende Instrumente und ineffektiv. Ingo Fliess, unabhängiger Filmproduzent und Vorstandsmitglied des Produzentenverbands, ergänzt, es gehe darum, mit der Novelle des Filmförderungsgesetzes eine regulatorische Innovation zu erreichen. Mit stärkeren Automatismen sollen Filme schneller, mit weniger Bürokratie und weniger Gremienvorbehalten finanziert werden. Die Filme könnten besser sein, wenn es in Deutschland eine schlankere und unkompliziertere Filmförderung gäbe. Um einen Arthouse-Kinofilm mit einem Budget von drei bis vier Millionen Euro zu finanzieren, benötige man zurzeit zwei Jahre oder länger. Dazu gehörten dann zehn bis 15 Finanzierungspartner."

Und dann war ja auch noch die Sache mit Til Schweiger. Im SZ-Gespräch räumt Constantin-Chef Martin Moszkowicz durchaus Versäumnisse ein und beteuert: "Wir haben mit der Aufarbeitung begonnen und eine externe Kanzlei mit der Aufklärung aller Vorkommnisse beauftragt." In der Branche geht derweil die nackte Angst um, schreibt Claudius Seidl in der FAZ. Er hat sich im Betrieb umgehört und schlimme Geschichten gehört: "Die Fernsehleute haben Angst vor der Willkür inkompetenter Vorgesetzter und vor dem nächsten Kostenkürzungskonzept der Intendanz. Die Kinoleute haben Angst vor beidem: dass die Fernsehleute sich einmischen. Und fast noch mehr davor, dass das Fernsehen kein Geld in Spielfilme mehr investiert. Regisseure haben Angst, das Budget zu sprengen, den Drehplan zu überziehen und vor lauter Druck schlampig zu inszenieren. Und alle anderen, die Autoren und Kameraleute, die Schauspieler und Maskenbildner, sind Freiberufler, die fürchten, keine Engagements mehr zu bekommen, wenn sie erst einmal als Petzen oder Querulanten verrufen sind. Das ganze System ist äußerst fragil."

Weitere Artikel: "Wir müssen erkennen, dass es keine Technologie ist, um die wir gebeten haben oder die wir brauchen", sagt der Drehbuchautor Anthony McCarten im TA-Gespräch mit Blick auf die Fortschritte, die Künstliche Intelligenz in den letzten Monaten gemacht hat: "Wir brauchen eine Regulierung, und zwar schnell." Bert Rebhandl (Standard), Annett Scheffel (SZ) und Julia Lorenz (Zeit) erzählen von ihren Begegnungen mit Ari Aster, dessen Groteske "Beau is Afraid" (unser Resümee) gerade in den Kinos gestartet ist.

Besprochen werden İlker Çataks "Das Lehrerzimmer" (Filmfilter, unsere Kritik), Léa Mysius' "The Five Devils" (Filmfilter, unsere Kritik) und Davis Guggenheims auf AppleTV+ gezeigter Dokumentarfilm über Michael J. Fox (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Der Idiot". Foto: Monika Rittershaus


Fulminant bespricht Eleonore Büning im Van Magazin Mieczsylaw Weinbergs Oper "Der Idiot", aufgeführt am Theater an der Wien. Für sie ist  völlig unverständlich, dass die Weinberg-Rezeption nur so schleppend vorankommt und immer nur die kleinen Bühnen sich an das Werk des 1996 gestorbenen polnischen Komponisten heranwagen: "Wieso erst jetzt? Woher kommt diese machtvolle, erinnerungstrunkene Musik? Ist so was erlaubt, wem ist das zumutbar? Oder: Warum gehört dieses Stück nicht ganz selbstverständlich zum Kanon der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts?" Allerdings, schreibt sie, gilt auch für Weinberg, der "Der Idiot" 1986/87 schrieb, "zu diesem späten Zeitpunkt seines Lebens, wie für den jungen Fürst Myschkin im Roman, dass er exterritorial bleibt und sich außerhalb der weltlich und gesellschaftlich auszufechtenden Begehrlichkeiten und Normen bewegt, in einer von Irrationalismen geprägten, von widerstreitenden Kräften zerrissenen Zeit. Weinbergs Empathie, bereit zur Selbstaufgabe, machte ihn freilich immun gegenüber '-ismen' aller Art, sei es Nationalismus, Antisemitismus, Sozialismus oder Stalinismus." Büning bescheinigt den kleinen Opernhäusern bedeutend mehr Mut als den großen, wenn es darum geht, Abweichendes, Anderes, vielleicht auch Unbequemes auf die Bühne zu bringen: "Ein Traum wäre, wenn eines der großen Festivals mit Signalfunktion, Salzburg oder Aix, endlich mal in die Hufe kommen könnte."

