Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Literatur

3126 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 313

Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2024 - Literatur

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Spürbar ungebührlich findet es Andreas Platthaus in der FAZ, dass der Leiter des Literaturhauses Leipzig, Thorsten Ahrend, den Schriftsteller Matthias Jügler vor einer Lesung aus dessen Roman "Maifliegenzeit" um einen Beleg gebeten hat für dessen in der Nachbemerkung zu seinem Roman gefallene Behauptung: "Seit einigen Jahren ist nachgewiesen, dass es in der DDR Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod gab." Ahrend beruft sich auf Studien, die keinen Nachweis dafür erbringen konnten, Jügler wiederum auf anekdotisches Wissen - die Lesung ist abgesagt. "Was ist das für ein Verständnis von Literatur, vor allem ihrer Fähigkeit, über Dinge, die nicht nach juristischen (oder auch journalistischen) Kriterien belegbar sind, zu erzählen und damit eine Debatte zu eröffnen", ärgert sich Platthaus. "Dass Jügler keine Lust hatte, sich von vorneherein auf unliterarisches Terrain zu begeben, ist verständlich. Er ist kein Archivar, er ist Romancier. Romane ziehen ihre Berechtigung nicht aus Wahrheit, sondern aus Wahrhaftigkeit." Dass systematisch Säuglinge entführt wurden, lege Jügler im übrigen eh nicht nahe: "'In der DDR' ist für Menschen, die lesen können, eine probate Orts- und Zeitbestimmung. Wer darin eine Systembeschreibung sieht, macht sich die Gleichsetzung von Diktatur und Alltag zu eigen, die gerade von Ostdeutschen immer wieder kritisiert wird."

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Jakob Hayner liest für die die Welt die Neuübersetzungen von J.G. Ballards Klimakatastrophen-Romanen "Die Dürre" und "Die Flut" aus den Sechzigern - und staunt über die prophetischen Gaben des 2009 verstorbenen britischen Schriftstellers, wie sie sich auch in seinen anderen Romanen zeigt: "In 'Millennium People' (2003) und 'Das Reich kommt' (2006) erkundet Ballard die Vorstädte der Mittelklasse, in denen sich eine diffuse Revolte ausbreitet. Den Menschen scheint nichts zu fehlen, trotzdem zetteln sie einen Bürgerkrieg an. Es sind verzweifelte Versuche, der Enge der rationalen Welt und der Langeweile des Konsumismus zu entfliehen - ein Aufstand gegen den erschöpften Liberalismus im Herzen des Westens. 'Die Zukunft wird ein Kampf zwischen riesigen Systemen konkurrierender Psychopathien sein', heißt es in 'Das Reich kommt'. ... Niemand wirft so einen unheimlichen Blick auf die Welt wie J.G. Ballard. Wenn das 20. Jahrhundert kafkaesk war, so könnte sich das 21. Jahrhundert als ballardesk erweisen."

Besprochen werden unter anderem John Nivens "O Brother" (Standard), Vladimir Sorokins "Doktor Garin" (taz), Yaniv Iczkovits' "Fannys Rache" (online nachgereicht von der FAZ), Daniel Brösslers Biografie über Olaf Scholz (NZZ), Pedro Almodóvars Storyband "Der letzte Traum" (SZ) und Edith Andersons "A Man's Job" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2024 - Literatur

