Efeu - Die Kulturrundschau

Adonis, ungeliebt

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02.06.2023. Die Welt freut sich auf eine Rainald-Goetz-Uraufführung am Deutschen Theater Berlin und hofft auch sonst auf weniger biedere Gemütlichkeit am DT unter der neuen Intendanz von Iris Laufenberg. FAZ und Tagesspiegel empfehlen begeistert das geheimnisvolle vierstündige Erzählkunstwerk "Trenque Lauquen" der Filmregisseurin Laura Citarella. Es gibt kaum Vergleichbares im Kino von heute, versichert auch Artechock. Die SZ begeistert sich für die Ökonomie radikal begrenzter Klänge und Klangbewegungen in Salvatore Sciarrinos Oper "Venere e Adone".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.06.2023 finden Sie hier

Film

Dem Wesen des Geheimnisses auf der Spur: "Trenque Lauquen" von Laura Citarella

Rund um die argentinische Kleinstadt Trenque Lauquen häufen sich die rätselhaften Ereignisse: Unter anderem taucht ein Gestaltwandler aus einem See auf. Regisseurin Laura Citarella lässt diese Geheimnisse in ihrem gleichnamigen Film lange stehen, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. "Offenheit ist das wichtigste Prinzip in diesem außergewöhnlichen zweiteiligen vierstündigen Erzählkunstwerk, in dem es vor allem darum zu gehen scheint, Spuren auszulegen, die sich dann in der Landschaft verlaufen." Es ist ein Film, der zwar "deutlich in die offene Wildnis der unbezähmbaren Fantasie" führt, doch "von einer surrealistischen Beliebigkeit findet sich hier nichts. Stattdessen gibt es an der Naht zwischen den beiden Teilen auch einen politischen Gegenwartsbezug, als nämlich rund um die 'Lagune' auch Spekulationen über unrechtmäßige Privatisierung auftauchen."

Es gibt kaum "Vergleichbares im Kino von heute", findet Rüdiger Suchsland auf Artechock: "Wir haben es mit einem großen, sehr ungewöhnlichen Werk zu tun, das keine Zusammenfassungen oder Vereinfachungen zulässt, das ein Rätsel ohne mögliche Lösung präsentiert, und eher das Wesen des Geheimnisses erforscht - des Geheimnisses der Liebe, des Kinos, der Identität selbst." Auch Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche staunt über "ein seltenes Exemplar aus dem Reich der Kinomythen".

Weitere Artikel: Die Welt hat Daniel Kothenschultes Ende der Zehnerjahre geführtes Gespräch mit dem kürzlich verstorbenen Kenneth Anger online nachgereicht. Besprochen werden Axel Ranischs Opernfilm "Orphea in Love" (Tsp, critic.de, mehr dazu hier), Ti Wests Horror-Hommage "Pearl" (critic.de, unsere Kritik hier), der Animationsfilm "Spider-Man: Across the Multiverse" (Tsp, Filmdienst, Welt, mehr dazu bereits hier), Astar Elkayams "Two" über den Kinderwunsch eines lesbischen Paars (taz) und David Wagners "Eismayer" (taz).
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Kunst

Im Tagesspiegel berichtet Birgit Rieger vom Eröffnungswochenende "Acts of Opening Again" des Berliner Hauses der Kulturen. In der NZZ stellt Philipp Meier den Unternehmer Charles Drenowitz und dessen Sammlung chinesischer Kunst vor, die gerade im Zürcher Museum Rietberg ausgestellt wird.

Besprochen werden eine Ausstellung von Charlotte Salomon im Münchner Lenbachhaus (Tsp) die Ausstellungen "Tilla Durieux - Eine Jahrhundertzeugin und ihre Rollen" im Kolbe-Museum (SZ), die Ausstellung "Ufo 1665 - Die Luftschlacht von Stralsund" in der Kunstbibliothek Berlin (FAZ) und Beethovenkarikaturen im Beethoven-Haus in Bonn (FAZ).
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Literatur

