Zwei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine und den in Folge hartnäckig geführten Diskussionen, wie mit staatstragenden russischen Künstlern umzugehen sei, beobachtetNZZ-Kritiker Christian Wildhagen "eine Sehnsucht nach Business as usual" im Betrieb und einen "gewissen Pragmatismus". Darauf setzt wohl auch TeodorCurrentzis, der mit seinem hartnäckigen Schweigen zu Putin und Russland die Furtwängler-Strategie gewählt hat: künstlerischer Idealismus schlägt triviale Politik. "Er spielt offenbar auf Zeit und setzt auf die voranschreitende Abstumpfung des Publikums gegenüber moralischen Diskussionen. Gleichzeitig kann er auf die nahezu kultische Verehrung bauen, die ihm Teile der Musikwelt noch immer entgegenbringen." Doch "schon vor 2022 konnte man Unstimmigkeiten im Bild des allein der hohen Kunst verpflichteten Idealisten entdecken. Als beispielsweise publik wurde, wie hoch der Preis ist, den die Mitglieder der von Currentzis in Russland gegründeten Ensembles zu zahlen haben. Deren Perfektion wird nämlich allem Anschein nach mit autoritativen Strukturen, ausufernden Probenzeiten und einem eigenartigen Korpsgeist erkauft. Man kann solche Exzesse wiederum mit Idealismus rechtfertigen oder mit der Gruppendynamik, die nötig ist, damit die Mitglieder des Originalklang-Ensembles Musica Aeterna und des dazugehörigen Chores der Klassikwelt derart einheizen können. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass rund um die charismatische Leiter-Figur Currentzis ein System entstanden ist, das zugleich ein lukrativesGeschäftsmodell darstellt."
Stephanie Grimm hört für die taz "Kratermusik", das neue Album der mittlerweile übers gesamte Bundesgebiebt verstreuten Postpunk-BandMesser rund um den SchriftstellerHendrikOtremba. Wobei, was heißt hier Postpunk? "Selbst dieses unscharfe Etikett beschreibt beim besten Willen nicht mehr den aktuellen Messer-Sound, trotz schnalzend-zackiger New-Wave-Momente und hechelnderBeats, etwa im Song 'Eaten Alive'. Dafür groovt es einfach zu ungebrochen. Manchmal fühlt man sich gar an die guten Songs von The Police erinnert, wenn Messer erstaunlicherweise ziemlich funky klingen. Einflüsse aus Funk, Dub und den späten 1980er Jahren sorgen ob ihrer Vertrautheit für eine Zugänglichkeit des Sounds. Und doch amalgamieren Messer ihren Mix zu etwas Eigenwilligem und ziemlich Doppelbödigem: Kryptische und doch gegenwartssatte Songtexte, die bei aller Verrätselheit Assoziationsräume aufmachen; festgeklettet in einem moosiggemütlichenOffbeat-Bett." Von den aktuellen Singles der Band müssen wir natürlich "Taucher" einbinden:
Weitere Artikel: Juliane Liebert plaudert für die SZ mit BlixaBargeld, dessen EinstürzendeNeubauten gerade ein neues Album veröffentilcht haben. Lars Fleischmann berichtet für die taz vom Musikfestival Babel Music XP in Marseilles. Ane Hebeisen stellt im Tagesanzeiger das neue Musikprojekt "Achtung Niemand" des Schweizer Sprachkünstlers JürgHalter vor. Besprochen wird das neue Album der BlackKeys, für das sich auch Beck und NoelGallagher für Gastauftritte im Studio vorbeigeschaut haben (Standard).
Während die BerlinerKlassikhäuser derzeit geradezu einen Run auf ihr Angebot erleben, kürzt der RBB sein Klassikangebot "antizyklisch" weiter ein, ärgert sich Frederik Hanssen im Tagesspiegel (und lügt sich damit aber vielleicht auch ein wenig in die eigene Tasche, wenn er die Ticketverkäufe eins zu eins in eins in individuelle Menschen übersetzt). Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Heidelberger Frühling. Luzi Bernet plaudert für die NZZ mit GiannaNannini, die in Italien gerade ein sensationelles Comeback hingelegt hat. Daniel Haas (NZZ) und Harald Hordych (SZ) berichten von Campinos Lyrik-Vorlesung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf (mehr dazu bereits hier).
