Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Bühne

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2024 - Bühne

"Stahltier" am Renaissance-Theater Berlin. Foto: Bohumil Kostohryz.

Wenn schon das Fernsehen seinen Job nicht macht, muss eben das Theater ran, meint SZ-Kritiker Peter Laudenbach, der sich Frank Hoffmanns Inszenierung von Albert Ostermeiers Stück "Stahltier" am Renaissance-Theater Berlin angesehen hat. Es geht um Leni Riefenstahl und vor allem um die Recherchen der Dokumentarfilmerin Nina Gladitz, die die schlimmen Hintergründe der NS-Regisseurin aufgedeckt hat (unsere Resümees). Gladitz' Film läuft bis heute nicht im Fernsehen, dafür hat Ostermeier jetzt wichtige Element aus der Doku aufgegriffen: Unter anderem das Schicksal des Kameramanns Willy Zielke, den Riefenstahl aus Angst und Neid in die Psychiatrie einweisen ließ, wo er wegen seiner Homosexualität zwangssterilisiert wurde, erklärt Laudenbach. Gut, dass Ostermeier diese Figur ins Zentrum des Stücks stellt, findet er: "Er nimmt das Opfer ernst, dessen Leben Riefenstahl zerstört hat. Das Stück gibt ihm die Würde, die ihm die Nazis und ihre Star-Regisseurin geraubt haben. Das schützt Ostermaiers Text davor, in die schaudernde Verehrungserregung zu verfallen, mit der die NS-Filmerin nach 1945 in den pathosanfälligen und kitschbegeisterten Regionen der Popkultur abgefeiert wurde. Bei Ostermaier ist die Hitler-Freundin, die Hochgebirgs-Amazone kein dämonisches Genie, sondern eher eine von entgrenztem Karriereehrgeiz zerfressene, abstoßend empathiefreie Kleinbürgerin: Ihr Narzissmus und ihr Nazismus sind kaum voneinander zu unterscheiden."

Ganz anders hat das Nachtkritiker Michael Wolf wahrgenommen - für ihn steht Zielke viel zu sehr im Abseits. Irritiert ist er auch vom dargestellten Verhältnis zwischen Riefenstahl und Goebbels: "Denn nun, es ist schon etwas eigenartig, wie sich hier zwei nicht unwichtige Figuren der NS-Geschichte gegenüberstehen und die Basis ihrer Kommunikation über weite Strecken Sex ist. Ja genau, Riefenstahl und Goebbels flirten miteinander und das nicht besonders subtil." Ähnlich sieht es Patrick Wildermann im Tagesspiegel.

Besprochen wird Felix Hafners Inszenierung von "Nestbeschmutzung" in Zusammenarbeit mit dem "Institut für Medien, Politik und Theater" am Kosmos-Theater Wien (nachtkritik).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2024 - Bühne

Die Nibelungen haben ja in der einen oder anderen Version ein Dauerabo auf den deutschen Theaterbühnen, weiß Irene Bazinger in der FAZ. In Ferdinand Schmalz' "hildensaga", von Markus Bothe am Deutschen Theater inszeniert, wird nun einiges umgedreht: "Diesmal begehren nämlich Kriemhild, die burgundische Königstochter, und Brünhild, die isländische Königin, bisher nichts als Jagdtrophäen in der Männerwelt, entschieden auf. Schmalz richtet das Augenmerk auf sie und ersetzt Helden durch Hilden. Die Geschichte wird dadurch nicht besser - zumindest nicht an diesem Abend. Aber eine erste Emanzipation der Frauen wurde zumindest versucht. Die Inszenierung von Markus Bothe folgt dem amüsant aufgezwirbelten Text mit formaler Konzentration und erstaunlicher Gelassenheit, was ihm hörbar guttut. Alles liegt deutlich zutage, die Motivationen, Pläne, Intrigen werden in ihrer fatalen Konsequenz klar erkennbar." Die Menschenleben fordernde Grausamkeit der Nibelungen bleibt auch hier bestehen, weiß Bazinger, aber Svenja Liesau und Julischka Eichel, die Brünhild und Kriemhild spielen, "bringen ihre Figuren in fast traumtänzerischer Solidarität zusammen und atmen eine große Freiheit jenseits von Mythen und Moden."

