Efeu - Die Kulturrundschau

Jene Lust am Untergang

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15.05.2023. Sibylle Lewitscharoff ist gestorben. Die Literaturkritiker würdigen eine hoch intellektuelle und begnadet exzentrische Schriftstellerin, die den Weg aus der trotzkistischer Kadergruppe zum frommen Pietismus nahm. FAZ und Nachtkritik erleben in Bochum einen komödiantischen "Macbeth". Der Tagesspiegel bewundert die unelitäre Fotografie von Daido Moriyama. Und der ESC erregt Ratlosigkeit und Gähnen im Feuilleton.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2023 finden Sie hier

Literatur

Sibylle Lewitscharoff auf der Leipziger Buchmesse 2009. Foto: vom Original: Amrei-Marie; derivative work: Kreuzschnabel. Unter cc-Lizenz
Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ist am Samstag im Alter von 69 Jahren gestorben. Zuletzt hatte sich die Büchnerpreisträgerin wegen ihrer schweren MS-Erkrankung aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen, holte sich aber weiterhin viel Gesellschaft in ihre Berliner Wohnung. Darunter im vergangenen Sommer auch Florian Felix Weyh, der mit ihr ein Dlf-Gespräch führte, das sich auch heute noch anzuhören lohnt. Roman Bucheli erinnert in der NZZ an eine stets streitlustige Schriftstellerin, die sich mit gewitztem Furor in die Debatten warf (wir erinnern an die Lewitscharoff-Debatte, als die Autorin sich 2014 mit ihrer Polemik gegen künstliche Befruchtung durchaus im Ton vergriff). "Streitsüchtig" aber war sie nicht, sondern "dem Leben herzhaft zugewandt. Vielleicht hatte Sibylle Lewitscharoff im Augenblick, da sie mit über vierzig Jahren ihre ersten Bücher veröffentlichte, schon genug vom Sterben gesehen. ... Und vielleicht hatte sie im Stillen auch beschlossen, dass der Tod und die Toten fürs Erste nur noch in ihren Büchern eine Rolle spielen sollten. Umso unbändiger gebärden sich die Verstorbenen darum in ihrem literarischen Werk. Groteske Totentänze und wunderliche Geistergespräche gehören zum Schönsten und Bewegendsten, was Sibylle Lewitscharoff hervorgebracht hatte. Doch immer ahnte man, hinter der Burleske lauert die gebändigte Trauer."

Als Lewitscharoff Ende der Neunziger literarisch auftauchte, zeichnete sie sich "nicht nur durch eine beinahe kindlich anmutende Freude im spielerisch-exakten Umgang mit der Sprache" aus, schreibt Thomas Steinfeld in der SZ, sondern auch durch "eine große literarische Bildung sowie ein hohes Maß an Lebenserfahrung: Aus einer trotzkistischen Kadergruppe in Stuttgart in die Buchhaltung einer Berliner Werbeagentur hatte sie der Lebensweg geführt, über Stationen in Buenos Aires und Paris; aus den Seminaren des Religionsphilosophen Jacob Taubes war sie in eine Dichtkunst geraten, die Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo ebenso viel verdankte wie den Songtexten der Doors. Wo es Literatur gebe, lehrte sie, da gebe es auch einen Wahn, ein Leiden und viele mehr oder weniger hilflose Versuche, damit zurechtzukommen."