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Im hiesigen Literaturbetrieb kriegen es nur wenige mit, aber "die bedeutendste lebende Schriftstellerin deutscher Sprache" ist offenbar Jenny Erpenbeck, informiert Marie Schmidt in der SZ. Warum? Auf Erpenbecks Name stößt man regelmäßig in Buchläden im englischsprachigen Ausland, die US-Literaturkritik handelt sie bereits für den Literaturnobelpreis, einmal hat sie den International Booker Prize bereits gewonnen, fünfmal war sie dafür bereits nominiert - so nun auch in diesem Jahr, für die Übersetzung ihres Romans "Kairos" von 2021, der die Literaturkritik damals zwar begeisterte, bei den wichtigen deutschen Buchpreisen allerdings unter dem Radar blieb. Interessanter als dies zu kritisieren, findet es Schmidt jedoch, den Gründen dafür nachzuforschen, "warum Jenny Erpenbecks Vermittlung in die anglophone Welt so erfolgreich ist." Dass sie "die 'Last der Geschichte' in ihrer Literatur Schicht um Schicht abträgt, nicht selten in Form materieller Erinnerungsstücke, mag den Vorstellungen einer amerikanischen Leserschaft vom alten Europa, vielleicht besonders von Berlin, entgegenkommen. ... Zugleich betonen ihre englischsprachigen Leser, dass es keine toten, verstaubten Geschichtszeichen seien, mit denen Erpenbeck umgeht, alles sei mit persönlicher Erfahrung gesättigt."

Frauke Steffens gibt in der FAZ ein Update zu den Auseinandersetzungen bei dem US-Kulturmagazin Guernica, das seit der Kontroverse um Joanna Chens zunächst auf der Plattform veröffentlichten, dann aber hurtig gelöschten Essay "From the Edges of a Broken World" über die Lage in Israel (hier steht der Text mittlerweile online, außerdem hier unser Resümee der Ereignisse) in einen Quasi-Schneewittchenschlaf verfallen war, während reihum Redakteure auf Twitter wutschnaubend ihren Ausstieg verkündeten. Eine angekündigte Stellungnahme zur Löschung ist bislang nicht erschienen. Nun "gab es doch ein Lebenszeichen: Jina Moore, Chefredakteurin des Blattes, erklärte ihren Rücktritt. Sie habe 'From the Edges of a Broken World' publiziert, weil der Text genau das tue, wofür Guernica immer gestanden habe: in aller Komplexität einzufangen, wie Gewalt normalisiert werde. Die Redaktion stehe hinter der Löschung von Chens Essay - sie, Moore, aber nicht. Guernica werde ohne sie weitermachen. Bislang schien es so, als habe sich das Blatt angesichts des Konflikts selbst zerlegt. Aber vielleicht haben sich nur diejenigen durchgesetzt, die keinerlei Empathie mit Israelis dulden."

Weiteres: Noemi Hüsser stellt im Tagesanzeiger die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata vor, die als Writer-in-Residence Zürich besucht. Besprochen werden unter anderem Karen Köhlers "Himmelwärts" (FR), Philipp Felschs Biografie über Jürgen Habermas (NZZ), George Saunders' Storyband "Tag der Befreiung" (SZ) und Elias Hirschls Dystopie "Content" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2024 - Literatur

Für die Kafka-Serie der SZ hat sich der Schriftsteller Lutz Seiler nochmal Kafkas "Hungerkünstler" vorgenommen - und ist zutiefst erschüttert, dass sich seine Erinnerung an das Ende der Geschichte damit nicht in Einklang bringen lässt. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schriftsteller Arnold Stadler zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Natascha Wodins "Der Fluss und das Meer" (FR), Aris Fioretos' "Die dünnen Götter" (online nachgereicht von der Welt), eine Neuausgabe von Anna Seghers' "Der Weg durch den Februar" (online nachgereicht von der FAS), Delafs Comic nach Franquin "Gaston - Die Rückkehr eines Chaoten" (SZ) und Nona Fernández' "Twilight Zone" (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2024 - Literatur