Weiteres: Tilman Michael, der Chordirektor der Frankfurter Oper, geht für ein Jahr an die New Yorker MET, melden FAZ und FR.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2024 - Bühne

Trotz Subventionen von 31,9 Millionen Euro und Eigeneinnahmen von 3,9 Millionen Euro im Haushaltsjahr 2023 weist das Deutsche Theater in Berlin ein Defizit von über 3 Millionen Euro auf, entnimmt Peter Laudenbach in der SZ einem Bericht der Berliner Kulturverwaltung. Unklar ist, ob der schwäbische Sparfuchs Ulrich Khuon oder seine frisch ins Amt gesetzte Nachfolgerin Iris Laufenberg für die Misswirtschaft verantwortlich sind: "Zusätzlich kompliziert wird die Situation dadurch, dass das Theater den langjährigen und erfahrenen Geschäftsführer Klaus Steppat im vergangenen November unter etwas undurchsichtigen Umständen fristlos gekündigt hat. Derzeit führt ein Interimsmanager die Geschäfte im Auftrag der Kulturverwaltung. SZ-Nachfragen zu den Ursachen der Etat-Überziehung, den Schlussfolgerungen, die man daraus für die Leitung des Theaters zieht, wie die Frage zu möglichen Einsparungen beantwortetet weder die Intendantin noch die Berliner Kulturverwaltung." "Dabei verteidigt das Deutsche Theater seine Spitzenposition, was die Anzahl der Vorstellungen (798) und die absolute Zahl der zahlenden Besucher (143.000) angeht", ergänzt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung: "Auch die Auslastung von 79 Prozent ist im grünen Bereich."

Weitere Artikel: Nina Chruschtschowa, Urenkelin von Nikita Chruschtschow und Putin-Kritikerin wird am 26. Juli die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen halten, meldet der Standard mit APA.

Besprochen wird der Doppelabend "Dwa - Zwei" der Osnabrücker Dance Company, der am Theater Osnabrück zwei Choreografien von Maciej Kuźmiński und Adi Salant koppelt (taz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2024 - Bühne

Badisches Staatstheater Karlsruhe - Tannhäuser. Michael Weinius, Dorothea Spilger, Ks. Armin Kolarczyk, Foto: Felix Grünschloß

Mutig inszeniert Vera Nemirova Richard Wagners "Tannhäuser", lobt Jan Bachmann in der FAZ. Und zwar, weil sie in ihrer Arbeit fürs Badische Staatstheater Karlsruhe nicht vor christlichem Pathos zurückschreckt. Auch musikalisch weiß die Aufführung zu überzeugen: Georg "Fritzsch dirigiert den 1845 uraufgeführten 'Tannhäuser' wirklich aus dem Geist des deutschen Vormärz heraus. Der Orchesterklang ist scharf gezeichnet und schlank, die Tempi sind durchweg zügig, wenn auch stets aufmerksam mit den Singenden geatmet wird. (...) Alle Chöre drängen nach vorn. Wilhelminische Üppigkeit ist durchweg vermieden. Die Bühne von Paul Zoller mit ihrer demolierten Decke eines alten Konzerthauses und den zerborstenen Musikinstrumenten verweist auf eine brüchig gewordene Kunst, die zwischen Sexindustrie und Unterhaltungswettbewerb nicht mehr viel gilt. Doch gerade sie macht Nemirova zum utopischen Ort, an dem Lust und Geist zueinanderfinden und wieder Sinn ergeben."

Berthold Seliger ist auf Medium begeistert von Florian Lutz' "Carmen"-Inszenierung am Staatstheater Kassel. Das Publikum wird hier nicht nur unterhalten, sondern regelrecht agitiert, und die Protagonistin erscheint in einem neuen, dabei durchaus dem Geist des Originals verpflichteten Licht, so Seliger: "Für einmal wird diese Carmen nicht als zur Femme fatale degradierte exotische Männerfantasie interpretiert, sondern als selbstbewusste Rebellin, die sich ihr Freiheitsrecht nicht nehmen lässt und gegen bürgerliche Normen agiert und agitiert. Und die dennoch voller Widersprüche ist - wie für viele ihrer Mitstreiterinnen ist auch für sie Liebe nur wenig mehr als 'fumée', also heiße Luft; 'L'amour est un oiseau rebelle', sie ist wie ein wilder Vogel. Dennoch ist Carmen eine radikal Liebende, allerdings ohne ihr Selbstbewusstsein zu verlieren."

