Efeu - Die Kulturrundschau

Lieber nicht wissen, was genau da passiert

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27.05.2023. Zwischen all der Filmkunst in Cannes erkennt der Tagesspiegel mit Ken Loachs "The Old Oak" über syrische Flüchtlinge in einer englischen Bergarbeiterstadt, was Kino eben auch sein kann. Erst auf den zweiten Blick bemerkt die SZ das Grauen des Krieges hinter den formschönen Metallzylindern in einer Dresdner Ausstellung mit Ukrainischer Kunst von 1912 bis in die Gegenwart. Die FAZ tanzt sich frei, wenn Kirill Serebrennikow Barockmusik, 68er-Proteste und Parolen der "Letzten Generation" auf die Bühne des Hamburger Thalia Theaters bringt. Die taz  erweitert mit dem Zirpen und Glucksen von Jan St. Werner in Baden-Baden ihre Wahrnehmung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2023 finden Sie hier

Film

Was Kino auch sein kann: kunstlose Kunst in "The Old Oak"

Mag ja sein, dass Cannes in diesem Jahr mehr denn je alte Männer und Platzhirsche der Filmkunst präsentiert hat, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Aber dafür lag eben auch ein "goldener Glanz über dem Festival". Und dann kam zum Ende auch noch Ken Loach mit "The Old Oak" über Spannungen in einer ehemaligen Bergarbeiterstadt im Norden Englands, als dort Flüchtlinge aus Syrien ankommen. "Es wurde in den vergangenen Tagen viel über den Zustand der Filmkunst gesprochen, die in diesem Jahr seit Langem wieder mal dem eigenen Anspruch des Cannes Festivals entspricht. Wie kann die Filmkritik hier also einem Film gerecht werden, der weder ästhetisch ambitioniert ist noch erzählerisch Neuland betritt. Sondern der mit einfachsten Mitteln so vehement und empathisch etwas über den Zustand der Welt erzählt, dass es im Kinosaal anschließend für einen Moment ganz still wird? ... Zwischen all der Filmkunst in diesem Jahr wird einem plötzlich wieder bewusst, was Kino eben auch sein kann."

Außerdem vom Festival: Für den Filmdienst unternimmt Josef Lederle Streifzüge durch die Nebensektionen des Festivals, um zu überprüfen, ob es "neben seinen vielen Rollen auch Stoffe und Denkweisen präsentiert, die sich gängigen Mustern entziehen". Tobias Kniebe plauscht in der SZ mit der neuen Präsidentin des Festivals, Iris Knobloch. Besprochen wird Wim Wenders' "Perfect Days" (taz, ZeitOnline, Filmdienst, mehr dazu bereits hier). Außerdem liefert Artechock fleißig Notizen und Podcasts vom Festival.

Abseits vom Filmfestival in Cannes: Alexander Menden geht in der SZ auf die Knie vor den Dialogen der sich eben ihrem Ende nähernden HBO-Serie "Succession", der es tatsächlich nochmal gelungen ist, ein weltumspannendes Popkultur-Phänomen zu werden: "Das ist es, was Succession zu einem so komplexen, befriedigenden Erlebnis macht: Armstrong und seinem Team ist es gelungen, über vier Staffeln hinweg Menschen zu zeigen, deren Leben so grotesk und abgehoben ist, dass sie sich durch ihre schiere Existenz selbst parodieren. Und die dennoch, trotz mangelnder Fallhöhe, in ihrer Versehrtheit die exemplarische Tragik und Eloquenz eines dynastischen Renaissance-Dramas erreichen. 'Ich bin ein Mann, an dem man mehr gesündigt, als er sündigte', klagt König Lear. Das würde Logan Roy - zu Unrecht - sicher auch für sich in Anspruch nehmen. Aber er würde immer hinzufügen: 'Fuck off'."