Timo Feldhaus plaudert für die Berliner Zeitung mit Helene Hegemann unter anderem über deren neue, im RBB gezeigte Literatursendung "Longreads" und über Berlin (für die Schriftstellerin der "Mittelpunkt der freien Welt"). Paul Jandl wirft einen Blick auf Insa Wilkes Youtube-Literatursendung "Cafe Lit" (mehr dazu bereits hier). Die Schriftstellerin Dine Petrik philosophiert im Standard über Krieg, Frieden und den Schutzengel der Geschichte. Helene Proißl porträtiert für den Standard die Schriftstellerin Franziska Füchsl. In der SZ-Serie über Kafka erzählt Barbara Vinken von ihrer "Amerika"-Lektüre, mit der sie sich auf ihre Reise in die USA wappnete (auch wenn Kafka selbst nie in Amerika gewesen ist). Arno Widmann erinnert in der FR an die Debatte um Günter Grass' heute vor zwölf Jahren veröffentlichtes, israel-kritisches Gedicht "Was gesagt werden muss". Kenan Emini wirft für die taz einen Blick auf Roma-Figuren in Mainstream-Comics. Ronald Pohl erinnert im Standard an eine Heine-Satire von Karl Kraus. Andreas Platthaus (FAZ) und Felix Stephan (SZ) gratulieren dem Schriftsteller Christoph Hein zum 80. Geburtstag. Außerdem bringt der Standard ein Gedicht von Clemens J. Setz.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Bannmeilen" (NZZ), Ulrich Peltzers "Der Ernst des Lebens" (FR), Barbi Markovics "Minihorror" (Intellectures), José F. Olivers "In jeden Fluss mündet ein Meer" (online nachgereicht von der FAZ), die Korrespondenz von Peter Handke und René Char (Standard), Markus Berges' "Irre Wolken" (online nachgereicht von der FAZ) und Andrea Grills "Perfekte Menschen" (Standard). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Goethes "Celebrität":

"Auf großen und auf kleinen Brucken
Stehn vielgestaltete Nepomucken
Von Erz, von Holz, gemalt, von Stein ..."
Stichwörter: Grass, Günter, Grill, Andrea

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2024 - Literatur

Der im Berliner Exil lebende, chinesische Schriftsteller Yang Lian erhebt in einem Beitrag für "Bilder und Zeiten" der FAZ gravierende Vorwürfe gegen (allerdings namentlich ungenannt bleibende) Kolleginnen und Kollegen seiner Zunft, die sich im Westen als chinesische Dissidenten und Opfer von Zensur und Repressalien präsentieren, zuhause aber, seiner Behauptung nach, konformistisch angepasst und in ansehnlichem Wohlstand leben, während ihre Bücher im Handel frei erhältlich sind. Chinesische Erinnerungsliteratur hält Yang Lian daher für unauthentisch: "Wenn jeder sich mit einem Mal als Opfer darstellt, wer waren dann die Täter? Kann eine nationale Tragödie wie die Kulturrevolution wirklich nur einigen wenigen Verbrechern angelastet werden? Wer nicht bereit ist, die eigene Rolle kritisch zu reflektieren, ist auch nicht in der Lage, die moralischen Widersprüche des eigenen Handelns zu erkennen, und geht dann so weit, aus den grauenhaftesten Albträumen Profit zu schlagen. ... Ich kann nicht behaupten, vollkommen unschuldig zu sein. Als ich kürzlich die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem russischen Schriftsteller Wladimir Sorokin hatte, stellten wir beide fest, dass wir 'das Böse der Vergangenheit' in uns tragen, das nur auf die Gelegenheit lauert, gegen unser Gewissen zu opponieren."

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Aiki Mira schreibt "kritische Utopien", erklärt die non-binäre Person im großen taz-Gespräch. Es sind Romane, die zum Handeln aufrufen: "Auch im Genre der Climate-Fiction ist der Moment gekommen, in dem wir uns ernsthaft fragen müssen: Wie geht es jetzt weiter? In meinem Roman 'Neurobiest' wurde etwa der Regenwald wieder synthetisch hergestellt. Es geht also durchaus um Lösungen. ... Genau deswegen ist Science-Fiction meiner Meinung nach das wichtigste Genre unserer Zeit. Wir fühlen uns immer überrascht von diesen Ereignissen. Plötzlich sind Klimawandel und KI-Revolution da und wir denken: Oh nein, Kollaps. Dabei haben sich diese Dinge schon länger angebahnt. Die Science-Fiction kann uns vorbereiten, wir können Szenarien im Vorhinein durchspielen. Sie trainiert unsere Skills, uns in neuen Situationen mit ständiger Veränderung zurechtzufinden."