Sophie Klieeisen berichtet in der FAZ über die desolaten Arbeitsbedingungen an deutschen Stadttheatern. Die Löhne zum Beispiel für Regisseure sind zu niedrig, das weiß jeder, daran ändern wird sich bis auf Weiteres nichts, auch nicht durch eine vom Bundeswirtschaftsministerium und der Kulturstaatsministerin in Auftrag gegebene Studie, glaubt sie. "Aus der gedachten Ästhetisierung der Welt ist längst eine Ökonomie der Ästhetik geworden. '50 Prozent weniger Beschäftigte machen 50 Prozent mehr Arbeit zu 50 Prozent weniger Honorar im Vergleich zur Zeit vor 30 Jahren', dieser Merksatz ist ein offenes Geheimnis. Für die Theater bedeutet das: Multiplizierung der Formate, Verkürzung der Produktionszeiten, Steigerung der Produktionszahlen, des Drucks, der Belastung. Für viele Junge Anlass, das ganze System infrage zu stellen. Das Frustlevel insbesondere junger Regisseurinnen ist hoch."

Weitere Artikel: Bernd Noack unternimmt in der NZZ einen Streifzug durch die Geschichte des Wiener Theater in der Josefstadt. Für die taz Nord unterhält sich Nina Christof mit Jule Martenson, die das im Kaisersaal des Hamburger Rathauses aufgeführte Stück "PubliCum Ex. Prädikat: Rechtstreu" dramaturgisch betreut. Michael Wolf sorgt sich auf nachtkritik um die Originalität in der Gegenwartdramatik. Manuel Brug resümiert in der Welt die jüngste Opernfestspielsaison.

Besprochen werden Richard Strauss' "Elektra" in Baden-Baden ("blitzschnell, aufbrausend, mal zusammenkauernd, mal lauernd, intelligent, elegant, schnurrend, hackend oder würgend, heimtückisch, schmeichelnd, Erotik, Blutrausch", lobt Reinhard J. Brembeck die Aufführung mit Kirill Petrenko am Pult), Davor Vinczes Kammeroper "Freedom Collective" am Theater Bremen ("unvorteilhafte Kostüme und saudumme Regiekonzepte", ärgert sich Benno Schirrmeister in der taz) und Amilcare Ponchiellis Oper "La Giaconda" bei den Salzburger Osterfestspielen (van).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2024 - Bühne

Markus Francke, Opern- und Extrachor des Theaters Ulm | Foto: Kerstin Schomburg 

Auf einem richtigen "Höhenflug" befindet sich das Stadttheater Ulm, freut sich Stephan Mösch in der FAZ. Dass man hier nun Wagners "Parsifal" auf die Bühne gebracht hat, könnte vermessen wirken, meint der Kritiker, aber es funktioniert wunderbar: "Felix Bender ist ein Motor des Abends: Der Ulmer Musikchef versteht Wagners Spätwerk keineswegs als weihevollen Gottesdienst. Er schlägt schnelle Tempi an, kümmert sich aber auch bis ins Detail um die Finessen der Instrumentation. Wagners klangliche Experimente und harmonische Schroffheiten kommen plastisch heraus. Gleichzeitig sind die großen architektonischen Blöcke mit Ohren zu greifen. Was sich über alle stilistische Idiomatik hinaus vermittelt, ist der innermusikalische Spannungszustand, den Wagner im 'Parsifal' besonders raffiniert anlegt. Das Philharmonische Orchester spielt mit einer Dringlichkeit und Entdeckerfreude, die in der Wagner-Routine mancher Staatstheater verloren gegangen ist."

Besprochen werden außerdem Fritzi Wartenbergs Inszenierung von "Malina" am Berliner Ensemble und "hildensaga. ein königinnendrama" in der Inszenierung von Markus Bothe am Deutschen Theater in Berlin (Doppelbesprechung in der taz),  die Oper "Die Insel" vom Kollektiv [in]Operabilities im Radialsystem in Berlin (taz), Alexander Müller-Elmaus Inszenierung von Wagners "Götterdämmerung" im Coburger GLOBE (nmz),  Michael Schulz' Inszenierung der Strauss-Oper "Rosenkavalier" an der Oper Leipzig (nmz),  Georg Qanders Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper "Iphigenie in Aulis" bei der Kammeroper Schloss Rheinsberg (tsp) und  David Hermanns Inszenierung von Wagners "Parsifal", diesmal am Staatstheater Nürnberg (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2024 - Bühne