In einem neuen "Vorwort" stellt Angela Schader den schottischen Autor J. O. Morgan und seinen Roman "Der Apparat" vor: "Die Ankündigung des Buches löste bei der Planung der 'Vorworte' eine Art Funkensprung aus, im Blick auf den unlängst hier vorgestellten neuen Roman des Briten Tom McCarthy - denn wie in diesem geht es auch bei J. O. Morgan um die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Technologie. Wo aber McCarthy in "Der Dreh von Inkarnation" ein atemberaubendes Panoptikum real existierender Technologien entwirft und diese allenfalls durch einen zentralen Handlungsstrang, in dem es um die Realisierung eines galaktischen Blockbusters geht, auf die Ebene der Science-Fiction projiziert, ließe sich Morgans Entwurf als moderate Form der Retro-Science-Fiction bezeichnen. Zu Beginn des Buches werden einige Marker gesetzt, die ins 20. Jahrhundert zurückverweisen: So wird der titelgebende Apparat mit den bombierten, zweitürigen Riesen-Kühlschränken verglichen, die in den Fünfzigerjahren der letzte Schrei waren, die provisorische Gebrauchsanleitung ist mit schwarz-rotem Schreibmaschinenband getippt, später ist von einem baumelnden Telefonhörer die Rede. Und während bei McCarthy die Technologie die unbestrittene Hauptrolle spielt und ihre Dominanz durch die weitgehende Ausblendung des 'Faktors Mensch' noch betont wird, wählt Morgan den umgekehrten Ansatz. Sein Apparat bleibt skizzen- und dessen Funktionieren, durchaus beabsichtigterweise, schleierhaft, während das Verhalten der Menschen gegenüber der immer mächtiger ausgreifenden Innovation unter verschiedensten Aspekten ins Bild gesetzt wird." Alle Buchvorstellungen aus unserer "Vorwort"-Reihe finden Sie hier.

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt hier, dort und da in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Isabelle Franquin, die Tochter des großen belgischen Comiczeichners André Franquin wehrt sich juristisch gegen eine Fortsetzung des Cartoonklassikers "Gaston", berichtet Jean-Martin Büttner im Tages-Anzeiger. Außerdem gibt es eine neue Ausgabe des CrimeMag - alle Rezensionen, Essays, Porträts und Empfehlungen finden Sie hier.

Besprochen werden Norman Maneas "Der Schatten im Exil" (online nachgereicht von der FAZ), J.M. Coetzees "Der Pole" (FR), der Briefwechsel von Ludwig Wittgenstein und Ben Richards (Tsp) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Malinda Los "Last Night at the Telegraph Club" (SZ).
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Bühne

Sciarrino: Venere e Adone, Szenerie. ©Brinkhoff/Mögenburg.



Eine virtuose, so abstrakte wie atmosphärisch dichte Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper "Venere e Adone", inszeniert von Georges Delnon und dirigiert von Kent Nagano, erlebte SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber an der Staatsoper Hamburg, "eine Tonwelt des unaufhörlich Leisen, Stockenden, jeden musikalischen Fluss Aufbrechenden am Rande des Schweigens. Um sich, mit seinen Worten, dem 'Prinzip der variierenden Wiederholung einzelner klar definierter Elemente' auszuliefern. Der Ökonomie radikal begrenzter, um sich kreisender Klänge und Klangbewegungen. Auch in der Venus-Adonis-Oper also: Pochende, an- und abschwellende Tongebilde, entwickelt aus ummantelten Einzeltönen im Vokalen und Instrumentalen, graben sich ein ins Ohr, entfalten ein hermetisch 'eintöniges' Gewebe, den irrlichternden Sog der Reduktion. Und erzwingen die höchste Anspannung des Hörens, der Beobachtung. Das ist nicht minimal music, Sciarrinos Musik meint etwas Anderes: 'Poco succede, quasi niente' - Wenig geschieht, fast nichts." Auch Florian Zinnecker nimmt diese Oper in der Zeit als große Kompositionsleistung wahr und ergänzt, die Erzählperspektive gebe ein Wildschwein: "Im Moment von Adonis' Tod tauschen Mensch und Kreatur dann auch noch ihre Seelen, Venus beweint das Tier im Menschenleib, während Adonis, ungeliebt, im Schweinsgalopp davonjagt."

Händel: Serse, Szenerie. © Anna Kolata.

Ein herrliches Vergnügen erlebt FAZ-Kritiker Gerald Felber bei den Hallenser Händel-Festspielen mit Händels Oper "Serse" in der Inszenierung von Louisa Proske. Klamaukig, aber dennoch mit ernsten und ernstzunehmenden Untertönen, besonders überzeugend dabei die Mezzosopranistin Anna Bonitatibus, findet Felber: Sie interpretiert "das Largo, unerachtet der skurrilen Situation, mit einer in dieser Szenerie fast verstörend innigen und berührungsempfindlichen Menschlichkeit. Auch später verleiht sie ihrer eigentlich à la Trump hyperaktiven und großkotzigen Rollenprägung immer wieder Momente zerbrechlicher Infragestellung, entfaltet eine enorme emotional-vokale Palette zwischen rustikal auftrumpfender Selbstüberredung und zerbrechlicher Lyrik. Hierin liegt sie auf der Linie einer Inszenierung, die bei aller Freude am hellen Klamauk (nicht ganz ohne Zeigefinger: dreinprügelnde Polizisten) nie vergisst, nach den Verletzungen ihrer Protagonisten und den daraus folgenden Motivationen zu fragen."