Besprochen werden Wiederveröffentlichungen aus der ukrainischenUndergroundszene der Achtziger- und Neunzigerjahre (taz) und das neue Werk der EinstürzendenNeubauten ("ein spannendes Album, das mehr Nice als Noise beinhaltet", schreibt sich Christian Schachinger im Standard).
"Eine, ganz unironisch gemeint, wunderschöne deutsche Bürgerlichkeit" hat sich beim Auftakt von CampinosGastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eingefunden, schwärmt Frédéric Schwilden in der Welt. "Jetzt ist der Marsch durch die Institutionen an seinem logischen bürgerlichen Ende angelangt: vom Punkschuppen ins Stadion, vom Soundtrack der Punks zum Wahlsieg-Song der CDU 2014, zum Gala-Dinner mit Prince Charles und jetzt auf den Lehrstuhl. Folgerichtig für den Lehrerinnen- und Richter-Sohn Campino." Seine "erste Vorlesung trägt den Titel 'Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer. Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik'. Und das ist auch wieder ganz ehrlich: Wie toll ist es bitte, dass sich Campino selbst als Gebrauchslyriker sieht. Er sieht sich nicht als großer, berufener Künstler, und hat damit den Schweighöfers in diesem Land einiges voraus. Campino hat eine große, ehrliche Demut in seiner Person."
Weitere Artikel: Hanspeter Künzler hat für die NZZ mit BethDittogesprochen, deren Band Gossip gerade ein Comeback hinlegt. Katharina Granzin berichtet in der taz von den Bestrebungen Barcelonas, sich mit Klassikfestivals mit teils freiem Eintritt vom Party-Tourismus zu emanzipieren und stattdessen Kulturmenschen anzulocken.
Besprochen werden das neue Idles-Album "Tangk" (FR), die Neuausgabe von BrionGysins Underground-Album "Junk" ("insofern ein klassisches Postpunk-Album, als es den Zusammenprall von Punk mit vorherigen Popgenres, von Disco zu Krautrock, Dub und Reggae abbildet", schreibt Jens Uthoff in der taz) und das Wiener Konzert von JudasPriest (Standard, Presse). Wir moshen in Berlin aus der Ferne mit:
Julia Lorenz spricht für ZeitOnline mit Prinzen-Sänger SebastianKrumbiegel. Besprochen werden Beyoncés neues Album "Cowboy Carter" (Pitchfork, Standard, mehr dazu bereits hier), ein Konzert der EinstürzendenNeubauten (taz), JanBlomqvists Auftritt beim Caprices Electronic Dance Music Festival in Crans-Montana (NZZ), ein Berliner Konzert von TomOdell (Tsp) und ein Konzert von Underworld (FR).
Mit ihrem neuen Album "Cowboy Carter" erobert Beyoncé nicht nur die Streaming-Charts und Social Media wie im Sturm, sondern auch die brav den Gesslerhut werfenden Feuilletons. Wie der Vorgänger von 2022, "Renaissance, Act 1", ist auch dieses Album wieder eine musikarchäologische Grabungsarbeit - diesmal allerdings in den Archiven des Country. Mit ihrer Vorab-Single "Texas Hold'em" dominiert sie, als erste schwarze Frau überhaupt und übrigens tatsächliche Texanerin, seit Wochen die Country-Charts in den USA. Diese "Renaissance der Hillbilly-Musik ist eine dialektische Provokation, ein feierliches, fröhliches Bekenntnis zum konservativen Süden und zu ihrer Herkunft mit der Botschaft: Country, älter, männlich, weiß, ist ein Klischee und kann auch jünger, weiblich, schwarz sein und für alle da", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Dabei war weißer Country immer schon ein Märchen, eine amerikanische Legende. ... Wo der Country herkam, aus den Appalachen und dem Hinterland der Südstaaten, lebten bekanntlich nicht nur Weiße. Mit den schwarzen Sklaven hatten sich die weißen Siedler auch gewisse Spielarten der afrikanischen Musik ins Land geholt. Ohne den Blues der schwarzen Landarbeiter hätte es den Country nie gegeben." Hier covert Beyoncé DollyPartons "Jolene" (Parton selbst tritt in einem kleinen Einspieler und in einem Duett auf dem Album in Erscheinung).