Achim Freyer bei der Verleihung des Nestroy-Theaterpreises 2015. Foto: Manfred Werner - Tsui unter CC-Lizenz.
Der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildners Achim Freyer wird 90 Jahre alt. Es gratulieren Peter von Becker im Tagesspiegel, Ingeborg Ruthe in der FR und Wolfgang Schreiber in der SZ. Im Interview mit der FAZ erinnert sich Freyer an die Zeit, als Kunst noch keine Ware war, im Untergrund der DDR: "Eine sehr gute, aber harte Zeit, als Kunst öffentlich unterdrückt wurde, sehr sublim. Man sprach von 'Kunst', meinte damit aber nur eine bestimmte: eine dienende für die Gesellschaft. Da die Partei immer alles wusste, wie etwas aussehen muss und was Kunst ist, gab es keine Chance, dass öffentlich etwas ausgestellt würde, was nicht sofort verstehbar ist. Genau dort aber fängt Kunst an. Wir wollen auf unserer Suche, unserer Forschungsreise das Nicht-Aussprechliche aussprechen."

Weitere Artikel: Manuel Brug besucht für die Welt die lettische Mezzosopranistin Elina Garanca in Wien bei Proben zu "Parsifal". In der FAZ gratuliert Andreas Rossmann dem "letzten Prinzipal des deutschsprachigen Theaters", Roberto Ciulli, zum Neunzigsten.

Besprochen werden Ronny Jakubaschks Adaption von Gabriele Tergits Roman "Effingers" am Staatstheater Karlsruhe (nachtkritik), Ferdinand Schmalz' "hildensaga" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik, Tsp), Wagners "Parsifal" in der Inszenierung von Kirill Serebrennikov mit Elīna Garanča als Kundry (Standard) und Strauss' "Elektra" mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern im Festspielhaus Baden-Baden (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2024 - Bühne

In einem langen Gespräch, das Christine Dössel mit Roberto Ciulli kurz vor dessen 90. Geburtstag für die SZ geführt hat, spricht der Regisseur und Gründer des Mülheimer Theaters an der Ruhr über die Aufgaben des Theaters heute und die Frage, weshalb er in letzter Zeit immer wieder Antonin Artaud auf die Bühne bringt: "Artaud wusste unfassbar viel. Er versuchte, eine neue Sprache zu finden. Und er warnte, es sind die 1930er-Jahre, vor der kommenden Katastrophe. Artaud wird als verrückt interniert, und Hitler wird zur selben Zeit gewählt von Millionen Menschen. Das nur als kleiner Hinweis, warum Artaud so aktuell ist. Wir sind heute wieder so weit. Ich bin Jahrgang 1934. Ich kann mich noch erinnern an den Krieg. Ich sehe die Gefahr. In Italien haben wir bereits eine faschistische Regierung."

Weiteres: Michael Stallknecht (SZ) ist ins schweizerische Dornach gereist, ins Goetheanum, den Stammsitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die mit viel Eurythmie, aber mit Starbesetzung und in klarer Personenregie von Jasmin Solfaghari Wagners "Parsifal" inszeniert hat. Die Symbiose aus Richard Wagner und Rudolf Steiner funktioniert, erklärt Stallknecht.  Im Tagesspiegel blickt Sandra Luzina in die Spielzeit 2024/25 des Staatsballetts Berlin unter Intendant Christian Spuck. Besprochen wird Oliver Maers Inszenierung der Ponchielli-Oper "La Gioconda" mit Anna Netrebko bei den Osterfestspielen in Salzburg (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.03.2024 - Bühne