Besprochen werden der auf Paramount gezeigte Neo-Western "1923" mit Helen Mirren und Harrison Ford (Tsp), die Amazon-Fantasyserie "Der Greif" nach dem gleichnamigen Roman der Hohlbeins (FAZ, ZeitOnline), Peter Thorwarths auf Netflix gezeigte Nazi-Groteske "Blood & Gold" (Tsp, SZ),
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Literatur

Karen Krüger berichtet in der FAZ von politischen Turbulenzen rund um die Buchmesse Turin, wo erbittert über Meinungsfreiheit und das Verhältnis des eher linken Literaturbetriebs zur deutlich rechten Regierung Meloni diskutiert wurde - zumal eben erst Carlo Rovellis Auftritt als Redner bei der Frankfurter Buchmesse, wo Italien Gastland ist, abgesagt wurde. "Seine harsche Kritik an Verteidigungsminister Guido Crosetto auf einer Gewerkschaftsbühne am 1. Mai in Rom hatte genügt, um ihn zur Persona non grata zu erklären. ... Wenn jemand wie Rovelli Italien in Frankfurt vertrete, könnte das zu institutionellen Peinlichkeiten führen, begründete Ricardo Franco Levi, der Präsident des italienischen Verlegerverbandes, der auch der Regierungsbeauftragte für den Ehrengastauftritt ist, die Entscheidung. Der Aufruhr in Italiens Verlagswelt und einigen politischen Parteien war gewaltig."

"Es ist ein Meisterwerk eigenen Rechts, das hier entsteht", schwärmt Andreas Platthaus in der "Bilder und Zeiten"-Beilage der FAZ beim Lesen von Lukas Kummers seit ein paar Jahren erscheinenden Adaptionen von Thomas Bernhards autobiografischem Zyklus. Der Comiczeichner "ist ein Meister ausufernder Strenge. Die litaneiartige Struktur der Bernhard'schen Prosa findet bei ihm Widerhall in der Wiederholung einzelner Bilder: als gezeichneter Cantus firmus zentraler Motive und Stimmungen des Erzählens. Seine Hauptpersonen sind nahezu gesichtslos, während gerade von Bernhard als anonyme Kollektive geschilderte Gruppen individuelle Züge erhalten. ... Kummer legt da ein Panoptikum an, das von Stefan Zweig über Arnold Schönberg und Elias Canetti bis zu André Heller oder Gottfried Helnwein reicht - ein eigener Kommentar von Bernhard'scher Bosheit."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die Welt hat Mara Delius' Reportage über ihren Besuch bei der Schriftstellerin Helga Schubert online nachgereicht. Für einen Essay in der "Bilder und Zeiten"-Beilage der FAZ fragt sich der Schriftsteller Matthias Jügler, wie mit Knut Hamsun einer der "Mitbegründer der literarischen Moderne" ausgerechnet der Nazi-Ideologie anheim fallen konnte. Der Schriftsteller Uli Hannemann ärgert sich in der taz, dass man schon für Nichtigkeiten in der literarischen Ausgestaltung auf politische Empörung trifft und damit selbst kleinste Fische von den Off-Lesebühnen gedrängt werden: "Das nenne ich dann mal: mit Kanonen auf alte graue Spatzen schießen." Martin Seng legt uns in einem 54books-Essay die Horror-Manga von Junji Itō ans Herz. Tilman Spreckelsen lustwandelt für die FAZ durch die Casa di Goethe, die sich zum 25. Jubiläum ein bisschen frisch gemacht hat.

Besprochen werden unter anderem Helga Schuberts Essay "Über Anton Tschechow" (Tsp), J. M. Coetzees "Der Pole" (SZ), Susanne Fritz' "Heinrich" (Freitag) und Alan Hollinghursts "Der Hirtenstern" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Tetiana Yablonska, Samen, 1969 Öl auf Leinwand, 75 cm x 90 cm.

Hinter der vordergründigen Poesie der Werke, die in der Ausstellung "Kaleidoskop der Geschichten. Ukrainische Kunst 1912-2023" im Dresdner Albertinum gezeigt werden, erkennt Peter Richter in der SZ unschwer die Bezüge zu "Krieg, Gewalt und Bitterkeit": "In einem Regal mit Skulpturen aus dem Depot des Albertinums muss man zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass der Künstler Nikita Kadan zwischendrin zerborstene Metallfunde aus dem Kriegsgebiet einsortiert hat oder die geometrisch formschönen Metallzylinder von Bomben. Der Kiewer Künstler Sascha Kurmas (in der englischen Transliteration der Wandtexte hier: Sasha Kurmaz) zeigt Fotocollagen, die eigentlich ein Kriegstagebuch sind - mit kunsthistorischer Anmutung als bitterer Pointe: Ein Bild, das an Gordon Matta-Clarks berühmte Zersägung seines New Yorker Wohnhauses erinnert, zeigt tatsächlich Durchblicke, die von Granaten in Kiewer Bauten geschossen wurden. Man sieht, wie in einem ikonografischen Atlas, immer wieder Fotos von Fingern, die auf Straßen zeigen, von denen man lieber nicht wissen will, was genau da passiert ist."

