Efeu - Die Kulturrundschau

Sandra Hüllers Kühle

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22.05.2023. In Cannes überwältigt Jonathan Glazer mit seinem bösen Auschwitz-Film "The Zone of Interest" die Filmkritiker. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des britischen Schriftstellers Martin Amis, der die Premiere nicht mehr erlebte: Er starb vor wenigen Tagen. Zu seinem Tod äußert sich unter anderem Salman Rushdie. Die FR trauert unterdessen der Tanzstadt nach, die Frankfurt einst war. Der Tagesspiegel würdigt den nigerianischen Architekten Demas Nwoko, der in Venedig den Goldenen Löwen erhielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2023 finden Sie hier

Film

Familienidyll unweit vom Massenmord der Nazis: Jonathan Glazers "The Zone of Interest"


Die Kritiker legen sich fest: Mit Jonathan Glazers Auschwitz-Film "The Zone of Interest" (lose basierend auf dem gleichnamigen, aber eher kritisch aufgenommenen Roman des vor wenigen Tagen verstorbenen Schriftstellers Martin Amis) und Nuri Bilge Ceylans "Kuru Otlar Üstüne" liefen im Cannes-Wettbewerb nun zwei der aussichtsreichsten Kandidaten auf eine Auszeichnung. Tim Caspar Boehme bespricht in der taz beide Filme: Glazers Wettbewerbsbeitrag über den von Spießigkeiten und Routinen durchsetzten Alltag einer Nazi-Familie in direkter Nachbarschaft zum Vernichtungslager Auschwitz, das nie in den Bildkader rückt, "ist ein auf kalte Weise böser Film. Das Grauen, von dem er erzählt, drängt im vermeintlich normalen Leben der Familie Höß nie ganz an die Oberfläche. Es wirkt dadurch bloß noch erschreckender."

Mitunter "unglaublich" findet der sehr begeisterte FR-Kritiker Daniel Kothenschulte diesen Film: "Aus der 'Holocaust Fiction' hat Glazer das Fiktive weitgehend ausradiert. Die deutschen Dialoge, die Glazer mit den Schauspielerinnen und Schauspielern stattdessen entwickelte, wirken so authentisch wie die historischen Schauplätze. Sie rekonstruieren die private Rückseite des Massenmords, von der es nur wenige Bilddokumente gibt." Durchaus provokant findet auch Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche diesen Film: Doch "die Gegenüberstellung von Banalem und Bösen hat sich als Beschreibungsmuster für die dunkle Seite der Conditio humana inzwischen aber auch etwas abgenutzt." Allerdings kommt Busche "auch nicht umhin, Bewunderung für Glazers formale Strenge" zu empfinden, wie auch "für Sandra Hüllers Kühle, die ihren spitzen Humor in ihren besten Rollen zum Frösteln bringen kann. Hier aber schlägt sie um in eine herrische Eiseskälte." Für die FAZ bespricht Maria Wiesner den Film.

Spielt Leonardo DiCaprio an die Wand: Lily Gladstone in Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon"

Außer Konkurrenz präsentiert das Festival Martin Scorseses dreieinhalbstündige Apple-Produktion "Killers of the Flower Moon". Der Hollywood-Altmeister erzählt in seinem womöglich letzten Film auf Grundlage von David Granns Sachbuch "Das Verbrechen" von einer Mordserie an amerikanischen Ureinwohnern im Oklahoma der 1920er-Jahre - diese waren zu Geld gekommen, da sich unter ihrem Reservat unverhofft erhebliche Ölreserven fanden. Scorsese ist "ein weiteres spätes Meisterwerk gelungen", freut sich Jan Küveler in der Welt: "Wenn man so will, hat sich auch Scorsese auf seine alten Tage der Identitätspolitik zugewandt, erzählt nicht nur, wie so oft in seinen berühmtesten Filmen, eine Kriminalgeschichte als Milieustudie, sondern als Zeugnis, als Aufarbeitung, als späte moralische Genugtuung."

Mit Robert de Niro und Leonardo DiCaprio sind die beiden wichtigsten Schauspieler in Scorseses Schaffen hier erstmals vereint vor der Kamera zu sehen, wie sich alle Kritiker freuen - nur um umgehend zu bedauern, dass damit die eigentliche Schauspiel-Entdeckung des Films etwas ins Hintertreffen gerät: "Aus den Bildern dieses Films spricht eine große Trauer", schreibt Anke Leweke hinter Bezahlschranke auf ZeitOnline. "Er zeigt die Perspektive der Täter, doch sein emotionales Zentrum ist die Figur der Mollie, eine der Osage-Frauen. Auch bildlich: In den meisten Szenen mit der jungen Frau ist sie in der Bildmitte positioniert, aufrecht sitzend, beobachtend. Lily Gladstone, eine Schauspielerin mit indigenen Wurzeln, verleiht der Figur der Mollie eine große Gravität." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, NZZ und Tages-Anzeiger.

