Die Feuilletons müssen den Tod gleich zweier Protagonisten des klassischen Musikbetriebs verkraften, Peter Eötvös und Maurizio Pollini. Zu Pollini, der im Alter von 82 Jahren starb, schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ: "Er war der aufgeklärte, der 'fortschrittliche' Pianist seiner Zeit, vielleicht der sprödeste, empfindlichste, grüblerischste unter den großenVirtuosen. Für Chopin setzte Pollini auf kristallklareEnergie, für Bachs Wohltemperiertes Klavier oder Beethovens 32 Sonaten auf eine eiserneFormlogik, für Schubert, Schumann oder Brahms, für Debussy oder Schönberg auf Poesie, Prägnanz, Geradlinigkeit." Auch der Moderne des 20. Jahrhunderts öffnete er sich, doch wollte er "bei aller Kampfansage an die Hörgewohnheiten des Publikums nieeinAvantgarde-Guru sein". In seinen Aufnahmen "wird man nicht mit letztgültigen Interpretationen für die Ewigkeit konfrontiert", schreibt Wolfgang Stähr in der NZZ. "Man folgt einer Suchbewegung und begreift, welcher Reichtum an Möglichkeiten sich hinter jeder Note auftut: Es könnte alles auch ganz anders sein. Unruhe, Begeisterung, Anspannung, Unberechenbarkeit zeichneten Pollinis Klavierspiel aus - keine Chance, sich bequem zurückzulehnen."
"Pollini explodierte sehr jung als pianistisches Genie, als er 1960, mit nur achtzehn Jahren, den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann", erinnert Jan Brachmann in der FAZ. "Seine sagenhafte Technik, die scharfgeschnittene Artikulation, unbeirrbare Phrasierung, lebhaft, doch weitgehend im Verzicht auf Temposchwankungen (das berühmte Rubato) und die perfekt ausbalancierte Statik der Mehrstimmigkeit verblüfften die Welt. Auf dem Debüt-Album, das kurz danach bei der EMI erschien, kann man es bis heute nachhören: Wie unausweichlich steuert er den Höhepunkt in der Coda von Chopins fis-Moll-Polonaise op. 44 an, wenn die heroische Anstrengung in tragischeKapitulation umschlägt!" Weitere Nachrufe schreiben Manuel Brug (Welt) und Judith Sternburg (FR).
Die Feuilletons trauern auch um den Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös, der achtzig Jahre alt wurde: "Eötvös war nie ein Komponist des schönen Scheins, immer begriff er das Komponieren wie das Leben", würdigt ihn Reinhard J. Brembeck in der SZ: "dramatisch, aufgewühlt, packend. Als Musiker war er wie als Komponist ein Mittler zwischen Ost und West, der Avantgarde und einem ihr skeptisch gegenüberstehenden Publikum. Wenn er die legendären 'Gruppen' seines Lehrers Karlheinz Stockhausen dirigierte, dann geschah das Wunder. Die Sperrigkeit wurde zu sinnlich einleuchtender Musik." Manuel Brug erinnert sich auf Welt Online: "Er war offen, kein Dogmatiker, man wusste nie, was man von ihm als nächstes Klanggericht vorgesetzt bekam. Ohne jedes Dogma pflegte er einen legeren Polystilismus. Peter Eötvös war weltoffen, liebte aber auch, wie Fellini, die zirzensische, extraterrestrische Welt der Gaukler und Akrobaten." Hier spielt das hr-Sinfonieorchester seine Komposition "The Gliding of the Eagle in the Skies", dirigiert von ihm selbst:
Alex Rühle ärgert sich in der SZ darüber, dass sich auf den popularen Gebrauchsmusik-Playlists auf Spotify (von Relaxen bis Yoga) nur ein paar Komponisten hinter einer Myriade von Pseudonymen verstecken - und dass Spotify hier wohl ausgefuchste Deals ausgeheckt hat: niedrige Tantiemen gegen prominente Platzierung. Der erfolgreichste Komponist ist ein gewisser JohanRöhr. "Spotify sitzt in Stockholm. Röhrs Musik wird von den Overtone Studios veröffentlicht, einem Stockholmer Label, das zu der ebenfalls in Stockholm ansässigen Firma Epidemic Sound gehört. Die konnte ihren Umsatz 2022 um fast 50 Prozent steigern. Bei Firefly Entertainment, einer Firma, die im schwedischen Stockholm beheimatet ist, vervierfachte sich das Geschäftsvolumen im selben Zeitraum sogar auf 360 Millionen schwedische Kronen. So, wie es aussieht, sind all die Playlists also genau das Gegenteil von Weltmusik, sie werden von einem kleinen Stockholmer Klüngel komponiert und vertrieben, MonokulturzuDumpingpreisen."
