Efeu - Die Kulturrundschau

Realistisch in Teilweisigkeit

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16.05.2023. Heute beginnen die Filmfestspiele in Cannes mit einem Großaufgebot an Regiestars im Wettbewerb. Sogar Frauen sind diesmal vertreten, staunt die taz. Hollywoods  Streamingverfechter sehen auf einmal ganz schön alt aus, meint die SZ. Das deutsche Kino allerdings auch, grämt sich der Tagesspiegel. Die FAZ überlegt, was an Milo Raus "Re-enactment "Antigone in the Amazon" fassungslos macht. Die Welt fragt, was die Leitung des Berliner Theatertreffens eigentlich zu sagen hat. In der taz fürchtet Dmitry Glukhovsky, dass sich Repression und Lügen in Russland auch nach Putin halten werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.05.2023 finden Sie hier

Film

Cannes feiert das Kino und Frankreich: offizielles Postermotiv

Heute beginnen die Filmfestspiele in Cannes. Dem Festival ist es auch dieses Jahr wieder gelungen, das Who Is Who des internationalen Kinos in den Wettbewerb zu holen, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. Unter den französischen Wettbewerbsfilmen gibt es in der traditionellerweise notorisch von Männern dominierten Hauptsektion sogar eine bemerkenswerte Neuerung: Hier "sind die Frauen klar in der Mehrheit: Catherine Breillat, Catherine Corsini, Ramata-Toulaye Sy und Justine Triet steht allein Jean-Stéphane Sauvaire als männlicher Kollege gegenüber. Macht insgesamt sechs Frauen im Wettbewerb, ein knappes Drittel mithin."

Das heutige Datum wird einmal als Tag in den Geschichtsbüchern stehen, an dem das Kino doch nicht gestorben ist, glaubt Tobias Kniebe in der SZ. Denn die Streamingfilme, die das Festival nun doch zeigt, sind per gesetzlicher Regelung alle an ein großzügig bemessenes Kino-Auswertungsfenster gebunden. "Beim Blick in die USA fällt außerdem auf, dass die Entscheidungsträger aus Pandemiezeiten, die Hollywood in einen riesigen Streamingservice verwandeln wollten, inzwischen nicht nur abgesägt oder entmachtet, sondern mitsamt ihren Ideen endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind.  ... Vom Blockbuster-Macher bis zur Filmkunstautorin, es herrscht wieder Aufbruchsstimmung in Sachen Kinozukunft, und das reiche und vielversprechende Cannes-Programm spiegelt das."

Auch Daniel Kothenschulte von der FR ist angesichts vieler äußerst vielversprechender Titel voller Vorfreude: In Cannes "feiert man wieder einmal beides, Frankreich und das Kino". Und das deutsche Kino? Gleich zweimal taucht Wim Wenders im Festivalprogramm auf: "Damit ist das deutsche Kino erstmals seit Fatih Akin 2017 wieder im Wettbewerb vertreten", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Dass der 77-jährige Wenders die Kastanien aus dem Feuer holen muss, ist allerdings kein gutes Omen für den Zustand des deutschen Kinos. Es spricht auch nicht unbedingt für Festivalleiter Thierry Frémaux, der schon bei der Programmverkündung einen 'Wettbewerb der Entdeckungen' ausgerufen hatte. Entdeckungen macht man in Cannes in diesem Jahr voraussichtlich wieder nur in der Reihe Un Certain Regard."  Die Welt hat Gerhard Middings Porträt der neuen deutschen Festivalpräsidentin Iris Knobloch (hier unser Resümee) online nachgereicht.