Außerdem: Tilman Krause feiert Lewitscharoff in der Welt als lebensfrohe, bis zuletzt gesellige, vor allem aber "als begnadet exzentrische Schriftstellerin", der die höchsten Preise nur so zuflogen. Der Tod war im Werk der in der Literatur Spätberufenen überaus präsent: "Das Interesse am Pathologischen kennzeichnete auch ihren vielleicht besten, jedenfalls am souveränsten durchkomponierten Roman 'Montgomery' von 2003. Hier verband sich schwäbisch-pietistischer Gefühlsstau mit deutscher Italiensehnsucht und jener Lust am Untergang (in Rom!), die ja gleichfalls zum deutschen Traditionsbestand gehören." Lewitscharoff war "bewandert im kleinen Grenzverkehr zwischen dem Diesseits und dem Jenseits", schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel mit Blick auf die Rolle des Todes in Lewitscharoffs Büchern. Andreas Platthaus hält in der FAZ fest: "An Wagemut fehlte es Sibylle Lewitscharoff nie", auch an "transzendentaler Gewissheit" mangelte es der frommen Protestantin, die die Katholiken bewunderte, nicht. "Als Kronzeugin der jüngsten deutschen Moderne stand Lewitscharoff eigentümlich quer zum Zeitgeist", schreibt Ronald Pohl im Standard: Sie "beschenkte die Öffentlichkeit mit verklausulierten Beiträgen zur Mentalitätsgeschichte nicht nur Deutschlands, sondern von uns allen." Weitere Nachrufe schreiben Elke Schmitter (taz), Judith von Sternburg (FR) und Björn Hayer (ZeitOnline).

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die Schriftstellerin Anna Herzig fordert im Standard-Kommentar ein Ende der partiarchalen Verhältnisse im Literaturbetrieb. Die Schriftstellerin Sabine Scholl denkt in einem Standard-Essay zum Muttertag über Textilien und das Verhältnis zu ihrer Mutter nach. Zum Muttertag hat Richard Kämmerlings für die Welt Hilary Mantels Debütroman "Jeder Tag ist Muttertag" von 1985 wieder aus dem Regal geholt. Dazu passend sichtet Rilana Kubassa für den Tagesspiegel Comics, die sich mit Mutterschaft befassen.

Besprochen werden unter anderem Abdulrazak Gurnahs "Die Abtrünnigen" (FR), Sylvie Schenks "Maman" (Standard), Norman Maneas "Der Schatten im Exil" (Standard), Silvia Pistotnigs "Die Wirtinnen" (Standard), Jón Kalman Stefánssons "Dein Fortsein ist Finsternis" (NZZ), Sophia Hungerhoffs "Manchmal fliegen" (Standard) und neue Hörbücher, darunter Peter Sloterdijks "Die Reue des Prometheus" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Pierre de Ronsards "Ohne Titel":

"Während du, fern von mir, die stolzen Ufer eben
des römischen Flusses schaust, den Palatin ersteigst ..."
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Bühne

Marina Galic und Jens Harzer in "Macbeth. Foto: Armin Smailovic / Schauspielhaus Bochum

Am Bochumer Schauspielhaus hat Johan Simons Shakespeares "Macbeth" inszeniert, jedoch nicht  als grausiges Mordstücks, sondern als komödiantische Parodie. Nachtkritiker Gerhard Preußer verfolgt gebannt das heitere Spiel: "Schrecklich ist lustig und lustig ist schrecklich. Ein radikal invertierter und reduzierter 'Macbeth'. Zwei Schauspieler und eine Schauspielerin nur: da kommt kein mitfühlender Schauder oder Jammer auf. Jens Harzer, Stefan Hunstein und Marina Galic spielen alles: Hexen, Könige, Feldherren, Frauen, Kinder. In makellosen schwarzen Anzügen wechseln sie die Rollen mit einem Wort, einer Bewegung oder einer Geste. Hunstein ist meist Hexe, Harzer Macbeth und Galic seine Lady, aber nicht immer. Schnell muss man schalten, will man verstehen, wer hier wann wer ist."