"Es geht bei Beyoncé also mal wieder um Rückeroberung", schreibt Julia Lorenz auf Zeit Online und staunt, "wie ernsthaft, wie frei von Brüchen oder Twists die stets ostentativgeschmackssicher agierende Beyoncé mit Spezifika, sogar Klischees des Genres Country umgeht". Aber Lorenz packt hier und da doch auch leiser Zweifel: "Egal, wie respektvoll sie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger mit Credits und Querverweisen zu ehren versucht: Giganten glaubt man so schrecklich schwer, dass sie auf den Schultern von Giganten stehen. ... Im besten Falle schärft ein Star wie Beyoncé das popkulturelle Geschichtsbewusstsein ihres Publikums", doch "im schlechtesten Falle überschreibt sie eben jene übersehenen, übergangenen Stimmen, auf die sie aufmerksam machen will, mit ihrem eigenen Highperformertum."
Weiteres zu Beyoncés Album: Für Pop-Philologen ist dieses Album ein gefundenes Fressen, ein reich gefüllter Steinbruch, jubelt Joachim Hentschel in der SZ nach dem ersten Hördurchgang. Jonathan Fischer erzählt auf Zeit Online die Diskriminierungsgeschichte schwarzer Musiker im Country. In der NZZzeichnet Ueli Bernays Beyoncés künstlerischen Werdegang vom Nineties-Girlie-Pop unter der Fuchtel ihrer Eltern zum emanzipierten Autorinnen-Pop der Gegenwart nach. Weitere Besprechungen außerdem im Standard und auf FAZ.net.
Außerdem: FAZ-Kritiker Clemens Haustein betrachtet mit dem neuen, vom RIAS-Kammerchor eingesungenen Audio-Guide die zwölf Passionsbilder in der Berliner Gemäldegalerie: Diese "herausragend schönen Aufnahmen ermöglichen beglückendeBildmeditationen". In der tazannonciert Katja Kollmann die Tour des ukrainischen Quartetts DZ'OB. Vor fünfzig Jahren legte Punk mit dem ersten Auftritt der Ramones seine Initialzündung hin, schreibt Karl Fluch im Standard. Günther Haller erinnert in der Presse an Anton Bruckners Kindheit.
Besprochen werden die Wiederaufführung von JonathanDemmes Konzertfilmklassiker "Stop Making Sense" mit den TalkingHeads (Jungle World), AndréHellers Bühnencomeback in der Hamburger Elbphilharmonie (Standard) und das Comeback-Album der Libertines (WamS). Wir hören rein:
Am Karfreitag1724 wurde in der Leipziger Nikolaikirche BachsJohannes-Passion uraufgeführt - Michael Maul von VANstaunt darüber und leidet daran, dass kaum etwas davon überliefert ist, geschweige denn überhaupt dokumentiert wurde, wie das epochale Werk seinerzeit von den ersten Ohrenzeugen aufgenommen wurde. Das Geplänkel und Gezerre im Vorfeld der Aufführung sowie das Nachspiel von Bachs etwas kokettem Auftreten gegenüber den Oberen ist zwar bestens belegt. Doch "ein Wort zu Bachs 'Passion'? Auch im Gesprächsprotokoll des Superintendenten Fehlanzeige. ... Angesichts der Dokumentenlage, will man den damaligen Protagonisten rings um Bach mit Matthäus zurufen: 'Wer Ohren hat, der höre!' - und Bach von Herzen wünschen, dass zumindest ein paar beteiligte Thomaner und Stadtpfeifer und eine Handvoll musikalischer Kenner unter den Leipziger Zuhörern wenigstens erahnten, was ihr neuer Kantor da am 7. April 1724 der Stadt und dem Erdkreis geschenkt hatte." Außerdem führt Arno Lücker für VAN mit Klangbeispielen durch diverse Interpretationen der Johannes-Passion. "Unfassbar überzeugend" findet er die von RenéJacobs dirigierte Aufnahme der Akademie für Alte Musik Berlin mit dem RIAS Kammerchor:
Als verschollen gilt hingegen die Musik (nicht aber das Libretto) von BachsMarkus-Passion. Deren bisherige Aufführungen basieren auf der spekulativen Montage von Stückwerken anderer Bach-Werke. Einen neuen Weg beschreitet nun der Dirigent und Komponist NikolausMatthes, schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ: Er hat auf CD eine Eigenkomposition der Passion vorgelegt, was "erst einmal staunen macht. Denn Matthes schreibt keine wie auch immer geartete moderne Musik, er versetzt sich in die Zeit seines 300 Jahre älteren Vorbilds und komponiert à la Bach, oft schlanker, wenigerspekulativ. Das Ganze ist frech, gut gemacht, vertraut klingend und also hörenswert." Doch "letztlich macht Matthes nichts anderes als jene Baumeister des 19. Jahrhunderts, die begeistert von der Gotik deren Baustil einfach kopierten."