Weiteres: In russischenGefängnissen werden Dissidenten zum Teil auch mit musikalischerDauerbeschallung gefoltert, schreibt Ueli Bernays in der NZZ, wobei dafür auf auffallend viel westliche Rockmusik zurückgegriffen wird. Besprochen werden die Berliner Ausstellung "Heavy Metal in der DDR" (taz), AdrianneLenkers Folkalbum "Bright Future" (Zeit Online), das neue Album von Meute (FAS), ein Konzert von NewModelArmy (FR) und die Wiederveröffentlichung von AliceColtranes "The Carnegie Hall Concert" aus dem Jahr 1971 (Pitchfork). Wir hören rein:
Die BerlinerClubszene "hat ein massives Antisemitismusproblem", bekräftigt Nicholas Potter im taz-Gespräch, was sich nicht zuletzt in der Polarisierung der letzten Monate offen zeigt. Weite Teile der Szene äußern sich "antiisraelisch. Ich sage bewusst nicht propalästinensisch. Aber das ist eine Form von Delegitimierung des jüdischen Staats, die man als antisemitisch bezeichnen muss." Schon vor dem 7. Oktober "hat man hat ein gewisses Feindbild kultiviert und dieses war am 7. Oktober plötzlich zerbrochen." Hier herrschte "zunächst Schweigen, da hat niemand was gesagt. Bis Israel mit Luftanschlägen reagierte. Dann war das alte Feindbild wiederhergestellt. Man konnte sehr bequem alles andere ignorieren, was auf dem Supernova passierte oder in den Kinderzimmern der Kibbuzim im Süden des Landes. Man fokussierte sich allein auf die DämonisierungIsraels."
Weitere Artikel: Der Schweizer Kulturwissenschaftler Andi Schoon berichtet in der taz von seinen Archivforschungen in Südafrika zu den Komponisten ArnoldvanWyk und HubertduPlessisn, die sich einst einen unbehelligten homosexuellen Lebensstil mit der Komposition nationalistischer Musik erdealt hatten. Für die WamS plaudert Martin Scholz mit Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson, der aktuell ein Soloalbum zu promoten hat.
Besprochen werden ein neues Album von YardAct (FR), ein von MarinAlsop dirigiertes Konzert des RadioSymphonieOrchesters des ORF (Standard), ein Auftritt von KingaGlyk bei der hr-Bigband (FR), "Bright Future" von AdrianneLenker (SZ), HenrykGerickes Buch "Tanz den Kommunismus - Punkrock DDR 1980 bis 1989" (FAS) und das neue Album von BethDittos Band Gossip (" alles ein bisschen zu brav und glatt", seufzt Karl Fluch im Standard, "das Widerspenstige, das Ditto ins Wesen geschrieben ist, dominiert nicht mehr wie früher").