"Wer wir sind" lautet vollmundig der Titel der Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, die "Blicke auf die Strukturen unserer Migrationsgesellschaft" verspricht. In der Welt bleibt Hans-Joachim Müller allerdings deutlich unterfordert zurück. Kein Kommentar zu überforderten Verwaltungen, "Migranten-Clans" oder zunehmendem Antisemitismus, stattdessen "Kirchentagsrhetorik", meint er: "Fotodokumente von der 'Willkommenskultur' des Jahres 2015, vom überschwänglichen Teddybären-Verteilen an syrische, afghanische und irakische Kinder. Oder Erinnerungen an kernige Politiker-Prosa: 'Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze" (Helmut Schmidt, Bundeskanzler, 1982). Das alles ist nicht ohne Eindruck und trägt mehr zum beschämten Wir-Gefühl bei als so mancher künstlerische Debattenbeitrag."

Außerdem: In der FAS porträtiert Laura Helena Wurth die taube Künstlerin Christine Sun Kim. Besprochen wird eine neue Dauerausstellung in Ernst Barlachs Atelierhaus am Heidberg in Güstrow (Tsp).
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Bühne

Szene aus "Barocco". Foto: Fabian Hammerl

2018 noch in Moskau aufgeführt, hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikow am Hamburger Thalia Theater sein Stück "Barocco" nun neu inszeniert, aber so ganz wird Till Briegleb in der SZ nicht klar, worauf Serebrennikow hinauswill, wenn er Barockmusik von Monteverdi, Purcell, Rameau oder Bach mit den Vorgängen im Protestjahr 1968 kurzschließt: "Ein begeisterndes Gesangsensemble um die russische Sopranistin Nadezhda Pavlova und den Countertenor Odin Biron überwältigt die Emotionen mit tragischen Arien. Die politischen Spielszenen leiden aber vielfach an einem Grundproblem von Serebrennikovs Regiestil, dem Hang zum Plakativen und Pathetischen. Da werden viele Statisten mit den Parolen der 'Letzten Generation' aufgestellt, während das Ensemble die Sponti-Sprüche der 68er aufsagt."

"Der Abend ist bewegend, großartig und aufrüttelnd", jubelt indes Wiebke Hüster in der FAZ, die hier auch einen "Schrei nach Freiheit" zu vernehmen meint: "Das Körperliche, die musikalisch phrasierte Bewegung in Serebrennikows 'Barocco' ist konstitutiv für das Organisationsprinzip des Abends als einer prachtvollen assoziativen Entfaltung. Hier kommt Andy Warhol ebenso vor wie die Pariser Studentenrevolten und die Klima-Aktivisten der Gegenwart. Bereits William Forsythe entlehnte seine Ideen der choreographischen Bewegungsorganisation seinem inneren Bild barocker Fülle und ihrer Ausbreitung im Raum. Die atemberaubenden neuen Perspektiven des postmodernen Tanzes von Forsythe hatten mitunter etwas Blendendes. Serebrennikows Choreografen Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin gelangen vom selben Ausgangspunkt zu ganz anderen, viel inklusiveren, anschaulicheren Körperbildern." Zu einer "Flucht in die Schönheit" lässt sich hingegen Nachtkritiker Stefan Forth hinreißen, auch wenn es ihm gelegentlich an "Tiefenbohrung" mangelt.

Außerdem: Nach allerhand Skandalen und identitätspolitischen Debatte fragt René Hamann in der taz nach der Daseinsberechtigung des Theaters: "Bleibt das Theater im Erstarrungsmodus? Ist der Weg der radikalen Repolitisierung der Richtige, wenn eh immer nur dieselben sich das anschauen, ein reines Bestätigungs- und Selbstbestätigungstheater?" In der taz stellt Anna Schors den Verein Bühnenmütter e. V. vor, der sich für Künstlerinnen mit Kind am Theater einsetzt.

