Efeu - Die Kulturrundschau

Männerschlagerkitschnudelei

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2024. Die FAZ ist ganz zufrieden mit der Kunstbiennale in Venedig. Die taz erzählt, wie die Biennale zum Wohle des "Globalen Südens" westliche Sanktionen gegen Russland unterläuft. Im Blick auf Ryūsuke Hamaguchis Film "Evil Does Not Exist" fragt sich die Filmkritik, ob es eine ökologische Filmästhetik gibt. Der Schriftsteller Christof Weigold erzählt im Filmdienst, warum er keine Drehbücher mehr schreibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Anders als Hanno Rauterberg gestern in der Zeit (unser Resümee) ist Stefan Trinks heute in der FAZ eigentlich recht zufrieden mit Adriano Pedrosas Biennale di Venezia, die vor allem unbekannte Künstler aus dem "Globalen Süden" versammelt, und das ganz "ohne Schaum vorm Mund": "Will man hier in der Vielsprachigkeit der Positionen ein verbindendes Oberthema finden, wäre es wohl das in den vergangenen Jahren ohnehin virulente textile Verweben und Verknüpfen von Menschen und Ideen mittels Kunst, ganz konkret auch im Sinne der in zahlreichen Ländern, die in Venedig nun in den Fokus rücken, viel unmittelbareren und lebensnäheren Web-, Knoten- und Textilkünste. Der Knoten als Ur- und Mikroform aller schützenden Bekleidung, von Zelten - und von Leinwänden. Wie überlebenswichtig das Knüpfen von Netzen in Kriegszeiten von Künstlerseite aus sein kann, stellt ein Künstlerkollektiv im Ukraine-Pavillon im Arsenale aus: unter dem Titel 'Net-Making' zeigen sie, wie nicht nur das Verknüpfen untereinander, sondern ganz konkret das gemeinsame Schaffen von Camouflage-Netzen und kunstvoller Tarnung schon seit dem russischen Angriff 2014 zahlreiche Leben schützte."

Peter Richter erscheint in der SZ die Biennale genau wie Rauterberg zu "konventionell und museumsartig". Zudem man "gerade von Besuchern mit sogenanntem Migrationshintergrund hinter vorgehaltener Hand immer wieder auch Unmut hören konnte über die unterkuratierte Überfülle an Ähnlichem. Über eine Reduktion auf Herkünfte wurde geklagt. Der Vergleich mit den Menschenzoos auf kolonialzeitlichen Völkerschauen wurde gezogen. Wahrscheinlich muss man diese Ausstellung aber ohnehin als die letzte Blüte eines Trends und eines Sounds begreifen, die die vergangenen zehn Jahre geprägt haben, bevor das schon sehr bald in etwas ganz anderes umschlagen könnte. Sind demnächst also deutsche Beiträge zu erwarten, die das geheime Wissen des Teutoburger Walds beschwören, sich am Limes reiben und überhaupt am Kolonialismus der Römer, denen wir das Wort schließlich verdanken? Möglich scheint alles."

Der Biennale geht's ja wie eigentlich jeder Kunstveranstaltung heutzutage um den "globalen Süden". Dazu gehört für die Biennale-Kuratoren aber offenbar indirekt auch Russland, das zwar selbst nicht teilnimmt, seinen Pavillon aber Bolivien überlassen hat, erzählt  Yelizaveta Landenberger in der taz: "Bolivien selbst soll sich gemäß Pressesprecher des Pavillons an Russland gewandt haben, um angesichts der anstehenden 200-Jahr-Feier seiner Staatsgründung im nächsten Jahr sich bereits vorab auf der internationalen Kunstschau präsentieren zu können. Im Gegenzug zeigt sich Bolivien bereit, sein großes Lithiumvorkommen nach Russland zu exportieren. Man braucht es etwa für die Herstellung von Batterien. Durch den Verleih des Pavillons an das südamerikanische Land ergibt sich für Russland eine Win-win-Situation: Der Putinstaat macht sich nicht nur bei Bolivien beliebt, sondern inszeniert sich zugleich als Vorreiter im dekolonialen und antiimperialistischen Kampf." Kurzum: Für den "globalen Süden" werden sogar Sanktionen des Westens unterlaufen! Im Tagesspiegel schreibt Birgit Rieger zur Biennale.