Ein wenig spöttelnd beobachtet Jakob Hayner für die Welt Iris Laufenbergs erste Pressekonferenz als neue Intendantin des Deutschen Theaters: "Das Spielzeitheft im Neunziger-Look bietet das Gimmick, dass man sich wie beim Rubbellos die Füllwörter zum neongrün auf violett leuchtenden 'Theater' freirubbeln kann. Zum Beispiel: dynamisches, drahtloses, duftes, denkwürdiges Deutsches Theater. Eine Variation in D-Dur mit einem Anflug von Beliebigkeit?" Beeindruckt ist er aber dann doch von der Ankündigung einer Rainald-Goetz-Uraufführung Ende September - "ein Coup. Angekündigt wird 'Baracke' vielversprechend als Stück über den NSU, die RAF, den Osten, den Westen und die Faszination des Bösen. Mit der großen Goetz-Überraschung unterstreicht Laufenberg zudem ihren Anspruch, der Gegenwartsdramatik eine Bühne zu geben." Ob das reicht für ein interessantes Programm? Hayner bleibt skeptisch, da Laufenberg ansonsten vor allem auf die "Generation der Halbetablierten" und Beständigkeit setze. "Es ist schon eine Mischung aus Risiko und Sicherheit, die sich da ankündigt", meint auch Rüdiger Schaper im Im Tagesspiegel.

Außerdem: Im Interview mit der SZ spricht Sophie Rois, die demnächst an der Volksbühne in einem Pollesch-Stück mit dem Titel "Mein Gott, Herr Pfarrer!" zu sehen ist, über ihren Glauben und den Katholizismus als großes Theater.
Archiv: Bühne

Musik

Carlota Brandis befasst sich in der FAZ mit den verschiedenen Reaktionen in der Musikbranche auf jüngste KI-Mashups, bei denen zum Beispiel plötzlich Freddie Mercury einen Song von Michael Jackson singt oder eine britische Band ein ganzes Album im Stil von Oasis vorlegt, inklusive der KI-generierten Stimme von Liam Gallagher. Nick Cave und andere reagieren sehr verschnupft, Musikerinnen wie Grimes und Holly Herndon hingegen umarmen die Möglichkeiten fasziniert: Letztere hat gar ein Online-Portal einrichten lassen, die zum Erstellen solcher Mashups ermuntert. "Das Projekt heißt 'Holly+', Herndon nennt es liebevoll 'meinen digitalen Zwilling'. Ihre Stimme soll neben ihrem Künstlerdasein ein Eigenleben bekommen. ... Für Herndon ist das 'Identity play' - mit unendlich vielen Möglichkeiten und Chancen. Es gibt nun Lieder von ihr, in denen sie Volksmusik aus Katalonien singt oder aber Bertolt Brechts Moritat von Mackie Messer. Dabei spricht die Holly Herndon aus Fleisch und Blut weder Katalanisch noch Deutsch."

Außerdem: Ein Rechercheteam der SZ sammelt (verpaywallt) eher schlechte Erfahrungen von weiblichen Rammstein-Fans, die bei Konzerten via Social-Media-Rekrutierung in die "Row Zero" und auf Backstage-Partys gelockt wurden, wo sich Sänger Till Lindemann angeblich aggressiv und grob übergriffig aufgeführt haben soll, Esther Rüdiger hingegen sammelt für die NZZ eher positive Erfahrungen entsprechender Fans. Jérôme Buske ärgert sich in der Jungle World darüber, dass die Technoszene lieber zum Rave beim Leipziger Völkerschlachtdenkmal aufruft statt dieses stürzen zu wollen. Für das VAN-Magazin spricht Hugh Morris mit der Komponistin Anna Thorvaldsdottir. Karl Fluch schlendert für den Standard durch die neue Ausstellungsabteilung "Music Lounge" des Technischen Museums Wien. Nadine A. Brügger wirft für die NZZ einen Blick auf die Reaktionen, die die Sängerin Sia dafür geerntet hat, dass sie ihre Autismus-Diagnose öffentlich gemacht hat.

Besprochen werden Arlo Parks' Album "My Soft Machine" ("handwerklich durchaus solider Soulpop", findet tazlerin Stephanie Grimm), Herbert Grönemeyers Auftritt in Zürich (NZZ, TA), ein Konzert von Kings of Leon (Tsp), ein Auftritt des Pianisten Alexandre Tharaud in Berlin (Tsp), das neue Album der Foo Fighters (SZ) und Jen Clohers Album "I am the River, the River is me" (FR). Außerdem präsentiert das Logbuch Suhrkamp die neue Lieferung aus Thomas Meineckes "Clip/Schule ohne Worte":

Archiv: Musik