"Das Countryalbum des Jahres erscheint eine Woche früher als gedacht", freut sich Daniel Gerhardt auf Zeit Online. Gemeint ist nicht das neue Beyoncé-Album, das diesen Titel bereits sicher glaubte, sondern "Tigers Blood" der Gruppe Waxahatchee rund um die Sängerin KatieCrutchfield und diese Platte "gehört zu jenen Platten, nach denen eigentlich nichts mehr kommen kann: kein besserer Song, keine schönere Geschichte, keinekomplettereHeilung. Wer schon mal aus dem Fenster in ein Wespennest gefallen ist, sich dabei was gebrochen hat und dann vom Krankenwagen überfahren wurde, der weiß, worum es bei Countrymusik geht. Wer sich außerdem daran erinnern kann, wie langsam der Schmerz nachließ und die Hoffnung zurückkehrte, für einen flüchtigen, idiotischen Moment, der weiß auch, wie sich die neuen Songs von Waxahatchee anfühlen. Denn das ist der Clou: Tigers Blood ist keiner jener Countrywitze, die mit einsamen Säufern im Straßengraben enden, verlassen von Freundinnen und Hunden. Es ist ein Daumen hoch fürs Leben." Für Pitchforkbespricht Jaysone Greene das Album ähnlich euphorisch. Wir hören rein:
Außerdem: In der Welt plaudert OliverPolak über seinen neuen Schlager-Podcastbei Dlf Kultur. Gregor Kessler spricht in der taz mit den Musikern von The Jesus and Mary Chain, die heute ein neues (im Standardbesprochenes) Album veröffentlichen.
Besprochen werden ein Auftritt von LakeciaBenjamins (Standard), Bushidos Comeback-Konzert in Berlin (BLZ), eine Berliner Aufführung von KarlheinzStockhausens Schlagzeugstück "Musik im Bauch" durch das Ensemble LesPercussionsdeStrasbourg (SZ) sowie neue Alben von Kle.ze (taz) und AdrianneLenker (Pitchfork).
Ziemlich unbehaglich fühlte sich SZ-Kritiker Joachim Hentschel beim Berliner Auftritt der britischen Postpunk-Band Idles, die die Stimmung im Saal mit Palästina-Slogans immer weiter aufpeitschten, bis die Band ihr Publikum in der mit 8.000 Menschen ansehnlich gefüllten Max-Schmeling-Halle schließlich zu kollektiven "Ceasefire Now"-Chören aufriefen. "Spätestens da kippte das leichte Unbehagen bei vielen im Saal in profundeVerärgerung. Nicht, weil ein Ruf nach Waffenruhe in Gaza, wie ihn auch Präsidenten und Minister weltweit äußern, verwerflich oder emotional unverständlich wäre. Sondern weil an dieser Stelle des Abends völlig klar war, dass keiner der Musiker sich im Lärmtaumel noch die Mühe machen würde, die Standpunkte weiter auszudifferenzieren - oder, auch das würde ja in Konzerthallen-taugliche Slogans passen, gar etwas über die menschenfeindliche Aggression der Hamas oder das SchicksalderGeiseln zu sagen."
Weitere Artikel: Jean-Martin Büttner staunt im Tagesanzeiger über die Geschichte des Komponisten JohanRöhr, der sich auf Spotify hinter 650 Namen versteckt und über 2700 Lieder (oder besser gesagt: "mood pieces") auf dem Angebot des Streamingdienstes hat - und damit in Summe häufiger gestreamt wird als Michael Jackson. Heide Rampetzreiter erinnert in der Presse an das Popjahr1994, das diverse Platten für die Ewigkeit abgeliefert hat. Arno Lücker empfiehlt in VAN diverse Aufnahmen von GeorgPhilippTelemanns "Passionen".
Besprochen werden die Bruckner-Ausstellung in der Nationalbibliothek in Wien (Standard), ein Rameau- und Mahler-Konzert des von François-XavierRoth dirigiertenn Ensembles LesSiècles in Zürich (NZZ), ein von JohnStorgards dirigiertes Konzert der JungenDeutschenPhilharmonie mit der Geigerin LeilaJosefowicz (Tsp), das neue Album des Hiphopers Manillio (TA), das neue Album von JustinTimberlake (Standard) und AdrianneLenkers Country-Album "Bright Future" (Standard).