Weitere Artikel: Thomas Kramar blickt für die Presse amüsiert auf eine Studie, die nach einer Genanalyse zu dem Schluss kommt, dass Beethoven rein von seiner genetischen Disposition her deutlich weniger musikalisch gewesen sei als der Durchschnitt. In der FAZgratuliert Gerald Felber dem Komponisten SiegfriedThiele zum 90. Geburtstag.
Besprochen werden DiedrichDiederichsens Buch "Das 21. Jahrhundert" mit gesammelten Texten und Essays seit 2000 (taz), 1010Benjas Album "Ten Total" (Pitchfork) und die restaurierte Wiederaufführung von JonathanDemmes legendärem Kino-Konzertfilm "Stop Making Sense" mit den TalkingHeads (taz, Standard).
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Thomas Combrink über "Breaking the Law" von JudasPriest:
Robert Mießner freut sich in der taz über JohnnyDowds zwar schon letzten Herbst veröffentlichtes Album "Is Heaven Real? How Would I Know", mit dem der Outsider-Artist, der bis vor wenigen Jahren seine Kunst als Möbelspediteur querfinanziert hat, aber nun nach Deutschland auf Tour kommt. Sonst wildert Dowd in Country-iana, diese Musik aber "ließe sich als Dowds Version und Vision von Soul beschreiben. Die Musik klingt nach SonnenstrahlenimStaub und Eiswürfeln im Glas". Thematisch bleibt sich Dowd treu: "Seine Housewives sind immer noch desperate und seine Handlungsreisenden Untergeher, doch kommt jetzt eine gewisse Gelassenheit zum Tragen. Der Humor ist immer noch skurril: Den liebeskranken Protagonisten von 'Ice Pick' zu Trotzki in seinem letzten Moment werden zu lassen, muss man erst einmal bringen. 'Pillow', das mit Kirmesmusik gemachte Geständnis, Sartre nie verstanden zu haben, und 'LSD', die Antwort auf die philosophische Misere, bilden eine Klammer. ... Freudeistmöglich, vor dem Himmel."
Weitere Artikel: Elmar Krekeler ruft in der Welt mit Vivaldis "Vier Jahreszeiten" den Frühling aus. Besprochen werden das Comeback-Album von Shakira (Presse) und Brittany Howards Album "What Now" (FR).
Hin und weg ist Christian Wildhagen (NZZ) von PabloHeras-Casados Gastspiel, der beim LucerneFestivalBeethovens Siebte dirigierte und glatt "zur Eruption" brachte. Seit seinem Bayreuther "Parsifal" drehen sich alle nach dem Spanier um. Er ist "Experte sowohl für die historische Aufführungspraxis wie auch für zeitgenössische Musik. Man kann diese doppelte Perspektive sogar hören: Die glasklareArtikulation, der genau dosierte Vibrato-Einsatz, die fließenden, aber nie übereilten Tempi - dies alles stammt aus der Originalklang-Bewegung. ... Für das LFO ist das in solcher Zuspitzung ein neuer Ton - umso mehr, als Heras-Casado eben nicht nur historisierend zurückblickt, sondern gleichzeitig die Modernität dieser radikalsten aller Beethoven-Sinfonien herausarbeitet. Die auf zehn erste Violinen reduzierte Streicherbesetzung lässt die phantastischen Bläser noch stärker hervortreten, der Klang wird prägnanter, härter, kämpferischer."