In der FAZ bleibt Simon Strauß verhalten: "Die Hexen sind Schicksalsschwestern ohne Schicksal, aber dafür mit viel Unterhaltungswert. Das Haus johlt wiederholt. Nur wirkt Shakespeare hier nicht doch ein wenig zu simpel? Zu simplifiziert? In jedem Fall ist es riskant, ein so explizites Stück von vorne bis hinten in Anführungszeichen zu setzen. Entgegen kommt der Aufführung dabei ihre Textfassung. Die Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch wirkt - anders etwa als die von Thomas Brasch - mit ihrem bemühten Understatement seltsam antiquiert. Die Sätze klingen im Moment gut, aber wirken kaum nach." Urkomisch findet SZ-Kritiker Martin Krumbholz das Spiel von Galic und besonders Harzer: "Wenn das Publikum über Jens Harzer sehr viel lacht, dann nicht nur, weil er herumkaspert, sondern vor allem, weil kaum einer den Wechsel zwischen kalkuliertem Understatement und dramatischem Exzess so virtuos beherrscht wie er. "

Besprochen werden außerdem Stefan Puchers Inszenierung von Thomas Köcks "Ödipus"-Variation in Stuttgart (die Nachtkritiker Steffen Becker freudig als "slapping our Kapitalisten-Fressen, Theater-Bitches" goutiert), Konstanze Kappensteins Recherche "563" zu Mahlers "Kindertotenlieder" am Schauspiel Leipzig (Nachtkritik), Nina Spijkers' Inszenierung von Otto Nicolais "Die lustigen Weiber von Windsor" an der Wiener Volksoper ("Hinreißend komisch" findet Miriam Damev im Standard die Parodie und das Ensemble fantastisch), Camille Saint-Saëns' Oper "Henry VIII" am Théâtre de la Monnaie in Brüssel (FAZ), Viktor Bodos Inszenierung von Karl Ove Knausgards Roman "Der Morgenstern" im Hamburger Schauspielhaus (SZ), Philip Stölzls Münchner Inszenierung von Matthew Lopez' Aidsdrama "Das Vermächtnis" beim Theatertreffen (taz), und ein bilanzierender Band zur Frauenquote beim Theatertreffen "Status Quote" (taz).
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Kunst

Daido Moriyama: 'Untitled', Tokyo, 1970. C/O Berlin

Im Tagesspiegel freut sich Jens Hinrichsen über die große Retrospektive, die das C/O Berlin dem 84-jährigen japanischen Fotografen Daido Moriyama widmet. Hinrichsen mag die Angriffslust, mit der sich Moria der japanischen Wirklichkeit bis heute stellt: "Versteht sich Moriyama, der hochwertige Kameraoptik und edle Abzüge geringschätzt, als Künstler? 'Eher nicht', erklärt die Kuratorin, 'zumindest hat er das Elitäre der Kunst immer abgelehnt. Seltene Originale bedeutet ihm nichts. Er versteht Fotografie als reproduzierbare Sprache, die auf Magazinseiten zirkuliert und in Fotobüchern. Er hat auch einmal gesagt, dass Kameras eigentlich Kopiergeräte sind.'"

In der NZZ kommt Philipp Meier auf den Einfall, Mona Lisas Lächeln mit einem Negroni zu vergleichen: "Eine Spannung im Gaumen, erzeugt wie von einem Schluck Negroni, verhindert, dass sich der Schwung der Lippen zu einem vollen Smile bekennt." Besprochen werden zwei Ausstellungen zum Krisenjahr 1923 in der Hamburger Kunsthalle und im Historischen Museum Frankfurt (FAZ).
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Film

Bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises fühlte sich Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek wie bei einem "Belehrungs- und Bekenntnisabend": Ukraine, Türkei und Iran wurden alle ritualhaft bedacht, Missstände in der eigenen Branche wurden hingegen nicht ganz so gratismutig angesprochen.

Besprochen werden die auf AppleTV+ gezeigte Serien-Adaption von Garth Risk Hallbergs New-York-Roman "City on Fire" (Welt, Tsp), Ari Asters "Beau is Afraid" (Welt, mehr dazu hier) und die Serie "Jury Duty" (Zeit).
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Stichwörter: Deutscher Filmpreis