Weitere Artikel: Im epischen Tagesspiegel-Gespräch hält Christoph Hein zum 80. Geburtstag Rückschau auf alte Kämpfe - von der DDR bis zur Kontroverse um seine geplante Intendanz am Deutschen Theater Berlin - und aktuelle Ost-West-Fronten in der Bundesrepublik. Ursula Renner liest für die FAZ einen kürzlich aufgetauchten Brief von Hugo von Hoffmannsthal. Die Schriftstellerin Teresa Präauer erzählt in der Literarischen Welt von einer Begegnung mit Thomas Bernhards gesammelten Gedichten im New Yorker Buchladen Strand Books, die zu einer weiteren Begegnung mit einem sehr traurigen Mann in New York geführt hat. Comiczeichner Andre Lux füllt den Fragebogen des Tagesspiegels aus. Hannes Hintermeier erinnert in "Bilder und Zeiten" der FAZ an Johannes Mario Simmel, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. FR-Kritiker Christian Thomas fügt Isaac Bashevis Singers "Jakob der Knecht" seiner Ukraine-Bibliothek hinzu.

Besprochen werden unter anderem Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (LitWelt), Tahir Hamut Izgils "Uigurische Notizen" (FAZ), die Werkausgabe Marlen Haushofer (NZZ), Nora Krugs "Im Krieg" (taz), Ma Yuans "Drei Arten, Papierdrachen zu falten" (taz), Constance Debrés "Love Me Tender" (taz), Szczepan Twardochs "Kälte" (LitWelt) und Joy Williams' "In der Gnade" (FAS).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2024 - Literatur

Sarah Pines spricht für die Welt mit Joanna Chen, deren Essay "From the Edges of a Broken World" gerade sehr unschön von Guernica nach wenigen Tagen wieder offline genommen wurde (mehr dazu hier in unserer Magazinrundschau). Das Literaturmagazin wirft der Schriftstellerin vor, mit ihrem Text über ihre Ankunft als 16-Jährige in Israel "eine Apologie des Völkermordes in Palästina" vorgelegt zu haben (mittlerweile steht der Text bei Washington Monthly online). Hinter den Kulissen von Guernica habe es wohl mächtig Ärger gegeben, der schließlich zu dieser Cancel-Entscheidung geführt hat. Chen vermutet, "dass Literatur tatsächlich ein Vehikel für Ideologien geworden ist. Doch gute Literatur ist immer vielstimmig, nuanciert, anspruchsvoll. Sie geht über das Offensichtliche, über das Dogmatische hinaus. Sie stellt Fragen und dringt in die Tiefenschichten der menschlichen Existenz vor. Guernica, behauptet von sich, 'eine Heimat für einzigartige Stimmen, prägnante Ideen und kritische Fragen' zu sein, aber anscheinend gibt es in dieser Heimat keinen Platz mehr für echte Gespräche oder nuancierte Kommentare." Mit solchen Entscheidungen gehe es auch "darum, israelische Stimmen aus dem Diskurs zu verbannen. Unglücklicherweise ist der Antisemitismus auch ein Teil dieser antiisraelischen Kritik. Ich wurde zensiert, weil ich Israeli bin. Punkt."

Außerdem: Thomas Borchert wirft für die FR einen Blick auf nun freigegebenen internen Dokumente der Abstimmungsprozesse und Diskussionen in der Schwedischen Akademie, die 1972 zum Literaturnobelpreis für Heinrich Böll führten. Jan Wiele schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schriftsteller John Barth. Gregor Dotzauer schreibt im Tagesspiegel zum Tod der Literaturkritikerin Gisela Trahms.