Außerdem: Thomas Mauch resümiert in der taz die Berliner MaerzMusik. In der Welterklärt Michael Pilz, warum PeterSchillings"Major Tom" die beste Torhymne für die deutsche Fußballnationalmannschaft wäre. Nachgereichte Nachrufe auf MaurizioPollini (weitere Nachrufe bereits hier) schreiben Florian Eichel (Zeit Online) und Berthold Seliger (ND). Außerdem schreiben Gregor Dotzauer (Tsp) und Max Nyffeler (FAZ) zum Tod von Péter Eötvös (weitere Nachrufe bereits hier). Edo Reents (FAZ), Claudia Reinhard (Tsp) und Andrian Kreye (SZ) gratulieren Diana Ross zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden ein Konzert von JudasPriest (FR), ein Bach-Konzert des HR-Sinfonieorchesters mit dem VocalconsortBerlin (FR), ein Auftritt von Bilderbuch (Tsp) und MoorMothers neues Album "The Great Bailout" (taz).
Die Feuilletons müssen den Tod gleich zweier Protagonisten des klassischen Musikbetriebs verkraften, Peter Eötvös und Maurizio Pollini. Zu Pollini, der im Alter von 82 Jahren starb, schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ: "Er war der aufgeklärte, der 'fortschrittliche' Pianist seiner Zeit, vielleicht der sprödeste, empfindlichste, grüblerischste unter den großenVirtuosen. Für Chopin setzte Pollini auf kristallklareEnergie, für Bachs Wohltemperiertes Klavier oder Beethovens 32 Sonaten auf eine eiserneFormlogik, für Schubert, Schumann oder Brahms, für Debussy oder Schönberg auf Poesie, Prägnanz, Geradlinigkeit." Auch der Moderne des 20. Jahrhunderts öffnete er sich, doch wollte er "bei aller Kampfansage an die Hörgewohnheiten des Publikums nieeinAvantgarde-Guru sein". In seinen Aufnahmen "wird man nicht mit letztgültigen Interpretationen für die Ewigkeit konfrontiert", schreibt Wolfgang Stähr in der NZZ. "Man folgt einer Suchbewegung und begreift, welcher Reichtum an Möglichkeiten sich hinter jeder Note auftut: Es könnte alles auch ganz anders sein. Unruhe, Begeisterung, Anspannung, Unberechenbarkeit zeichneten Pollinis Klavierspiel aus - keine Chance, sich bequem zurückzulehnen."
"Pollini explodierte sehr jung als pianistisches Genie, als er 1960, mit nur achtzehn Jahren, den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann", erinnert Jan Brachmann in der FAZ. "Seine sagenhafte Technik, die scharfgeschnittene Artikulation, unbeirrbare Phrasierung, lebhaft, doch weitgehend im Verzicht auf Temposchwankungen (das berühmte Rubato) und die perfekt ausbalancierte Statik der Mehrstimmigkeit verblüfften die Welt. Auf dem Debüt-Album, das kurz danach bei der EMI erschien, kann man es bis heute nachhören: Wie unausweichlich steuert er den Höhepunkt in der Coda von Chopins fis-Moll-Polonaise op. 44 an, wenn die heroische Anstrengung in tragischeKapitulation umschlägt!" Weitere Nachrufe schreiben Manuel Brug (Welt) und Judith Sternburg (FR).