Anlässlich des 60. Jubiläums des Berliner Theatertreffens macht sich Rüdiger Schaper im Tagesspiegel Gedanken zum Verhältnis von Theater und Kritik, das sich nicht nur durch Marco Goeckes Hundekot-Attacke verschlechtert zu haben scheint; Verrisse haben es zunehmend schwer: "Theater ist die moralische Anstalt des 21. Jahrhunderts. Über ästhetische Fragen wird nicht gern debattiert, obwohl in Gesprächen mit Zuschauern und auch Theaterleuten ein tiefes Bedürfnis nach künstlerischen Fragen zu spüren ist. Im Theater arbeiten vielerorts die Guten mit der richtigen Botschaft, und Kritik steckt häufig in dem Dilemma, Gesinnung beurteilen zu sollen, und da gerät man schnell auf die falschen Seite, wenn man den missionarischen Eifer nicht teilt: Was die jüngere Kritikergeneration auch schon meist mit Überzeugung tut. Und womöglich steht der Mediendarwinismus erst am Anfang. Das Theater kümmert sich um alle möglichen gesellschaftlichen Themen, aber der eigene Spielplatz ist kleiner geworden. Theater und Kritik, ein altes Paar, misstrauen einander, weil sie den Mangel und den Verlust spüren. Kritik kann à la longue doch auch nur so gut sein wie ihr Gegenüber."

Im Interview mit der Welt erklärt der Kabarettist Serdar Somuncu, warum die anstehende Tournee seine letzte ist: "Ich habe keine Lust mehr, auf eine Bühne zu gehen, während im Publikum Leute sitzen, die alles mitschreiben und sofort auf einer Scheiß-Social-Plattform posten, wenn sie Erregungspotenzial erkennen. Danach habe ich dann fünf Wochen Ärger - nur weil ich genau den Job gemacht habe, den ich seit Jahrzehnten mache. ... Kunst ist nicht Realität, sondern ein Abbild der Realität. Und jetzt sind wir so nah an die Realität gerückt, dass jemand wie ich sich den Vorwurf gefallen lassen muss, es seien große Anteile von mir selbst in meinen Bühnenfiguren enthalten. Das ist perfide. Das nimmt mir jegliche Kraft und zerstört alle meine Mittel, weil ich dann nicht mehr naturalistisch sein kann, sondern immer artifiziell bleiben muss, um als Kunstfigur erkennbar zu sein."

Besprochen werden Fabrice Mazliahs Inszenierung "Embodying Bodies" im Frankfurtur Mousonturm (faz) und Anja Behrens' "Das letzte Feuer" im Staatstheater Hannover (taz).
Archiv: Bühne

Literatur

Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Andreas Scheiner plaudert für die NZZ mit dem Schauspieler Samuel Finzi, der mit "Samuels Buch" einen (hier etwa in der Nachtkritik besprochenen) autobiografischen Roman über seine Kindheit in Bulgarien geschrieben hat. Besprochen werden unter anderem Helga Schuberts "Der heutige Tag" (FR), Robert Seethalers "Das Café ohne Namen" (Welt) und Nugiko Kutsushitas Manga "Sayonara Tokyo, Hallo Berlin" (Tsp).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Charkiw, Manga, Gerasimow, Sergei

Kunst

Miriam Cahn: Fuck Abstraction! Bild: Finestre sull'Arte.