Besprochen werden unter anderem George Saunders' Storyband "Tag der Befreiung" (FR), Paul Austers "Bloodbath Nation" (Freitag), Pajtim Statovcis "Meine Katze Jugoslawien" (taz) und Julien Greens "Treibgut" (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2024 - Literatur

"Nur konsequent" und "beschämend" findet es Andreas Platthaus im FAZ-Kommentar, dass mit Serhij Zhadan, der sich freiwillig zu einem Kampfbatallion gemeldet hat, nun "ein Friedenspreisträger in den Krieg zieht: "Der Schriftsteller hat zuletzt keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über das Desinteresse des Westens am Existenzkampf der Ukraine gemacht. Mehr als zwei Jahre nach Kriegsbeginn und angesichts von geschätzt Hunderttausenden Toten auf beiden Seiten ist Zhadans Schritt kein Zeichen blinder Kriegsbegeisterung, wie sie Schriftsteller im August 1914 gezeigt haben, sondern Ausweis von Verzweiflung. Zhadan setzt sein Leben ein, wo die westliche Politik nicht einmal Material liefern will. Im Juli 2022 hatte er gedichtet: 'Wie kannst du jetzt fluchen auf die Last / des Zufalls, der dich in den / kalten Wind der Geschichte stellt?' Der Wind ist noch kälter geworden, der Krieg heißer, wer von Einfrieren fantasiert, heizt ihn an. Und Serhij Zhadan geht ins Feuer."

Wo hat das in der kleinen Einsiedelei in Bargfeld nur alles hingepasst? "Mehr als tausend Teile" umfasst der "textile Nachlass von Alice und Arno Schmidt", der aktuell unter dem Titel "Kleider.Geschichten" im Augsburger Textilmuseum ausgestellt ist, schreibt Hannes Hintermeier in der FAZ: "Für heutige Anhänger der Vintage-Religion ein Traum, für Kulturhistoriker eine Fundgrube, für Literaturwissenschaftler ein philologisches Puzzle. ... Viele Stücke verweisen auf Zeiten des Mangels, etwa der Wolldeckenmantel, der als Morgenmantel ebenso zum Einsatz kommt wie als Überwurf in der Nacht; der eingefärbte - Uniformteile zu tragen war nach dem Krieg verboten - Militärmantel Schmidts, den er aus Norwegen mitbrachte. Die Bretter-Sandalen, die Schmidt mehr schlecht als recht zurechtschnitzte. ... Wie in der Nachkriegszeit üblich wurde gerettet, was noch zu verwenden war. Der Lambswool-Pullover des Autors wurde so oft gestopft wie möglich. Bei Aufnahmen für ein Spiegel-Interview vergisst Schmidt offenbar, dass er das zerschlissene Stück trägt. Es kümmert ihn nicht, was die Welt über Äußerlichkeiten denkt: 'Vielleicht hielt man meine zerklüftete Kleidung auch für Originalstreiche eines Genies.'"