Die Baden-Badener Opernfestspiele eröffnen mit einem Opernspektakel erster Güte, wenn man Zeit-Autor Thomas E. Schmidt glauben darf. Gegeben wird Richard Strauss' und Hugo von Hofmannsthals "Elektra". Die von Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn verantwortete Inszenierung scheut die großen Gesten keineswegs: "Das ist reiner Gefühlsexzess, Schreien und Blutrausch, musikalischer Über-Expressionismus, ein starkes Stück für alle Beteiligten, für sorglose Hörerinnen und Hörer zumal, von Klimax zu Klimax getrieben von einem Orchester mit allein 40 Bläsern. Die Bühne hier: nichts als gigantische, sich verschiebende Betonstufen, unter denen das Geschehen - vielleicht am Fuß eines Tempels menschenfeindlicher Gottheiten - sich verdichtet, bis es ganz zweidimensional und deswegen noch krasser wirkt. Es ist die Opernhölle, und man ist hinterher glücklich, sie mit anderen durchlaufen zu haben." Alexander Camann wiederum bespricht, ebenfalls in der Zeit und ebenfalls euphorisch ("schlichtweg epochal"), Christian Thielemanns Inszenierung einer weiteren Strauss/Hofmannsthal-Oper - "Frau ohne Schatten" - an der Semperoper Dresden.

Giulio Cesare in Egitto - Lawrence Zazzo © Monika Rittershaus

Hoch her geht es auch an der Oper Frankfurt, wo Georg Friedrich Händels "Giulio Cesare in Egitto" gegeben wird. Und zwar, freut sich Jan Brachmann in der FAZ, ohne die Barockoper zur Farce zu degradieren. Stattdessen darf man sich an "Blut, Tränen und Erbrochenem" erfreuen, und an den Sangeskünsten unter anderem Nils Wanderers und Lawrence Zazzos: "Wanderer gestaltet seine Doppelnatur als effeminierter Lüstling und pure Bestie auch vokal, wenn er bei den Koloraturen immer wieder aus der brillanten Farbe des Countertenors ins brünstige Röhren seines natürlichen Baritons abstürzt. Zazzo erreicht den gestalterischen Gipfel seines Singens, als er im zweiten Akt, auf dem Rücken liegend, bebend, atemlos zitternd vor Begehren, dem verführerischen Gesang Cleopatras antwortet." Noch besser als die Hauptrollen sind laut Brachmann, das soll nicht verschwiegen werden, allerdings die Nebenrollen besetzt, und zwar mit "Cláudia Ribas als Cornelia, Bianca Andrew als Sesto und Iurii Iushkevich als Nireno. Alle drei singen timbral verführerisch, technisch beeindruckend sicher und zugleich hoch infektiös, was die Kraft der Affekte angeht."

Das Leben ein Traum - Jens Harzer. © Armin Smailovic

Ein Stück für unsere Gegenwart ist Caldérons Barockklassiker "Das Leben ein Traum" für Welt-Autor Jakob Hayner, da es von den Bedingungen der Freiheit angesichts eines Epochenumbruchs handelt. Das Hamburger Thalia-Theater zeigt das Stück nun in einer gelungenen Johan-Simons-Inszenierung: "Es ist ein Abend auf der Suche nach dem freien Rhythmus zwischen den Menschen. Deswegen läuft im Hintergrund Jazz, obwohl Sigismund zunächst gesteht, er möge lieber Marschmusik, also den streng vorgegebenen Takt. Die Drehbühne von Johannes Schütz mit einer schwebenden Kugel in der Mitte, um die ein Spiegel kreist, lässt an astronomische Konstellationen denken, immerhin ist Caldérons Stück zu der Zeit entstanden, als Galileo Galilei die Erde aus dem Zentrum der Planetenbewegungen riss und René Descartes den Zweifel an der Außenwelt zur Philosophie erhob." Deutlich weniger begeistert ist Till Briegleb in der SZ, für ihn hat die Aufführung "zu wenig Angst vor Kitsch und zu viel vor Hässlichkeit."

Außerdem: Peter Kümmel unterhält sich in der Zeit mit Thomas Ostermeier, einem Weltreisenden in Sachen Theater. Atif Mohammed Nour Hussein denkt auf nachtkritik darüber nach, was passiert, wenn bei Bühnenaufführungen kurzfristig eine Rolle umbesetzt werden muss.

Besprochen werden Sasha Waltz' Choreographie der Johannes-Passion bei den Salzburger Opernfestspielen (Welt, "ein höchst dekorativer, kontemplativer, wohlig anrührender Abend für den kulturafinen, bachgestreichelten Atheisten"), Nicolas Stemanns Inszenierung von Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" am Schauspielhaus Zürich (FAZ, "(...) bösartiges Spiel im Spiel und bei aller politischen Brisanz vor allem immer wieder eines: sehr lustig"), Glucks "Orpheus und Eurydike" an der Staatsoper Hannover (nmz, "Der Beifall kannte keine Grenzen") und Maria Theresia von Paradis' "Die Insel", inszeniert von der Kompanie [in]operabilities, zu sehen zunächst im Berliner Radialsystem (van, "eine neue auch ästhetische Landmarke im Musiktheater").

Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.03.2024 - Bühne

"Orpheus steigt herab" am Burgtheater Wien. Foto: Matthias Horn.

Einen größeren Knall hätte sich FAZ-Kritiker Martin Lhotzky von der Abschiedsvorstellung des Burgtheater-Leiters Martin Kušej erwartet. Die Inszenierung von Tennessee Williams Südstaaten-Drama "Orpheus steigt herab" ist etwas "lau" geraten, findet er, die Möglichkeiten des Hauses und der Schauspieler wurden nicht voll ausgeschöpft. Trotzdem, die Themen, die hier verhandelt werden, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt im Universum beschränkten kleinbürgerlichen Denkens, sind zeitlos: "Wenn der Vorhang an diesem Premierenabend in die Höhe geht, ist es erst einmal dunkel. Doch lodern bereits die Flammen im Hintergrund, und die Drehbühne zeigt langsam die Ruine des Ladens, einige kleine, nicht gerade sauber wirkende Zimmer und wohl den Hinterhof, in dem ein ausgebranntes Autowrack neunzig Grad emporragt. In das Obergeschoss, wo Martin Reinke, bloß mit langen, schmuddeligen Unterhosen bekleidet, als Jabe die meiste Zeit dahinröchelt, wird noch kein Einblick gewährt. Das stimmig-kompakte Bühnenbild hat, wie schon oft, wenn Kušej inszeniert, Annette Murschetz entworfen."

Ein weiterer Abschied und auch dieses Mal Unzufriedheit auf der Kritikerseite: Jakob Hayner kann sich in der Welt nicht damit anfreunden, dass die scheidenden Intendanten des Zürcher Schauspielhauses Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg mit Max Frischs "Biedermann und die Brandstifter" dem Zürcher Publikum einen Denkzettel verpassen wollten (Unser Resümee): "Nachdem das Bühnenbild demontiert und dekonstruiert ist, flirren Videoeinspieler über die Bühne. Die Feuerwehrleute tragen nun Anzug und verkünden im Stile einer Fernsehreportage, dass das Theater künftig in einem neu gebauten Parkhaus für SUVs untergebracht wird. Kurz darauf sieht man, wie der alte Bau in die Luft fliegt. Nun dürfte man auch in der letzten Reihe merken, dass hier in selbstgerechter Pose die Zerstörung des Schauspielhauses durch eine verlogene Stadtgesellschaft angeprangert wird."

Besprochen werden der zweite Teil des Musiktheaterzyklus' "Resurrection Games" von Elischa Kaminer im Mousonturm in Frankfurt (FR), Christian Stückls Inszenierung von Sybille Bergs Stück "In den Gärten oder Lysistrata Teil 2" am Volkstheater in München (SZ), Oliver Mears Inszenierung von Amilcare Ponchiellis Oper "La Gioconda" bei den Osterfestspielen in Salzburg (FAZ), Martin Kušejs Inszenierung von Tennessee Williams Stück "Orpheus steigt herab" am Burgtheater Wien (FAZ), Stas Zhyrkovs Inszenierung von "Die Orestie. Nach dem Krieg" nach Aischylos am Schauspielhaus Düsseldorf (SZ), Nadja Loschkys Inszenierung von Georg Friedrich Händels "Giulio Cesare in Egitto" an der Oper Frankfurt (FR), Christian Stücks Inszenierung von Sybille Berg Stück "In den Gärten oder Lysistrata Teil 2" am Münchner Volkstheater (nachtkritik) und David Böschs Inszenierung der Strauss-Oper "Die Frau ohne Schatten" an der Semperoper in Dresden (nmz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.03.2024 - Bühne

"Die Frau ohne Schatten" an der Semperoper Dresden. Foto: Ludwig Ohla.