Außerdem: Beim Freiburger Filmforum wurde eine Veranstaltung zur Hexenverfolgung in der Subsahara kurzfristig abgesagt, berichtet Matthias Niederberger in der NZZ. "Letztlich sei ein 'Grundgefühl' geblieben, dass das Konzept der Veranstaltung 'nicht sensibel genug' sei." Offenbar hatte die Festivalleitung Angst, "rassistische Stereotype" zu bedienen. Bei den drei Teilnehmern, einem Journalisten, einem Ethnologen und einem Menschenrechtsaktivisten, löste das Unverständnis aus: "Der nigerianische Aktivist Leo Igwe findet, europäische Ethnologen sollten bereit sein, sich mit anderen Auffassungen und Verständnissen von Hexerei in Afrika auseinanderzusetzen" Er sagt: 'Die Begründung ist eine Demonstration von Engstirnigkeit, Intoleranz und mangelnder Bereitschaft, intellektuell zu wachsen.'" In der Jungle World erinnert Robin Becker an den Filmemacher Erwin Leiser und dessen Dokumentarfilme über den Nationalsozialismus. In der FAZ gratuliert Maria Wiesner Pierce Brosnan zum 70. Geburtstag. Besprochen wird Torsten C. Fischers ZDF-Thriller "Blutholz" (FAZ).
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Literatur

Für die taz unterhält sich Julia Hubernagel mit dem russischen Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der in Westeuropa untergetaucht ist, seit er in seiner Heimat wegen putinkritischer Äußerungen als "Agent" geächtet wurde und ihm Repressalien drohen. Sein Land sieht er in albtraumhafter Resignation gefangen: "Vor dem Krieg dachte ich, wir müssten einfach warten, bis Putin stirbt, dann käme eine neue Welle von jungen, nach Westen orientierten Politikern, die nicht die gleichen Minderwertigkeitskomplexe wie Putin in Bezug auf den Untergang der Sowjetunion haben. Doch diese Hasspropaganda jetzt macht nachhaltig etwas mit den Menschen. Sich aus Angst und Konformismus ständig selbst zu zensieren, Lügen zu wiederholen, ist eine sehr traumatische Erfahrung, das weiß man aus der Sowjetzeit. Es schafft eine kognitive Dissonanz.  ... Das Erbe der Sowjetzeit besteht darin, dass die Leute immer noch Angst vorm Staat haben und nicht glauben, dass sie gegen ihn aufbegehren können. Eine erlernte Hilflosigkeit."

Livia Sarai Lergenmüller liest für die SZ Maia Kobabes bereits 2019 erschienenen, autobiografisch grundierten Comic "Gender Queer", der im Zuge der Cancel-Culture-Exzesse in den USA der letzten Monate von Konservativen und Rechten immer wieder angegriffen und in 56 Schulbezirken verboten wurde. "Die Hauptkritik an Kobabes Buch bezieht sich auf die Zeichnungen. 'Pornografische Inhalte', heißt es, viel zu explizit für ein Jugendbuch. Tatsächlich sieht man in dem Comic sehr detailliert, wie die Hauptfigur menstruiert, masturbiert und Sex hat. Und naheliegenderweise sieht dieser Sex anders aus, als man ihn aus einem cis-heterosexuellen Kontext kennt. ... Ein Kinderbuch ist 'Gender Queer' auf keinen Fall, schlicht, weil man Kindern noch keine derart expliziten Darstellung von Sex zeigen würde, auch nicht von heteronormativem Sex. Gedacht ist das Buch aber ohnehin für Teenager, die selbst gerade selbst dabei sind, sich und ihre Sexualität zu entdecken."

Weitere Artikel: Die NZZ liefert eine weitere Folge aus Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw. Raphael Labhart erzählt in der NZZ davon, wie 1960 in Zürich Paul Celan, Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann und Max Frisch aufeinander trafen. In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Gerhard Köpf daran, wie die späteren Schriftsteller Per Olov Enquist und Lars Gustafsson als Studenten in den Fünfzigern einmal kurzfristig unter Mordverdacht standen.