In der Zeit meditiert Clemens J. Setz staunend über ein aktuelles TikTok-Phänomen, bei dem junge TikToker sich drastischen Gewaltvideos im Netz aussetzen, um ihrem ebenfalls sehr jungen und überwältigend großem Publikum davon zu erzählen, allerdings ohne die Gewalt zu zeigen. "In Kommentaren kann man von Albträumen lesen, die die Worte des Nacherzählers hervorgerufen haben. Manche zweifeln auch daran, dass dieses oder jenes nacherzählte Video tatsächlich existiert, und nennen einige unglaubwürdige Formulierungen. Ich glaube, all diese gewaltfaszinierten Jugendlichen entdecken dasselbe wie ich vor einem Vierteljahrhundert, nämlich dass die richtig gewählten Worte eine reale Form von Telepathie darstellen. Die Nacherzähler-Szene auf TikTok und YouTube erlebt gerade so etwas wie eine unabhängig von der bisherigen Kulturgeschichte stattfindende Zweitentdeckung der Literatur, ihrer Wirkmächte und Schwerfälligkeiten, ihrer Gesetze und Mysterien. Andauernd wird gejammert, dass Jugendliche nichts mehr lesen. Und nun bauen sie auf einmal mit Holzstecken und krummen Nägeln eigenhändig das große Haus der Literatur nach - oder zumindest dessen Fundament."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Jonas Grethlein dem Gräzisten Joachim Latacz zum 90. Geburtstag. Besprochen werden unter anderem Nicole Seiferts "'Einige Herren sagten etwas dazu'" über die Autorinnen der Gruppe 47 (TA), Maria Lazars "Zwei Soldaten" (Standard), Shila Behjats Essay "Söhne großziehen als Feministin" (NZZ), Vladimir Vertlibs "Die Heimreise" (FAZ) und Maren Kames' "Hasenprosa" (Zeit). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2024 - Literatur

Maryse Condé, 2008 (Bild: MEDEF, CC-BY-SA 2.0)

Maryse Condé ist im Alter von 90 gestorben. "An die zwei Jahrzehnte" dürfte die 1934 auf der französischen Karibikinsel Gouadeloupe geborene Schriftstellerin französischer Sprache "als ewige Favoritin auf den Literaturnobelpreis gehandelt worden sein", schreibt Rudolf von Bitter in der SZ. Sie wäre im Erfolgsfall nach Derek Walcott und V.S. Naipaul die dritte afro-karibische Autorin gewesen, der diese Ehre zuteil geworden wäre. Doch "Condé hatte einen vollkommen anderen Zugang zum Erzählen, nicht so auftrumpfend wie Walcott, nicht so melancholisch wie Naipaul. Ihr zweibändiger historischer Roman 'Ségou' folgt den Spuren ihrer afrikanischen Vorfahren", sie "formte auf eine vollkommen eigenständige Weise die Veränderungen und Umwälzungen Westafrikas zur Zeit des Sklavenhandels und des sich ausbreitenden Islams mit geschichtswissenschaftlicher Genauigkeit zu einem hinreißenden Erzählwerk."

Auch tazlerin Edith Kresta kommt auf diesen Roman über das Leben in der zwischen Timbuktu und Bamako gelegenen Stadt Segu zu sprechen, für den Condé 2018 immerhin den Alternativen Literaturnobelpreis erhielt: "Der Animismus der Mehrheit mit seiner sexuellen Freizügigkeit gilt den Korangläubigen als Sünde, den heranrückenden französischen Kolonialisten mit ihren Missionaren als barbarisch. Condés Roman erzählt von immer neuen historischen Wendungen, Allianzen, Feindschaften, der Macht der Männer, der Unfähigkeit der Menschen zum Frieden und ihrer vergeblichen Suche nach einem Sehnsuchtsort. Sei es Afrika für die in der Karibik gestrandeten Sklaven oder für die Afrikaner Jamaika, wo sich die angeblich heldenhaften Maroons von der Sklaverei befreiten. Condé entmystifiziert, erzählt sinnlich und grausam von Schicksalsschlägen."

Thomas Brückner betont in der NZZ die zentrale Rolle der Négritude in Condés Prosa und ihren Essays: "Diese entfaltet dank ihrem Wirken neben der afrikanischen Wirkungsgeschichte auch eine starke, auf den aus Martinique stammenden Dichter Aimé Césaire zurückgehende karibische Traditionslinie. Überdies wird die 'créolité' für Condé ein wichtiges Thema, da gerade in der Karibik die Durchmischung der Kulturen ein eminentes und zugleich allzu oft beschwiegenes Faktum darstellt." Joseph Hanimann würdigt in der FAZ "ihre erzählerische Kraft, die alles Theoretische, Politische, Feministische im Werk mit sich fortreißt". Andrea Pollmeier zählt in der FR "Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit" als prägende "Impulse" in Condés Werk auf.