Weiteres: Ingeborg Ruthe schaut sich für die FR in der neu eröffneten Kleihues-Halle im Hamburger Bahnhof in Berlin um, in der die Beuys-Werke neu präsentiert werden. Auf einer Feuilleton-Seite in der SZ geht Johanna Adorjan der Identitätssuche von "Fräulein Lieser" nach, dem wiederentdecktem Frauenporträt von Gustav Klimt, das In Wien nächste Woche versteigert wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Oliviero Toscani: Fotografie und Provokation" im Museum für Gestaltung in Zürich (NZZ) und die Caspar-David-Friedrich-Ausstellung, die jetzt nach Berlin wandert (Zeit).
Archiv: Kunst

Literatur

Der Schriftsteller Christof Weigold erzählt im epischen Filmdienst-Interview Sofia Glasl, warum er sich als früherer Drehbuchautor nach frustrierenden Erfahrungen im der Film- und Fernsehbranche ganz auf das Verfassen von Kriminalromanen verlegt hat, die im Hollywood der Goldenen Zwanziger spielen. Gabriele Radeckes und Robert Rauhs erinnern in der Berliner Zeitung an die Dichtergattin Emilie Fontane. In seiner Karl-Kraus-Reihe für den Standard liest Ronald Pohl Kraus' Rede "Nestroy und die Nachwelt" von 1912. Arno Widmann (FR) und Magnus Klaue (Welt) schreiben über Lord Byron, der heute vor 200 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Salman Rushdies "Knife" (Standard), Carolin Emckes Essay "Was wahr ist" (Freitag), Volker Brauns Essayband "Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben" (FR), Gulag Georgi Demidows "Fone Kwas oder Der Idiot" (Freitag), Not Battesta Solivas Übersetzung ins Rätoromanische von J.R.R. Tolkiens "Der Hobbit" (NZZ) und Sachiko Kashiwabas Fantasyroman "Sommer in der Tempelgasse" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film

Beobachtet mit Skepsis: "Evil Does Not Exist" von Ryūsuke Hamaguchi

Gestern gab es nur Interviews mit Ryūsuke Hamaguchi zu dessen neuen Film "Evil Does Not Exist", jetzt kommen doch noch Kritiken. Der Film handelt von einem in der beschaulichen Natur bei Tokio gelegenem Dorf, das sich dagegen zur Wehr setzt, dass sein Idyll durch einen luxuriösen Campingplatz für Stadtbewohner zerstört werden soll. Das "folgt oberflächlich betrachtet einer Ökoparabel", schreibt Barbara Schweizerhof in der taz, doch legt der Film widersprüchliche Fährten für Menschen, die Filmen noch aufmerksam folgen können: "Da ist erstens die Natur nie ganz harmlos, zweitens die Gemeinschaft nicht wirklich harmonisch und drittens ist es auch mit der kapitalistischen Gier nicht so einfach." So unterliegt in diesem Film "allen Beobachtungen eine gewisse Skepsis".

Einen überaus sinnlichen Film sah Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: "Hamaguchi entwickelt sozusagen eine ökologische Filmästhetik. In der Eröffnungssequenz gleitet die Kamera minutenlang zu sanft dissonanten Klängen die Baumwipfel entlang, Hamaguchi hat seinen Film gemeinsam mit Eiko Ishibashi komponiert: Ihre Musik sowie die Landschaft dienen als Inspiration für die Bilder, der Regisseur folgt lediglich Vorgaben." Das übt auch auf Artechock-Kritikerin Dunja Bialas einen erheblichen Reiz aus: "In narrativen Zeitkapseln arbeitet Hamaguchi gegen den konsumierbaren Plot an, entdramatisiert, entschleunigt und verrätselt seine parabelhafte Erzählung, kehrt immer wieder zu Momenten der Vergangenheit zurück oder dehnt die erzählte Zeit, indem er einfach nichts erzählt. Indem er die Natur dem Blick der Kamera überlässt, das Ohr einfach nur hören lässt, die Musik, das Rauschen der Natur."