Die Jugend-Subkulturen der DDR rücken gerade wieder etwas mehr in die Aufmerksamkeit. Wie war Punkin der DDR? Wie Metal? Antworten auf die erste Frage liefert JanHecks Kino-Dokumentarfilm "Schleimkeim - Otze und die DDR von unten" über die wichtigste und räudigste Punkband und deren erratischen Sänger und Texter. "Obwohl die damalige Punkszene im engeren Sinne nicht politisch war, galt sie der DDR als Bedrohung", schreibt Pascal Beck in der Jungle World. "'Negativ-dekadent', 'politisch labil' und 'fehlentwickelt' waren nur einige der Attribute, mit denen die Stasi die Punks belegte, weil sie dem Bild des sozialistischenIdealmenschen nicht entsprachen. Punk war das nihilistische Gegenprojekt, das dem tristen Alltag der DDR mit Spott und Verachtung begegnete. Schleimkeims Lieder zeugen davon, ihr Verfasser erst recht. ... Mit so jemandem war kein sozialistischer Staat zu machen. Der Einfallsreichtum der Obrigkeit war dementsprechend grenzenlos, um Punks wie Otze zu gängeln."
Auch beim Metal war die DDR-Obrigkeit irritiert, wenngleich weniger drakonisch, wie Andreas Hartmann im Tagesspiegel nach dem Besuch der Berliner Ausstellung "HeavyMetalinderDDR" erzählt: "So wurde er im DDR-Rock-Lexikon von 1983 noch als 'faschistoid' bezeichnet, zwei Jahre später in der FDJ-Jugendzeitschrift Neues Leben dagegen regelrecht abgefeiert. Konzerte der Band Macbeth wurden Mitte der Achtziger verboten, weil es bei diesen zu Ausschreitungen gekommen war, gleichzeitig hatte der Jugendsender DT 64 eine eigene Heavy-Metal-Sendung, die auch eingesandte Tapes von Nachwuchsbands spielte." Die ziemlich amtliche DDR-Metalband Formel 1 brachte es immerhin sogar bis zu einer Veröffentlichung auf dem Staatslabel Amiga:
Andrian Kreye spricht für die SZ mit DonWas, dem Chef von BlueNoteRecords, über Gegenwart und Vergangenheit des einst stilbildenden Jazz-Labels. Wie kommt es eigentlich, dass Blue Note in den Sechzigern ein völlig unverwechselbares ästhetisches Gepräge hatte und heute nicht mehr, will Kreye wissen. "Damals gab es einen Tontechniker, der alle großen Blue-Note-Platten aufgenommen hat, Rudy Van Gelder. Es gab einen Grafiker, Miles, einen Produzenten, Alfred Lion. In den vergangenen 60 Jahren hat sich das Plattenmachen sehr verändert. Früher haben die Musiker die Platte aufgenommen, die Designabteilung hat das Cover gemacht, die Produzenten die Musik abgemischt. Heute ist das anders. Die Beatles sind dafür verantwortlich, weil mit 'Sergeant Pepper' nicht nur die Musik, sondern alles drum herum zu einem Ausdruck wurde. ManfredEicher von ECM ist einer der wenigen, die das noch machen. Wenn man bei ihm unterschreibt, dann mit dem Verständnis, dass der künstlerische Ausdruck ein kooperatives Abenteuer mit Manfred ist. Ich bewundere das sehr, wie lange er da einen Vibe aufrechterhalten hat. Als Einzelner."
Außerdem: Die Sängerin OliviaRodrigo verteilte nach einem Konzert in Missouri als Protest gegen das dort herrschende Abtreibungsverbot kostenlos Pillen-Danach, meldet Marie-Luise Goldmann in der Welt. Rainer Moritz schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schlagersänger HenryValentino. Christian Wildhagen porträtiert für die NZZ den Dirigenten PabloHeras-Casado, dem im vergangenen Jahr in Bayreuth quasi aus dem Nicht "ein Wagner-Wunder" gelungen war. Wir hören ins Vorspiel:
FAZ-Kritiker Clemens Haustein ist sehr dankbar dafür, dass die BerlinerMaerzmusik unter der neuen Leitung von KamilaMetwaly (seit 2022) wieder vermehrt Anlässe zum Hören und weniger zum Seminargrübeln bietet - und dann sind auch Künstler wie Publikum internationaler denn je aufgestellt. Das b-l duoaus Singapur etwa hat ihm schon rein athletisch ziemlich imponiert: "Wie Mäuse auf Ecstasy krabbeln die Hände der beiden Spieler die Tastatur auf und ab, heftige Beats krachen dazu. Ein Metrum erschließt sich dem Hörer kaum einmal, aber Wee und Yeo nicken gemeinsam mit den Köpfen und wenden gleichzeitig die Noten. ... Die Grenzen des Verrückten werden bei diesem Konzert ebenso ausgelotet wie die Möglichkeit von charmantem Humor. Bei Enno Poppes Stück 'Rad' mutieren die beiden Keyboards zu verstimmten Klavieren, die Musik, die nun zu hören ist, lässt an zwei Barpianisten denken, auf die der Geist der Atonalität niederkam. In pianistischer Zungenrede ergießen sie sich nun, zunehmend enthusiasmiert bis zum wilden Tastengalopp: herauf, herunter, herauf, herunter. Aus Mäusen auf Ecstasy wurden Pferde aus Ecstasy."