Musik

Die schwedische Musikerin Loreen hat als erste Frau überhaupt zum zweiten Mal den Eurovision Song Contest gewonnen - die Rockband Lords of the Lost hat derweil den für deutsche Wettbewerbsbeiträge traditionell angestammten letzten Platz erfolgreich verteidigt. Dabei sind die ja eigentlich ganz solide, findet Manuel Brug in der Welt, der Loreens Erfolgssong hingegen für "ziemlich öde" und kalkuliert hält: "Ihr Outfit, die Zottelhaare wie die XXL-Fingernägel, die pseudolasziv über ihre beigen Liebestöter-Dessous streichen, ist im Vergleich zu den meisten der anderen Teilnehmer ziemlich grenzwertig. Und der langsam sich steigernde, überschwappend gefühlige Song macht es auch nicht wirklich wett. ... Gibt es in Schweden keine anderen Vokalhappen? Früher waren die kreativer am Schlager-Smörgåsbord. Ganz zu schweigen von der drögen Bodenturngymastik. Am Ende verrauchte Loreen auf ihrem Dune-Walkürenfelsen."



Jens Balzer resümiert auf ZeitOnline einen Abend voller Sicherheiten und Gewissheiten, bei dem sich etablierte Standards erneut und zwar erfolgreich auf ihre Gültigkeit hin überprüfen ließen. In Liverpool jedenfalls  "bediente sie "das Bedürfnis der Menschen, auch in schwierigen Zeiten etwas geboten zu bekommen, das eben nicht schwierig ist, sondern vertraut, heimatartig, normal". Die deutschen Lords of the Lost haben "den Nerv des ESC nicht getroffen", findet Nadine Lange im Tagesspiegel. Im Metal sind sie erfolgreich, "doch was ihnen das Genick brach: Sie blieben sie selbst, und den ESC - die Show mit den schrägen Kostümen, Windmaschinen und Tanzeinlagen - gewinnt man nicht, indem man man selbst bleibt."  In der taz berichtet Jan Feddersen und  notiert nebenbei, dass die Deutschen "nun mit neun letzten Plätzen seit 1957 am häufigsten von den ESC-Gerichten (ob Televoting oder per Jury) auf den Rang der Überhör und -sehbarsten verbannt" wurden.

Außerdem: Der NDR als deutscher Austräger des Wettbewerbs, wird sich nach diesem erneuten Misserfolg in einer langen Kette von Misserfolgen "ernsthaft fragen müssen, ob es nicht endlich an der Zeit ist, den Wettbewerb als Wettbewerb anzugehen", findet Peter-Philipp Schmitt in der FAZ. Joachim Hentschel feiert im Tagesanzeiger den kroatischen Beitrag von Let 3 (mehr dazu hier), der mit seiner grotesken Überdrehtheit - der Song handelt vom dem Traktor, den Alexander Lukaschenko Wladimir Putin geschenkt hatte - etwas Subversion über den ansonsten sehr braven Wettbewerb hob. Karl Fluch vom Standard hat nur Augen für Loreens Fingernägel-Applikationen. Eva Dinnewitzer resümiert die ESC-Kommentierung für den ORF durch Jan Böhmermann und Olli Schulz. In der taz resümiert Jan Feddersen die Fakten des Abends.

Weitere Artikel: Helmut Mauró wirft für die SZ einen Blick auf die wirtschaftliche Lage der Kinderchöre in Deutschland. Benedikt Fuest erinnert in der Welt zum Muttertag an Billy Joels Song "Rosalinda", in dem der Musiker über seine Mutter sang. Christian Schachinger staunt im Standard darüber, wie die Jugend musikalische Oldies, namentlich den Techno Berliner Prägung, für sich wiederentdeckt. Das Duo Brutalismus 3000, das "zu Marschrhythmus im Herzkasperlbereich gequältes gesangliches Gekeife in hoher Frequenzlage" liefert, ist dabei vorne mit dabei:



Besprochen werden ein Bach- und Purcell-Konzert der Pianisten Krystian Zimerman und Grigory Sokolov (NZZ), das Debütalbum von Avalon Emerson & The Charm (taz), ein Konzert der Rapperin Nina Chuba (FAZ) und ein Berliner Rachmaninow-Abend mit der Pianistin Zlata Chochieva (Tsp).
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