Abseits der Croisette besprochen werden der zehnte Teil der im Kino gezeigten Serie "Fast & Furious" (BLZ), die Paramount-Serie "From" (Zeit), die Netflix-Serie "Stumm" (FAZ), die Apple-Serie "Silo" (FAS) und die auf Sky gezeigte Doku-Serie "Juan Carlos. Liebe, Geld, Verrat" (BLZ).
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Literatur

Kurz vor der Premiere der Verfilmung seines Romans "Interessengebiet" bei den Filmfestspielen in Cannes (siehe oben) ist der britische Schriftsteller Martin Amis seiner Krebserkrankung erlegen. Im New Yorker verabschiedet sich Salman Rushdie von seinem Freund und Kollegen: "Von seinem Vater erbt er die Komik. Von Nabokov übernahm er den Hochintellektualismus und erklärte in Nabokov-Stil, dass es für die Leser weniger wichtig sei, sich in den Figuren wiederzufinden, als sich mit dem Autor zu identifizieren, wie er darum kämpft, seine Kunst zu schaffen. Und von Bellow lernte er die Ehrfurcht vor dem Stil - beginnend mit dem Satz, der für Bellow wie für Amis die Ebene ist, auf der Literatur entsteht - und auch die Ehrfurcht vor der Leier. Moses Herzogs Tiraden werden in Martins brillanten absatz-, manchmal seitenlangen Tiraden wiedergeboren."

Er war einer der "bedeutendsten britischen Gegenwartsautoren", schreibt Marion Löhndorf in der NZZ. "Literarisch zog ihn das Extreme an, er interessierte sich für Dekadenz und Verkommenheit. Er schrieb über Geldgier, Sex, Tod und den Holocaust." Dabei "setzte er sich gern als Provokateur in Szene, seine Aussagen und Texte waren mit markig Zitierfähigem durchzogen." Entsprechend verabschiedet sich Gina Thomas in der FAZ von einem streitbaren Zeitgenossen: "Wenige Autoren haben so viel Lob und so viel Giftigkeit auf sich gezogen wie Martin Amis mit seinen den linksliberalen Konsens zunehmend zum Widerspruch reizenden politischen Ansichten, seinen ätzenden Formulierungen, und seinem immer wieder für Schlagzeilen sorgenden Privatleben." Im Guardian erinnert Sarah Shaffi an die Ausfälle, die sich Amis immer wieder mal leistete, etwa als er 2006 forderte, man müsste die Muslime jetzt so lange leiden lassen, bis sie ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht hätten.

Seine Romane zeichnen "eine englische Welt des misanthropischen Witzes, der Ironie, der sprachlichen Distanz zum Betrachteten, umgeben von großem Selbstbewusstsein", schreibt Mara Delius in der Welt. Er "gehörte zu einer Clique von Schriftstellern wie Salman Rushdie, Ian McEwan, Clive James, James Fenton, und Julian Barnes, die die britische Literaturszene der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre Jahre prägten, mit ihren Werken wie mit ihren Hahnenkämpfen um Frauen und Platzierungen auf Bestsellerlisten. Christopher Hitchens, der bis zu seinem Tod ein engster Freund Amis' war, verglich den jungen Amis in seiner Autobiografie mit Mick Jagger." Weitere Nachrufe schreiben Sebastian Borger (FR), Alexander Menden (SZ) und Gerrit Bartels (Tsp).

Auf Seite Drei der SZ erzählt Peter Burghardt von seinem Besuch beim US-Thrillerautor Don Winslow, der seine Karriere an den Nagel gehängt hat und sich seit einiger Zeit mit Tweets und Youtube-Videos voll ins Zeug legt, um Trumps Republikaner im Netz zu bekämpfen. Dabei rasselt er ordentlich mit dem Säbel, denn "die demokratischen Botschaften sind Winslow zu weich. Anders als die fiesen Sprüche bei Fox News und Tucker Carlson, der nach seinem Rausschmiss auf Twitter weiterpöbelt. Trump darf neuerdings sogar bei CNN lügen, siehe sein Auftritt dort kürzlich. Winslow hat den Eindruck, dass die Demokraten mit Plastiklöffeln in einen Fight mit Messern ziehen. Das eine ist: Don Winslow beklagt den Verfall der politischen Sitten. Das andere: Er schlägt in dem gleichen Ton zurück. Warum? 'Wenn wir schmutzig kämpfen müssen, dann kämpfen wir schmutzig, ist mir doch egal', sagt er. 'Es steht so viel auf dem Spiel.'"