Besprochen werden unter anderem Sheila Hetis "Reine Farbe" (online nachgereicht aus der FAS), Katharina Hackers "Über Leben mit Tier" (FR), Heinrich Deterings "An der Nachtwand" (FR) und Guntram Vespers "Lichtspiele" mit Essays und Berichten (FAZ).
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Bühne

Mili Raus Re-enactment und Performance "Antigone in the Amazon"

FAZ-Kritiker Simon Strauss hat jede Menge Spott übrig für Milo Rau und dessen Eigenmarketing: Ob er ein später Nachkomme Pasolinis sei oder eher der "Stuckrad-Barre des politischen Gegenwartstheaters", fragt der Kritiker. Aber er muss auch zugeben, dass ihn Raus Schuldtheater immer wieder erschüttert. Jetzt mit der "Antigone in the Amazon" in Gent, ein Recenactment eines Massakers an Mitgliedern der brasilianischen Landlosenbewegung im Jahr 1995: "Es sind ergreifende Szenen, die man zu sehen bekommt: Als Militärpolizisten verkleidete belgische Schauspieler zerren junge Frauen an den Haaren über die Straße, schmeißen sie nebeneinander in den Staub, schießen ihnen mit Plastikpistolen aus nächster Nähe in den Kopf. Beobachtet wird das Ganze von mehreren Hundert Menschen, darunter auch einige Polizistinnen und Polizisten, die den korrekten Ablauf des Re-enactments überwachen. Die Kamera fängt den angewiderten Ausdruck auf ihren Gesichtern ein. Fassungslos beobachten sie das Geschehen. Fassungslos worüber? Über die angerichteten Verbrechen ihrer früheren Kollegen? Oder fassungslos über die europäischen Theatermacher, die sie anklagen?"

In der Welt fühlt sich Jakob Hayner geradezu vor den Kopf geschlagen von der Eröffnung des Berliner Theatertreffens, bei dem sich die Leitung in gnadenlosem Selbstlob erging: "Das auf dem Vorplatz versammelte Publikum muss dieser Selbstfeier zuschauen, ohne wirklich angesprochen zu sein. Es ist eine unwürdige Rolle, die man da abbekommen hat. Hat niemand von den Verantwortlichen etwas zu sagen? Keine Meinung zum Theater oder zur Gesellschaft, in der es gemacht wird? Die aggressive Anspruchslosigkeit der Veranstaltung ist beispielhaft für die sich im Kulturbetrieb ausbreitende Selbstgefälligkeit, die sich mit Parolen schmückt, aber keine Substanz hat." In der NZZ bezweifelt Bernd Noack, dass allein Diversität dem Berliner Theatertreffen den Weg zum Glück bescheren wird. Bei Matthew Lopez' biederem Schwulendrama "Das Vermächtnis" hat er sich jedenfalls ganz schön gelangweilt.

Besprochen werden die Uraufführung von Sarah Nemtsovs "höchst anspruchsvoller" Oper "Ophelia" in Saarbrücken (FAZ), zwei Uraufführungen von Thomas Köck, ""Keeping Up With the Penthesileas" in Zürich und "Forecast: Ödipus" in Stuttgart (SZ), Puccinis "Tosca" mit einem sensationellen Bryn Terfel an der Wiener Staatsoper (Standard), Benjamin Brittens "Peter Grimes" an der Oper Leipzig (NMZ) und das Stück "Nichts als die Wahrheit" des Frankfurter Theaterkollektivs Monstra (FR).
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Kunst

Könnte ein See-stück von Richter sein, ist aber von Vija Celmins: "Ocean, 2014. Bild: Hamburger Kunsthalle 

