Efeu - Die Kulturrundschau

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24.05.2023. Angesichts zahlloser Peinlichkeiten fürchtet die SZ um den Kern des Berliner Theatertreffens. Cannes bleibt das Festival alter Männer, seufzt die Welt. Sie können es halt, meint die FR und feiert Aki Kaurismäkis Film "Fallen Leaves", der von der Liebe zweier Arbeitsloser erzählt. Die FAZ erzählt, wie französische Restauratoren in Mossul die Schäden beheben, die der IS anrichtete. Mit der "Relief"-Schau im Städel dringen FAZ und FR zudem in die dritte Dimension der Malerei vor. The Quietus feiert die Rückkehr der britischen Folkmusikerin Shirley Collins.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2023 finden Sie hier

Film

So gut wie früher: Aki Kaurismäkis "Fallen Leaves"

Seit Montag hat Aki Kaurismäkis Arbeiterklassen-Trilogie aus den Achtzigern einen vierten Teil, jubelt Daniel Kothenschulte in der FR: "Fallen Leaves" hatte im Wettbewerb von Cannes Premiere, der Film handelt (wie üblich bei Kaurismäki) in dunklen Pastellfarben von der sich vorsichtig entfaltenden Liebe zwischen zwei Arbeitslosen: "Im Universum des von ihm selbst geschaffenen, oft kopierten lakonischen Melodrams bewegt sich Kaurismäki mit schlafwandlerischer Sicherheit. Es ist, wie wenn sich unsere Lieblingsrockband von früher mit einem neuen Album zurückmeldet - was dabei aber höchst selten geschieht: Es ist so gut wie früher." Der Film spielt erneut "in einer geschlossenen, dem heroischen Losertum geweihten Aki-Kaurismäki-Welt, die nur an manchen Ecken an das reale Helsinki erinnert", schreibt Tobias Kniebe in der SZ: "Aber immerhin gibt es darin Radionachrichten, scheinbar ganz real aus der Zeit der Dreharbeiten eingeblendet. Sie handeln von russischen Raketen auf ein ukrainisches Einkaufszentrum und den toten Zivilisten im zerbombten Theater von Mariupol. Und sie passen dann doch zum Elend der Heldin, einer schüchternen Aushilfskraft, die immer wieder ihren Job verliert. In ihrer kleinen Wohnung zu Hause warten nur diese düsteren News - und die Einsamkeit." Tim Caspar Boehme macht in der taz bei so viel Wiedererkennungseffekt Einwände laut: "Zu vieles wirkt nach abgespulter Routine."

Es ist das Festival der alten Männer, stellt Hanns-Georg Rodek (65) in der Welt fest: Ein Großteil der gefeierten Filmemacher ist deutlich über 70 oder kratzt demnächst an dieser Schwelle. Über 60 sind dann eh nochmal ein paar mehr. "Cannes weiß, dass es damit ein Problem hat, in zehn Jahren wird keiner der großen Autorenfilmer mehr drehen, aber Cannes braucht sie als Marke, sie sind das Lebensblut des Festivals, nicht die Hollywood-Blockbuster, die man allerdings gerne mitnimmt. Die kommenden Almodóvars und Wenders' wachsen nicht mehr automatisch auf Bäumen, das neue Kino organisiert sich nicht mehr um Starregisseure, sie müssen aufgepäppelt werden."

Mit seiner harten Politik gegenüber den Streamern - wer in Cannes gezeigt werden will, muss seine Filme im Anschluss auch im Kino zeigen - hat Festivalleiter Thierry Frémaux genau richtig gehandelt und aufs richtige Pferd gesetzt, findet Rüdiger Suchsland auf Artechock: Es zeigt sich, dass er "gestern schon Politik für morgen gemacht hat. ... Denn jetzt kriechen alle Streamer zu Kreuze, jetzt geht es ihnen schlecht. Es gibt eine Kannibalisierung zwischen den Streamern, die alle ums Überleben kämpfen. Sie häufen alle riesige Schulden übereinander, und es ist schon jetzt klar, dass es zu einer Flurbereinigung kommt."