Miriam Cahns Gemälde "Fuck Abstraction!" hat im Pariser Palais de Tokyo schon für Kontroversen mit dem französischen Kinderschutzbund und französischen Rechten gesorgt, die beide das Gemälde scharf kritisierten (unser Resümee): Es zeigt eine Vergewaltigung, die als Kriegswaffe eingesetzt wird. Nun ist es mit violetter Farbe überschüttet worden, erzählt Niklas Bender in der FAZ: "Allerdings hatte der Täter nicht das derzeit gewohnte Profil. Wie im Lauf der Woche bekannt wurde, ist er 81 Jahre alt und hat die Farbe in einem Hustensaft-Flakon eingeschmuggelt. Harmlos ist er nicht: Es soll sich um Pierre Chassin handeln, Sohn des Generals Lionel Chassin (Teilnehmer am Putsch d'Alger 1958). Sein Sohn kämpfte ebenfalls für ein französisches Algerien sowie als Söldner im Kongo. Er vertrat kurzzeitig den Front national in den Yvelines und gilt als Rechtsaußen." Für den Präsident des Museums, Guillaume Désanges, ist laut Bender klar, dass der Anschlag nicht mit den Aktionen der Klimaaktivisten vergleichbar ist: Hier "sollte das Werk nicht symbolisch befleckt, sondern in seinem Gehalt getroffen und zerstört werden." Er lässt das Gemälde hängen: "In der Liturgie ist Violett die Farbe der Trauer."

Tolia Astakhishvili: I Remember (Depth of Flattened Cruelty). Bild: Bonner Kunstverein.

Mit Backrooms und Liminal Spaces wird tazler Robert Schlücker von Tolia Astakhisvili im Bonner Kunstverein konfrontiert und lernt in einer Szenerie von merkwürdig verlassen wirkenden Orten: "Unsere Zimmer, Wohnungen und Häuser haben eine Geschichte. Deren Erinnerungsfetzen an einstige Bewohner:innen materialisieren sich nun in Gestalt vergessenen Krimskrams und aussortierter Möbel. Astakhishvilis Parcours gleicht dem Weg durch eine Gedächtnislandschaft."

Weiteres: Im Bode-Museum und in der Berliner Gemäldegalerie wird zu interreligiösen und interdisziplinären Gesprächen eingeladen (FAZ). Die FAZ meldet außerdem, dass das Pariser Centre Pompidou wegen Sanierungsarbeiten ab 2025 für fünf Jahre geschlossen bleiben muss. Besprochen werden Ausstellungen von Ralf Ziervogel im Haus am Lützowplatz (Tsp) und Lydia Pettitt in der Galerie Judin (Tsp).
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Musik

"Auf dem ESC wird Weltgeschichte geschrieben", freut sich Doris Akrap in der taz über den bisherigen Erfolg der kroatischen Band Let 3 mit dem Song "Mama ŠČ": Damit "werden zum ersten Mal überhaupt diakritische Zeichen zum Zeichen gesamteuropäischer Solidarität." Der Song "rettet dem ESC 2023 politisch den Arsch. Nicht nur, weil er - wie auch die Beiträge der Schweiz und Tschechiens - den Krieg textlich anspricht, obwohl der ESC keine politischen Aussagen duldet. Auch, weil 'Mama ŠČ' über schrillste Ästhetik und universale Sprache (ja, 'ŠČ!' sollten Sie ab sofort so selbstverständlich benutzen wie 'Ok Bruder') die Krieger in ihrer Lächerlichkeit inszeniert und damit das Publikum zum Jubeln bringt."



Außerdem: Die faschistoide Propaganda-Ästhetik des russischen Popstars Shaman (wir resümierten) ist kein Zufall, schreibt Juri Durkot in der Welt, sondern "das folgerichtige Resultat eines großchauvinistischen, nationalistischen Wahns". Martin Scholz plauscht für die Welt mit der Pianistin Hélène Grimaud. Max Florian Kühlem schaut sich für die SZ in der Welt der Neo-Klassik um, also jener sanft nach New Age klingenden Klaviermusik, die die Entspannungs- und Lesemusik-Playlisten der Streamingdienste füllt. Besprochen werden ein Auftritt von Nina Chuba in Berlin (Tsp), Daniel de Visés Biografie über B. B. King (FAZ), das neue Album von Feine Sahne Fischfilet (SZ) und das Album "Gift From The Tress" der Ambientjazz-Combo Mammal Hands (taz).

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