SZ-Kritiker Till Briegleb kann seinen Augen kaum trauen angesichts der verblüffenden Ähnlichkeit in den Arbeiten von Gerhard Richter und der in Riga geborenen amerikanischen Künstlerin Vija Celmins. Die Hamburger Kunsthalle bringt sie zusammen: "Angesichts solcher Verwandtschaften muss ausdrücklich dazugesagt werden, dass die beiden sich weder gekannt noch beeinflusst haben, weil es angesichts der Parallelität ihrer Motive und Bildinteressen kaum zu glauben ist. Nach der Akademie malten beide scheinbar banale Gegenstände in ihren Ateliers im altmeisterlichen Stil ab, Richter einen Küchenstuhl, Celmins eine Doppellampe. Später griffen beide auf Fotos beiläufiger Situationen zurück, die sie leicht unscharf, also realistisch in Teilweisigkeit, zum Ölbild machten. Celmins malte Blicke aus dem Auto auf den Freeway, Richter die Sicht auf ein besetztes Haus gegenüber seinem Kölner Atelier."

Weiteres: Im FAZ-Interview mit Ursula Scheer erklärt Alistair Hudson, der neue künstlerische Leiter des ZKM in Karlsruhe, wie er künftig nützlicher Kunst Raum geben möchte.

Besprochen werden die klimaneutrale Jubiläumsschau zum 25-jährigen Bestehen der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig (FAZ) und die Ausstellung "Hochsicherheitsgesellschaft" der Kölner Künstlerin Julia Scher im Museum Abteiberg in Mönchengladbach (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Axel Brüggemann von Crescendo lässt beim putinophilen SWR-Orchesterchef Teodor Currentzis nicht locker. "Die Lage ist schon skurril: Nachdem die Schweizer Mediengruppe (unter anderem die Aargauer Zeitung) fragte, wie die Schweizer Supermarktkette Migros es mit Russland hält und mit ihrer Verpflichtung von Teodor Currentzis bei den Migros-Konzerten, antwortete ein Sprecher der Firma, der SWR habe ihm versichert, dass der Dirigent die Werte des Orchesters teile und im Übrigen die Ehrenprofessur in Moskau (wir haben letzte Woche berichtet) abgelehnt hätte. Das habe Currentzis dem Orchester gegenüber angeblich schriftlich mitgeteilt. Merkwürdig nur, dass verschiedene russische Zeitungen von der Verleihung des Titels berichtet haben, ebenso wie verschiedene Telegram-Kanäle." Der SWR antwortet nicht auf Anfragen Brüggemanns: "Es ist schon befremdlich, dass das Orchester eines öffentlich-rechtlichen Senders, der für Qualitätsjournalismus steht, es nicht für nötig hält, Nachfragen zum eigenen Handeln zu beantworten."

Deutschland auf dem letzten Platz beim Eurovision Song Contest - dann bleibt ja quasi alles beim Alten, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Alt sind auch die Diskussionen, die jetzt überall geführt werden, was man wie und wieso und mit welcher Strukturreform dann vielleicht doch besser machen könnte, damit am Ende Deutschland endlich mal gewinnt oder wenigstens besser dasteht. Dabei, meint Gerhardt, könnte man sich auch mal fragen, "warum es Deutschland überhaupt juckt. Ärger über verschwendetes Steuergeld? Narzisstische Kränkung? Oder Überkompensation? 364 Tage im Jahr ist das Land nicht bekannt dafür, ein sonderliches Interesse an überkandideltem Poptheater, queerer Kultur oder auch einfach Musik zu pflegen. Am Tag des ESC aber, der tendenziell queer und traditionell camp ist, will man die europäischen Nachbarn auch darin gleich wieder besiegen." Naja, wenn man nicht gewinnen will, muss man auch nicht teilnehmen. Alles andere wäre schon ziemlich respektlos, oder?

Weitere Artikel: Ueli Bernays erzählt in der NZZ von seiner Begegnung mit dem 79-jährigen Musiker Dominique Grandjean, der im Brotjob in Zürich als Psychiater mit eigener Praxis tätig ist. Stefan Ender porträtiert im Standard die Geigerin María Dueñas. Stefan Michalzik resümiert in der FR das "Magnet"-Musikfestival in Wiesbaden. Jan Brachmann schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Pianistin Ingrid Haebler.

Archiv: Musik