In der FAZ macht Maria Wiesner erste thematische Stränge im Wettbewerb aus: "Gleich vier Wettbewerbsbeiträge beginnen eine Korrespondenz über Kontinente und Kulturkreise hinweg. Es geht darum, wie Menschen miteinander reden (oder nicht mehr dazu in der Lage sind), wann sie einander manipulieren und wie sie Kinder in diese Spiele hineinziehen." Konkret meint sie Hirokazu Kore-Edas "Monster" (über einen Lehrer, der sich Missbrauchsvorwürfen ausgesetzt sieht), Justine Triets "Anatomy of a Fall" über eine Schriftstellerin, die bezichtigt wird, ihren Mann ermordet zu haben, Jessica Hausners "Code Zero" über sektenartige Ernährungsdogmen, die sich an einer Schule ausbreiten, und Nuri Bilge Ceylans "About Dry Grasses", in dem es ebenfalls um einen Lehrer und Missbrauchsvorwürfe geht.

Jenseits von Cannes besprochen werden Laura Poitras' Dokumentarfilm "All The Beauty and The Bloodshed" über die Künstlerin Nan Goldin (FAZ, mehr dazu bereits hier), die Horrorkomödie "Renfield" mit Nicolas Cage als Dracula (Standard, taz), Rasmus Dinesens Dokumentarfilm "Terroir - Eine genussvolle Reise in die Welt des Weins" (Filmdienst), die neunte Folge der letzten Staffel der HBO-Serie "Succession" (TA) und die Serie "Juan Carlos - Liebe, Geld, Verrat" (taz).
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Kunst

In einer Reportage aus dem irakischen Mossul erzählt Lena Bopp in der FAZ, wie internationale Restauratoren die Verwüstungen zu beheben versuchen, die der Islamische Staat 2015 anrichtete. Den vom Louvre entsandten Daniel Ibled stellt uns Bopp als einen Mann vor, der schon als Kind gern geknackte Nüsse wieder zusammensetzte: "'Jede Explosion hat eine innere Logik', sagt Ibled. Wenn es gelinge, sie zu verstehen, könne man die Explosion quasi rückwärts denken und die Puzzleteile leichter finden. Danach sei Perfektionismus gefragt. Wenn man sich am Anfang um nur einen Millimeter vertue, summiere sich der Fehler mit jedem weiteren Schritt, bis man am Ende in eine Schieflage kommt, die es unmöglich mache, weitere Steine hinzuzufügen. 'Da mussten wir die irakischen Kollegen am Anfang manchmal bremsen.'"

Paul Gauguin: Seid geheimnisvoll! (Soyez mystérieuses), 1890. Bild: Städel

Die "dritte Dimension der Malerei" eröffnet sich FR-Kritikerin Lisa Berins in der Ausstellung "Herausgragend", mit der das Frankfurter Städel dem Relief in der Kunst von Rodin bis Picasso huldigt: "Das Relief war nicht nur ein Experiment, es war auch Rebellion und Ausbruch. Aber es war noch mehr: Es wurde zum künstlerischen Mittel einer Reflexion darüber, was Kunst kann. Lucio Fontana zum Beispiel zerschnitt seit den 1940er Jahren Bilder, öffnete dadurch den dahinterliegenden Raum. Ebenen wurden nicht nur durch das Auftragen von mehr und mehr Material geschaffen - eindrückliches Beispiel dafür ist die monumentale Wandplastik von Lee Bontecou in der oberen Etage -, sondern auch durch das Ausschneiden und Freilegen des 'Dahinter'. Die Wand wurde dadurch auch selbst zum Player." In der FAZ zeichnet Stefan Trinks nach, wie das Relief für die Avantgarde des 19. Jahrhundert wieder interessant wurde: "Gauguin, der mit dem traumschönen 'Seid geheimnisvoll' vertreten ist, sah noch in der Bretagne arbeitend auf der Weltausstellung 1889 die farbstarken Reliefs aus Papua-Neuguinea und ahmte sie nach. Der Historismus entdeckt zudem die Faszination polychromer Reliefs aus diversen Materialien. Den Höhepunkt erreicht das urzeitlich antike Relief in Farbe mit den Parthenonreliefs, deren Wiederentdeckung durch die Künstler im 19. Jahrhundert ein eigener Saal gewidmet ist. Wallfahrten von Bildhauern führten ins British Museum, wo die von der Akropolis geraubten Elgin Marbles für jedermann sichtbar ausgestellt waren."