Besprochen werden das Tanzfestival "Leisure & Pleasure" in den Berliner Sophiensälen (Tsp), Stefan Bachmanns Inszenierung von Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" am Residenztheater (FAZ), Milo Raus Inszenierung der nach Brasilien verlegten "Antigone" bei den Wiener Festwochen (SZ, Standard), George Petrous Inszenierungen "Semele" und "Hercules" bei den Händel-Festspielen in Göttingen (FAZ) und Christoph Mehlers Inszenierung von Finegan Kruckemeyers Stück "Der lange Schlaf" am Theater Oberhausen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Sehr begeistert kommt tazler Julian Weber von der Klangkunst-Installation "Space Synthesis" nach Hause, die der Elektromusiker Jan St. Werner im Staatlichen Kunsthaus Baden-Baden eingerichtet hat. Das hier erlebbare "Schmatzen, Surren, Zirpen und Glucksen ist nicht weit von den akustischen Sphären des Alltags und ihrer Soundlogos, Klopfzeichen und Signaltöne entfernt. St. Werner sensibilisiert die Wahrnehmung seiner Hörer:innen. ... Haut, Haare und Trommelfell der Zuhörenden stehen im Dialog mit dem musikalischen Material, das St. Werner mit der Software New Pulsar Generator komponiert hat, es ist eine körperliche Erfahrung. ...  Mit 'Space Synthesis' wird die Reise von Klang im Raum zur Auseinandersetzung mit 'Geschichte als feststehendes Wissen', offen, ohne Ende inszeniert. St. Werner gelingt es, Klang in allen Räumen freizulegen, ohne ihn zu bändigen, so dass auch die Gedanken der Hörenden frei darin umherschweifen."

"Die Kunstfreiheit gilt auch für die mieseste Kunst des Erdballs", seufzt Joachim Hentschel in der SZ angesichts der sich abzeichnenden Posse, dass die Berliner Polizei wohl Ermittlungen gegen Roger Waters wegen Verdachts auf Volksverhetzung eingeleitet hat, weil der umstrittene Musiker im Rahmen einer allerdings offensichtlichen Rollenperformance bei seinen Konzerten (er spielt einen Rockstar, der sich zum faschistischen Diktator aufspielt) in einer Art Nazi-Uniform zu sehen ist.

Weitere Artikel: Volker Hagedorn erzählt im VAN-Magazin die Geschichte der Auseinandersetzungen um die Neue Musik in der Nachkriegsmoderne. Felix Zimmermann resümiert im VAN-Magazin das Mahler-Festival in Leipzig, von dem Arte einige Mitschnitte präsentiert. Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit dem Sänger Ian Bostridge. Detlef Diederichsen hat kein Interesse daran, sein "musikliebendes Herz über den Backkanal in die Datenmühlen" zu geben und irgendwelche Algorithmen zu füttern, wie er in seiner taz-Glosse erzählt. Daniel Schulz plauscht in der taz mit Rachid Jadla, der als Sonne Ra in Thüringen gegen Nazis rappt. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen befasst sich Arno Lücker in dieser Woche hier mit Shirley Walker und dort mit Claudia Sessa. Alexander Gurdon gratuliert im VAN-Magazin dem Filmkomponisten Danny Elfman zum 70. Geburtstag. Katharina Granzin gibt in der taz Klassiktipps für den Sommer. Robert Mießner wiederum gibt ebenfalls in der taz Sommertipps für Jazz- und Experimental-Freunde.

Besprochen werden ein Messiaen-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Simone Young (Tsp), ein Konzert von Anne-Sophie Mutter und Arkadi Volodos (Standard), Peter Gabriels Konzert in Berlin (Welt), das Gedenkkonzert für Jeff Beck (FAZ), das Comeback-Album von Peter Fox (Welt) die ABBA-Doku "Take a Chance" auf Amazon Prime (SZ), der Tourauftakt von Depeche Mode in Leipzig (SZ), sowie Peter Kruders und Roberto Di Gioias Ambient-Album "--------" (Standard-Kritiker Christian Schachinger leidet unter dem "im falschen Moment durchaus Depressionen fördernden Klavier").
Archiv: Musik

Design

In der NZZ singt Silke Wichert ein Loblied auf die Sonnenbrille, die selbst aus dem gelegentlich sanft vertattert auftretenden Joe Biden eine richtig coole Socke macht. "So simpel das Prinzip auf den ersten Blick sein mag - ein Rahmen, ein paar getönte Gläser - so eindrucksvoll ist die Wirkung. Als Accessoire ist die Sonnenbrille im wahrsten Sinne des Wortes derart 'in your face', dass sie den ganzen Gesichtsausdruck verändert. Die Brille nimmt den Platz der Augenpartie wie eine künstliche Prothese ein und sorgt dort für durch und durch symmetrische Proportionen. Laut Studien steigert das bekanntlich die Attraktivität einer Person. Das Gesicht wirkt auf einmal wie mit der Wasserwaage geradegerückt."
Archiv: Design