Weiteres: Für die NZZ hat sich Nadine A. Brügger in Leipzig mit Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann zum Gespräch über deren gemeinsames Buch "Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat" getroffen. Sylvia Staude spricht für die FR mit der Booker-Prize-Autorin Eleanor Catton über deren Thriller "Der Wald". Besprochen werden unter anderem Benjamin Koppels "Annas Lied" (FAZ) und Iris Wolffs "Lichtungen" (SZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2024 - Literatur

Lars von Törne berichtet im Tagesspiegel in beeindruckender Ausführlichkeit und Detailkenntnis von den zahlreichen Kontroversen in der Comicszene zum Nahostkrieg. Wie in fast allen Debatten im Kulturbetrieb zum Thema zeichnen sich auch diese durch schroffe Einseitigkeit aus: Der Zeichner Mohammed Sabaaneh etwa veröffentlichte einen Tag nach dem Terrorangriff der Hamas eine Bildersequenz: "Das erste zeigt ein weinendes Auge, im zweiten verändert die Träne ihre Form, im dritten Bild ist daraus ein Gleitschirm geworden, an dem eine Figur so durch die Luft segelt, wie es einige Hamas-Angreifer am 7. Oktober gemacht haben. Die Sequenz macht deutlich: Der Zeichner sieht den Terrorangriff als legitime Antwort auf palästinensisches Leid aus der Zeit vor dem 7. Oktober, die Toten jenes Tages spielen für ihn keine Rolle. Dies ist eine Perspektive, die sich in vielen Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern mit arabischen Wurzeln oder pro-palästinensischer Überzeugung wiederfindet."

Maria Sterkl unterhält sich im Standard mit dem israelischen Schriftsteller Eshkol Nevo über das Schreiben nach dem 7. Oktober. Zumindest Fiktion kommt ihm seitdem nicht mehr aus der Feder: "Ich kann es einfach nicht. Was ich schreibe, sind fast tagebuchartige Essays für Zeitungen, in Italien und in Deutschland. Sonst nichts. ... Die Realität ist zu stark, zu erschlagend. Da ist es schwer, sich etwas anders vorzustellen. Vielleicht braucht es auch einfach noch Zeit. Ich habe oft dramatische Ereignisse in Israel in meiner Literatur verarbeitet, aber es hat immer ein paar Jahre gedauert, bis ich es verdaut hatte und darüber schreiben konnte. Über den Mord an Rabin schrieb ich erst sieben Jahre später. ... Man ist einfach von der unmittelbaren Erfahrung zu sehr überwältigt. Ich glaube, man muss ein Minimum an Langeweile verspüren, damit sich im Kopf die Geschichten auftun."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Serhij Zhadan hat sich in seiner ukrainischen Heimat bei einem Kampfbataillon angemeldet, schreibt Ulrich M. Schmidt in der NZZ: Dieser Schritt sei "auch Ausdruck einer Resignation über die mangelnde Unterstützung aus dem Westen". Außerdem kürt die Welt die besten Sachbücher des Monats: Auf Platz 1 findet sich Philipp Felschs Biografie über Jürgen Habermas.

Besprochen werden unter anderem Deniz Ohdes "Ich stelle mich schlafend" (Zeit), Ronya Othmanns "Vierundsiebzig" (NZZ), Percival Everetts "James" (Jungle World), Volha Hapeyevas "Samota" (Standard), Søren Ulrik Thomsens Essay "Store Kongensgade 23" (online nachgereicht von der FAZ), Elizabeth Strouts "Am Meer" (NZZ), Sergei Lebedews Erzählungsband "Titan oder die Gespenster der Vergangenheit" (NZZ), Claudia Graf-Grossmanns Biografie über Johannes Mario Simmel (Standard), Katja Riemanns "Zeit der Zäune: Orte der Flucht" (FR), Bastien Vivès' Comic "Letztes Wochenende im Januar" (taz), Amanda Cross' Krimi "Die Tote von Harvard" (FR), Gerhard R. Kaisers "Keller Mansarde Einsiedelei. Imaginäre Orte des Dichtens" (Welt), Fang Fangs "Glänzende Aussicht" (SZ) und neue Krimis, darunter Janice Halletts "Der Twyford-Code" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Christine Lavants "Her mit dem Kelch":