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Matthias Heine erzählt in der Welt von seinen Freuden bei der Lektüre von Thomas Mann auf Englisch. Bereits im Jahr 1990 prägt die amerikanische Schriftstellerin Joy Williams in einer Kurzgeschichten den Begriff der "Letzten Generation", erklärt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Erich Rathfelder (taz) und Lothar Müller (SZ) schreiben zum Tod des Schriftstellers Dževad Karahasan (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem T.C. Boyles "Blue Skies" (Tsp, online nachgereicht von der FAZ), Lion Feuchtwangers "Bin ich deutscher oder jüdischer Schriftsteller? Betrachtungen eines Kosmopoliten" (Welt), Paul Brodowskys "Väter" (Tsp) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Saša Stanišićs "Wolf" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Thomas Combrink über Oskar Pastiors "Ohne Titel":

"die ornipse ist eine flatterhafte eigens für das LUSTIGE VOGELGEDICHT gemachte stilfigur
die ornipse bevorzugt nur dinge auf die sie sich anwenden läßt ..."
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Bühne

Jacopo Godani hat als Chef der Dresden Frankfurt Dance Company mit "Symptoms of Development" seine letzte Premiere gehabt. In der FR erinnert Sylvia Staude mit Bitterkeit an die Ruinierung der Tanzstadt Frankfurt zur Jahrtausendwende, als William Forsythe' Ballett, der Mousonturm, das S.O.A.P. Dance Theatre oder die Kompagnien von Marie Luise Thiele und Vivienne Newport nicht mehr finanziert wurden. Dass Godani jetzt geht, kann Staude allerdings nicht mehr betrüben, seine Ernennung war ein Fehler, meint sie: "Stück um Stück, so haben wir es in Erinnerung, arbeitete sich das Ensemble ab, die Beine wie Zirkel, bei den Frauen überdehnt, die Arme unermüdlich wirbelnd, die Hüfte sich verschiebend, der Oberkörper sich wellend. Oft schien am Rücken nur die Schraube zum Aufziehen zu fehlen. Dabei konnte das Thema der Choreografien nicht groß und wichtig genug sein - die Entwicklung des Menschen, die Zukunft des Menschen, nichts weniger -, doch da das Bewegungsmaterial mehr oder weniger das gleiche blieb, waren die Choreografien bald schwer zu unterscheiden."

Besprochen werden Milo Raus "Antigone in the Amazon" und Stas Zhyrkovs "Antigone in Butscha" (die Welt-Kritiker Jakob Hayner auch als hoch politisierte Aktualisierungen beeindrucken), Peter Konwitschnys "Siegfried" an der Oper Dortmund (SZ, FAZ), weitere Inszenierungen vom Berliner Theatertreffen (taz), Andreas Kriegenburgs unterhaltsame Inszenierung von Beaumarchais' Komödienklassiker "Figaros Hochzeit" für das Düsseldorfer Schauspielhaus (Nachtkritik), Christa Winsloes "Sylvia und Sybille" am Staatsschauspiel Dresden (Nachtkritik) und Sidi Larbi Cherkaouis Doppelabend "Faun/VIA" bei den Maifestspielen in Wiesbaden (FR).
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Kunst

In der taz schreibt Robert Mießner zum Tod des Fotografen Robert Conrad, der in seinen Bildern den Untergang der DDR ungeschönt dokumentierte. Besprochen werden Michael Anthony Müllers Auseinandersetzung mit Gerhard Richters "Birkenau-Zyklus" in der Kunstkirche Sankt Matthäus am Berliner Kulturforum (FR) und eine Ausstellung des Fotografen Jochen Lempert im C/O Berlin (Tsp).
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Musik

Ann-Kathrin Leclère ärgert sich in der taz, dass die Popband Tokio Hotel lieber instagram-tauglich mit der sächsischen Polizei posiert statt diese zu kritisieren. Besprochen werden ein Konzert von Sophie Hunger in Bern (TA, SZ), Igor Levits Auftritt beim Klavier-Fest in Luzern (NZZ) und ein Konzert von Suzi Quatro (FR).
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Stichwörter: Instagram, Tokio, Levit, Igor

Architektur

Am Samstag wurde die Architekturbiennale von Venedig bereits weithin gefeiert (unser Resümee). Heute würdigt Nikolaus Bernau im Tagesspiegel den nigerianischen Architekten und Theoretiker Demas Nwoko, der gestern mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde: "Er wird gefeiert als einer derjenigen, die ein Leben lang eine eigene afrikanische Moderne gefordert haben, die sich aus den Traditionen der afrikanischen Regionen heraus entwickelt, auf das Klima und die sozialen Strukturen Rücksicht nimmt, ohne deswegen ästhetisch traditionalistisch zu sein. Nwoko, und auch das macht diese Auszeichnung so wichtig, war einer jener in postkolonialen Debatten viel zu leicht übersehenen, oft aus alten Adelsfamilien stammenden Reform-Konservativen, die gegen die Übernahme jedweder -ismen aus Europa und Nordamerika fochten. Also gegen den Einfluss der Sowjetunion, aber auch gegen jenen International Style, der als 'Tropische Moderne' vor allem von Großbritannien und Frankreich in der Nachkriegszeit intensiv befördert wurde, um den politischen Einfluss über die Dekolonisierung hinaus kulturell dauerhaft zu befestigen, wie eine brillante Ausstellung des Londoner Victoria & Albert Museums in Venedig zeigt." Nwoko setzte dagegen, wie Bernau erklärt, auf Beton- und Ziegelsteinkonstruktionen als die Formen des Wohlfahrtsstaats.
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