Weiteres: In der FR wünscht sich Harry Nutt statt eines festgefahrenen Lagerstreits um koloniale Raubkunst mehr Interesse für afrikanische Kultur und Geschichte. Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Rosemarie Castoro im Wiener MAK (Standard) und eine Schau über Josephine Baker in der Bonner Bundeskunsthalle (Monopol).
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Bühne

Peter Laudenbach windet sich in der SZ vor Scham angesichts der Peinlichkeiten, die das Berliner Theatertreffen in diesem Jahr von der ersten Minute an begleiteten, als die Leiterinnen das Publikum baten, den blühenden Kastanien zu applaudieren (und dann auch noch einige dieser Bitte folgten). Verheerend findet er aber, dass das traditionelle Begleitprogramm mit Osteuropa-Schwerpunkt quasi als eigenes Festivals abgekoppelt wurde: "Das ist nicht besonders klug, schließlich ist die Jury-Auswahl die Geschäftsgrundlage des Theatertreffens, die es zu einem Gradmesser des deutschsprachigen Gegenwartstheaters macht. Diese Tollpatschigkeit ist zwar unhöflich, wäre aber nicht weiter schlimm, wenn das Rahmenprogramm zumindest halbwegs interessante Veranstaltungen bieten könnte. Doch davon kann keine Rede sein. Zu den Peinlichkeiten gehört etwa ein 'Emptiness Treffen' mit dem verlockenden Angebot, einfach mal gar nichts zu machen und 'gemeinsam alleine zu sein'."

Besprochen werden Peter Konwitschnys "Siegfried"-Inszenierung an der Oper Dortmund (FR) und Franz Schrekers Oper "Der singende Teufel" an der Oper Bonn (die Welt-Kritiker Manuel Brug arg fad erschien, auch wenn er die Reihe "Fokus 33" ausgesprochen verdienstvoll findet, die sich untergegangenen Werken verschrieben hat).
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Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Ebenfalls in der NZZ besucht Thomas Ribi die Anglistin und feministische Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, die heute an der Universität Zürich ihre Abschiedsvorlesung hält. Marc Reichwein erinnert in den "Actionszenen der Weltliteratur" daran, wie der spätere "Bambi"-Autor Felix Salten 1896 im Wiener Café Griensteidl Karl Kraus ohrfeigte.

Besprochen werden unter anderem Jan Philipp Reemtsmas Biografie über das Universalgenie Christoph Martin Wieland (taz), Christoph Heins "Unter dem Staub der Zeit" (Tsp), Ágnes Nemes Nagys "Mein Hirn: ein See" mit ausgewählten Gedichten (NZZ), T. C. Boyles "Blue Skies" (NZZ), Karl Alfred Loesers "Requiem" (Tsp), Matthias Glaubrechts Biografie über Adelbert von Chamisso (Standard), Pankaj Mishras "Goldschakal" (SZ) und Satoshi Yagisawas "Die Tage in der Buchhandlung Morisaki" (FAZ).
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Musik

Für The Quietus porträtiert Jude Rogers die britische Folkmusikerin Shirley Collins, die am Freitag mit "Archangel Hill" ihr drittes Album in sieben Jahren veröffentlicht, nachdem sie zuvor jahrezehntelang verstummt war.  "Es wäre ein Leichtes, sich Shirley als strahlende Urgroßmutter der englischen Folk Music vorzustellen, wenn man sich die schönen Publicity-Fotos zu ihrer jüngsten Albentrilogie ansieht. ... Im echten Leben aber balanciert sie ihre Liebenswürdigkeit mit einer ganz besonders hartnäckigen Entschlossenheit aus, den Ohren Lieder über das Leben der Arbeiterklasse aus vergangenen Tagen nahezubringen. Den düsteren Stoff hat sie in ihrer annähernd 70 Jahre währenden Karriere schon oft angefasst: mehrfache Morde, Suizide, aber auch Sex und Lust. ... 'Ich hatte immer den Eindruck, dass die Arbeiterklassen - besonders die Arbeiterklassen - in der Geschichte übergangen werden. Nichts wird über sie geschrieben', wie sie sagt. 'Und diese Lieder waren ihre Lieder, sie geben einem gewissermaßen ein paar Hinweise darauf, was in ihrem Leben wirklich vor sich gegangen ist.'"



"Kein Zweifel: KI macht Musik 'great again'", ruft Adrian Lobe in der Welt, nachdem er eine synthetische generierte Coverversion mit Donald Trump, der Harry Styles singt, und eine dank KI von Freddie Mercury eingesungene Version von Michael Jacksons "Thriller" gehört hat.



Besprochen wird eine Aufnahme von Rolf Riehms "Fremdling, rede - Ballade Furor Odysseus" (FR).
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