Gewaltig ist David Böschs Inszenierung der Strauss-Oper "Die Frau ohne Schatten" an der Semperoper Dresden in jeder Hinsicht, findet Gerald Felber in der FAZ. Schon das monumentale Bühnenbild von Patrick Bannwarts (unter anderem "die Grauen erweckende wie Schutz verheißende Falkenskulptur mit beweglichen Riesenfittichen") haut den Kritiker um, "vor allem anderen aber wirkt die ungeheure, niederdrückende Wucht, zu der sich die Staatskapelle in XXL-Formation ... unter Christian Thielemanns Leitung steigern kann. Wobei der Dirigent den ersten Akt weithin fast kammermusikalisch führte und den Musikern auch später oft Raum für konzertreife Soli gab. Röntgenblick und bedachtsam-kluge Klangmodellierung kanalisierten aber selbst noch im Fortissimo den Gang der Linien und ihr energetisches Potential - am vernichtenden Ende des zweiten Aktes in einer Weise, dass man sich, wie bei einem Solarplexus-Schlag, direkt ins Nervenzentrum getroffen fühlte. Wunder der Behutsamkeit neben Stellen atembeengender Wucht: Nichts blieb in dieser Partitur mit ihren Lyrismen, Trauermarsch-Chorälen und überdrehten Scherzi, in die vielleicht sogar Fetzen von Strawinskys "Sacre"... eingegangen sind, randständig."

Von einem "Musiktraum" schwärmt auch Helmut Mauró in der SZ, auch wenn er sich vor dem gigantischen Falken gruselte: "Als dieser weiße Vogel im dritten Akt mit bühnenbreiten Schwingen herabschwebt, den toten Färber Barak in den Klauen, und das Orchester zu einem monströs schaurigen Klanggetöse anhebt - in der Semperoper spürt man das Schlagzeug über den Boden wirklich körperlich -, da kann einem schon bange werden."

Weitere Artikel: Es steht immer noch schlecht um die Staatliche Ballettschule Berlin, berichtet Wiebke Hüster in der FAZ. Wolfgang Kralicek resümiert in der SZ die Intendanz von Martin Kušej am Wiener Burgtheater. Ute Büsing besucht für den Tagesspiegel den Intendanten des bulgarischen Nationaltheaters Vasil Vasilev, der mit seinen kritischen politischen Positionen der Zorn der Regierung auf sich zieht.

Besprochen werden Marie Schleefs Inszenierung von "Die Möglichkeit des Bösen" nach einer Kurzgeschichte von Shirley Jackson an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik), Anna Bergmanns Inszenierung von Ödön von Horváths Stück "Die Unbekannte aus der Seine" mit Texten nach Christine Lavant am Volkstheater Wien (nachtkritik), Martin Kušejs Inszenierung von Tennessee Williams Stück "Orpheus steigt herab" am Burgtheater Wien (nachtkritik), Stas Zhyrkovs Inszenierung von "Die Orestie. Nach dem Krieg" nach Aischylos am Schauspielhaus Düsseldorf (nachtkritik), Gregor Müllers und Philip Richerts Adaption von Daniel Kehlmanns Roman "Tyll" am Theater Lüneburg (nachtkritik), Johan Simons Inszenierung von Pedro Calderón de la Barcas Stück "Das Leben ein Traum" am Hamburger Thalia Theater (FAZ), Philipp Stölzls und Philipp M. Krenns Inszenierung der Strauss-Oper "Elektra" bei den Osterfestspielen Baden-Baden (FAZ),  Victoria Stevens' Inszenierung von Verdis "Otello" im Mainzer Staatstheater (FR), Dorothea Kirschbaums Inszenierung von Wolfgang Fortners Oper "In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa" an der Oper Frankfurt (FR), Rafael Sanchez Inszenierung von Tobias Ginsbergs Sachbuch "Die letzten Männer des Westens" am Schauspiel Köln (taz), Jürgen R. Webers Inszenierung von Wagners "Rheingold" am Theater Erfurt (nmz), Sasha Waltz' Ballett-Choreografie von Bachs "Johannes-Passion" bei den Salzburger Opernfestspielen (SZ), Oliver Mears Inszenierung von Amilcare Ponchiellis Oper "La Gioconda" ebenfalls in Salzburg (SZ, Standard), Marielle Sterras Inszenierung des Musiktheaterstücks "Stadt der Teufel" vom Kollektiv glanz&krawall im Heimathafen Neukölln in Berlin (tagesspiegel) und Michael Webers Inszenierung der Texte "Das Ereignis" und "Der junge Mann" von Annie Ernaux am Theater Willy Praml in Frankfurt (FR).