Die Feuilletons trauern auch um den Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös, der achtzig Jahre alt wurde: "Eötvös war nie ein Komponist des schönen Scheins, immer begriff er das Komponieren wie das Leben", würdigt ihn Reinhard J. Brembeck in der SZ: "dramatisch, aufgewühlt, packend. Als Musiker war er wie als Komponist ein Mittler zwischen Ost und West, der Avantgarde und einem ihr skeptisch gegenüberstehenden Publikum. Wenn er die legendären 'Gruppen' seines Lehrers Karlheinz Stockhausen dirigierte, dann geschah das Wunder. Die Sperrigkeit wurde zu sinnlich einleuchtender Musik." Manuel Brug erinnert sich auf Welt Online: "Er war offen, kein Dogmatiker, man wusste nie, was man von ihm als nächstes Klanggericht vorgesetzt bekam. Ohne jedes Dogma pflegte er einen legeren Polystilismus. Peter Eötvös war weltoffen, liebte aber auch, wie Fellini, die zirzensische, extraterrestrische Welt der Gaukler und Akrobaten." Hier spielt das hr-Sinfonieorchester seine Komposition "The Gliding of the Eagle in the Skies", dirigiert von ihm selbst:
Alex Rühle ärgert sich in der SZ darüber, dass sich auf den popularen Gebrauchsmusik-Playlists auf Spotify (von Relaxen bis Yoga) nur ein paar Komponisten hinter einer Myriade von Pseudonymen verstecken - und dass Spotify hier wohl ausgefuchste Deals ausgeheckt hat: niedrige Tantiemen gegen prominente Platzierung. Der erfolgreichste Komponist ist ein gewisser JohanRöhr. "Spotify sitzt in Stockholm. Röhrs Musik wird von den Overtone Studios veröffentlicht, einem Stockholmer Label, das zu der ebenfalls in Stockholm ansässigen Firma Epidemic Sound gehört. Die konnte ihren Umsatz 2022 um fast 50 Prozent steigern. Bei Firefly Entertainment, einer Firma, die im schwedischen Stockholm beheimatet ist, vervierfachte sich das Geschäftsvolumen im selben Zeitraum sogar auf 360 Millionen schwedische Kronen. So, wie es aussieht, sind all die Playlists also genau das Gegenteil von Weltmusik, sie werden von einem kleinen Stockholmer Klüngel komponiert und vertrieben, MonokulturzuDumpingpreisen."
Weiteres: In russischenGefängnissen werden Dissidenten zum Teil auch mit musikalischerDauerbeschallung gefoltert, schreibt Ueli Bernays in der NZZ, wobei dafür auf auffallend viel westliche Rockmusik zurückgegriffen wird. Besprochen werden die Berliner Ausstellung "Heavy Metal in der DDR" (taz), AdrianneLenkers Folkalbum "Bright Future" (Zeit Online), das neue Album von Meute (FAS), ein Konzert von NewModelArmy (FR) und die Wiederveröffentlichung von AliceColtranes "The Carnegie Hall Concert" aus dem Jahr 1971 (Pitchfork). Wir hören rein:
Die BerlinerClubszene "hat ein massives Antisemitismusproblem", bekräftigt Nicholas Potter im taz-Gespräch, was sich nicht zuletzt in der Polarisierung der letzten Monate offen zeigt. Weite Teile der Szene äußern sich "antiisraelisch. Ich sage bewusst nicht propalästinensisch. Aber das ist eine Form von Delegitimierung des jüdischen Staats, die man als antisemitisch bezeichnen muss." Schon vor dem 7. Oktober "hat man hat ein gewisses Feindbild kultiviert und dieses war am 7. Oktober plötzlich zerbrochen." Hier herrschte "zunächst Schweigen, da hat niemand was gesagt. Bis Israel mit Luftanschlägen reagierte. Dann war das alte Feindbild wiederhergestellt. Man konnte sehr bequem alles andere ignorieren, was auf dem Supernova passierte oder in den Kinderzimmern der Kibbuzim im Süden des Landes. Man fokussierte sich allein auf die DämonisierungIsraels."
Weitere Artikel: Der Schweizer Kulturwissenschaftler Andi Schoon berichtet in der taz von seinen Archivforschungen in Südafrika zu den Komponisten ArnoldvanWyk und HubertduPlessisn, die sich einst einen unbehelligten homosexuellen Lebensstil mit der Komposition nationalistischer Musik erdealt hatten. Für die WamS plaudert Martin Scholz mit Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson, der aktuell ein Soloalbum zu promoten hat.
Besprochen werden ein neues Album von YardAct (FR), ein von MarinAlsop dirigiertes Konzert des RadioSymphonieOrchesters des ORF (Standard), ein Auftritt von KingaGlyk bei der hr-Bigband (FR), "Bright Future" von AdrianneLenker (SZ), HenrykGerickes Buch "Tanz den Kommunismus - Punkrock DDR 1980 bis 1989" (FAS) und das neue Album von BethDittos Band Gossip (" alles ein bisschen zu brav und glatt", seufzt Karl Fluch im Standard, "das Widerspenstige, das Ditto ins Wesen geschrieben ist, dominiert nicht mehr wie früher").