Außerdem: Dass Holger Roost-Macias' Dokumentarfilm "Sehnsucht nach Unschuld" über Leni Riefenstahls Reisen zu den südsudanesischen Nuba in den Sechzigern und Siebzigern im Filmmuseum München nach Protesten migrantischer Initiativen nun doch nicht gezeigt wurde, hält Andreas Platthaus in der FAZ für eine verpasste Chance einer "Auseinandersetzung über Riefenstahl". Elke Eckert wirft für Artechock einen Blick ins Programm der Türkischen Filmtage in München.

Besprochen werden  Matt Bettinelli-Olpins und Tyler Gilletts Horrorfilm "Abigail" (Perlentaucher), Elene Naverianis "Amsel im Brombeerstrauch" (online nachgereicht von der FAZ), Alex Garlands "Civil War" (Artechock, Standard, mehr dazu bereits hier), Véréna Paravels und Lucien Castaing-Taylors auf Mubi gezeigter Dokumentarfilm "De Humani Corporis Fabrica" über das Innere des menschlichen Körpers (NZZ), die französische, auf Netflix gezeigte Actionserie "Furies" (Presse) und Aldo Gugolz' Dokumentarfilm "Omegäng" über Schweizer Dialekte (NZZ).
Archiv: Film

Musik

In der taz klamüsert Benjamin Moldenhauer auseinander, warum Marcus Wiebuschs Hamburger Indieband Kettcar (mit dem aktuellen Album derzeit auf Nummer 1 der Charts) bei vielen Fans von Wiebuschs alter Band aus den Neunzigern (der weit am linken Rand stehenden Polit-Punkband But Alive) so einen schlechten Stand hat, dass sie die Band "als linksliberalen Pur-Klon und Männerschlagerkitschnudelei hassen. ... Die Haltung zur Welt ist in diesen Songs entsprechend erschöpft, aber nie ernsthaft verzweifelt. ... Ein zentrales Motiv aller Kettcar-Songs scheint die unhintergehbare Widersprüchlichkeit zu sein, die unter anderem dann entsteht, wenn der eigene moralische Anspruch mit der Wirklichkeit kollidiert." So entsteht "der Eindruck, dass hier nach wie vor einer seine moralisch rigorose Antifa-Vergangenheit weiterverarbeitet." In ihrem Buch "Wir Kleinbürger 4.0" sprechen "Georg Seeßlen und Markus Metz von einer 'manischen Suche des Kleinbürgers, die Welt zu retten, die eigene moralische Überlegenheit zu betonen und den sozialen Konflikt zu vermeiden'. Das ist natürlich anstrengend."



Weitere Artikel: Hannes Hintermeier berichtet in der FAZ von der Präsentation der Studienergebnisse zum Machtmissbrauch an der Hochschule für Musik und Theater München und des Sieben-Punkte-Plans, der diesen dort künftig unterbinden soll. Stephanie Grimm stimmt in der taz auf die Deutschlandtour von Nick Saloman und dessen Projekt Bevis Frond ein. Jörg Wimalasena erzählt in der Welt (online allerdings ohne Autorenzeile) von seinem Besuch bei dem koreanischen Musiker Funtwo, der 2005 mit einem Gitarrenvideo zu den allerersten viral gehenden Youtube-Stars zählte. Michael Pilz listet in der Welt tote wie lebendige Popstars, an denen jeder Cancel-Versuch abzuperlen scheint.

Besprochen werden das neue Pearl-Jam-Album (FAZ.net), ein Bach-Konzert von Fazıl Say (Standard) und Waxahatchees neues Album (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Schütte über Godstars "Psychic TV":

Archiv: Musik
Stichwörter: Kettcar, Marcus Wiebusch, Punk

Bühne

Besprochen werden die Uraufführung von Branko Šimićs "Traum(a): Synchronisierung der Kriege" beim Hamburger "Krass"-Festival (nachtkritik), Ersan Mondtags Inszenierung von Kurt Weills "Silbersee" im französischen Nancy (nmz) und Tatjana Gürbacas Inszenierung von Leoš Janáčeks "Jenůfa" am Theater Duisburg (FAZ).
Archiv: Bühne