"Her mit dem Kelch, ich trinke, was ich muß,
und meine Rechte stützt sich auf die Linke,
das ist die Erde, der ich schnell noch winke ..."

Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2024 - Literatur

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Für die taz spricht Katrin Gottschalk mit Anke Feuchtenberger über deren Comic "Genossin Kuckuck", der eben für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und non-linear bis assoziativ von einer Kindheit in der DDR erzählt. Dabei geht es mitunter mystisch bis animistisch zu, manchmal verwandeln sich Menschen auch in Tiere. "Die Kindheit hat viel mit Animismus zu tun - Kinder animieren eine Teekanne, verbrüdern sich mit Hunden oder nehmen Schnecken als Gesprächspartner", sagt Feuchtenberger. "Das ist nicht albern, sondern eine Welterfahrung, an die ich mich gut erinnere. Ich bin nicht so abgebrüht, dass mir das fremd wäre. ... Ich stelle mir vor, dass Verwandlung notwendig ist, um Traumata zu heilen oder sich weiterzuentwickeln... In 'Genossin Kuckuck' geht es um Wesen im Dazwischen."

Weitere Artikel: Linus Schöpfer wirft für die NZZ einen Blick auf aktuelle Schweizer Debatten um Jeremias Gotthelf. Der Schriftsteller Michael Kleeberg rät in "Bilder und Zeiten" der FAZ, auch abseits von "Manhattan Transfer" und der USA-Trilogie im Werk von John Dos Passos zu lesen: "Ein literarischer Kontinent harrt seiner Wiederentdeckung." Fürs "Literarische Leben" der FAZ spricht Martin Seng mit dem Mangaka Gou Tanabe über seinen Zyklus von Lovecraft-Adaptionen. Im Tagesanzeiger verneigt sich Guido Kalberer vor Franz Kafka. Für einen Essay in "Bilder und Zeiten" der FAZ blättert der Schriftsteller Deniz Utlu in seinen Tagebüchern aus Jugendtagen und staunt über den Menschen, den er darin antrifft. Wolfgang Matz erinnert in "Bilder und Zeiten" der FAZ an die erste, 1972 erschienene Ausgabe der französischen Kulturzeitschrift L'Éphémère. In den "Actionszenen der Weltliteratur" denkt Mladen Gladić (Welt) an die Zeit zurück, als Grimmelshausen in Kriegswirren entführt wurde. Georg Fritsch erinnert im Standard an seinen vor 100 Jahren geborenen Vater, den Schriftsteller Gerhard Fritsch. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Gert Heidenreich zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Deniz Ohdes "Ich stelle mich schlafend" (taz), Rebecca F. Kuangs "Yellowface" (Standard), eine vom Kafka-Biografen Reiner Stach kommentierte Neuausgabe von Franz Kafkas "Der Process" (Standard), Kerstin Hensels "Die Glückshaut" (taz), Stefanie de Velascos "Das Gras auf unserer Seite" (FR), Pedro Almodóvars Storyband "Der letzte Traum" (NZZ), Delafs nach Franquin gestalteter Comic "Gaston. Die Rückkehr eines Chaoten" (Welt), eine Arte-Doku über Art Spiegelmans Comicklassiker "Maus" (Tsp), eine von Charly Hübner und Caren Miosga gelesene Aufnahme von Uwe Johnsons "Jahrestage" (online nachgereicht von der Zeit), neue Kinderbücher (taz) und Maren Kames' "Hasenprosa" (FAZ).