Weitere Artikel: Ralf Ruckus stellt in der taz die Punkband SouthernRiot vor, die aus indonesischen Wanderarbeitern besteht, welche mit ihrer Musik gegen die bedrückenden Arbeitsverhältnisse in Taiwan protestieren. Viele Musiker wehren sich dagegen, dass DonaldTrump deren Musik auf Wahlkampfveranstaltungen nutzt, berichtet Stephanie Caminada in der NZZ. Nachrufe auf SteveHarley schreiben Harry Nutt (FR) und Edo Reents (FAZ). Und frisch in der Podcastwelt: "Schlagertalk" mit OliverPolak, der bei Dlf Kultur "Gespräche über eine der meistunterschätztenMusikrichtungen Deutschlands" verspricht.
Besprochen werden eine Neuausgabe von JoeHendersons Jazz-Album von "Power to the People" aus dem Jahr 1969 (Pitchfork), SamuelMumenthalers Buch "Hot! Jazz als frühe Popkultur" (NZZ), die Neuausgabe von JohnZorns "Masada"-Projekt (Welt, mehr dazu bereits hier), ein von ThomasGuggeis dirgierter Schumann- und Rachmaninow-Abend in Frankfurt mit dem Geiger RenaudCapuçon (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album vom Nino aus Wien (Standard).
Bei der Berliner Maerzmusik wird heuteJessicaEkomanes computerbasierte Kirchenglockenkomposition "Bonds" uraufgeführt. Maxi Broecking hat sich für die taz mit Ekomane getroffen. "'Das gesamte Projekt untersucht Verbindungen im öffentlichen und damit mit der Gemeinschaft geteilten Raum. Gemeinschaft kann Stärke und Schutz bieten, aber auch Beschränkungen auferlegen.' In der Vergangenheit seien Glocken genutzt worden, um mit der Gemeinschaft zu kommunizieren, den Tag zu strukturieren, aber auch als Ausdruck der politischen Macht der Kirche. Die Stücke ... beziehen durch den Klang die Nachbarschaft und die Vorbeigehenden ein. In ihrer Idealvorstellung mische sich Kunst mit dem täglichen Leben. 'Ich experimentiere viel mit musikalischen Stimmungen, oft auch aus Westafrika. Dies ist für mich eine Art von Freiheit, die ich auch mit spezifischerComputermusiktechnik verbinde. Das ist das Herzstück meiner Arbeit im Allgemeinen, ich arbeite viel mit musikalischen Vokabeln. Auch liebe ich Grauzonen und Dinge zu definieren, die sich zwischen verschiedenen Kontexten bewegen. In Museen, Konzerträumen, Clubs oder, wie jetzt, inGlockentürmen.'"
Um deutliche Kommentare ist der Komponist und Pianist MoritzEggert selten verlegen. "Viel zu lange habe sich die klassische Kunst 'in einer Nostalgie-Blase eingekuschelt'". sagt er gegenüber Dorothea Walchshäusl in der NZZ. "Dabei sei er absolut dafür, alte und ältere Musik aufzuführen. 'Aber wir brauchen gleichberechtigt auch die heutige Musik, denn nur diese kann einordnen, was heute passiert. Sie kann Visionen für die Zukunft entwickeln, Vergangenheitsbewältigung sein und Kommentar zur Gegenwart.'"
Außerdem: Für die Presse spricht Wilhelm Sinkovicz hier mit SimonRattle über sein Ankommen in Bayern ("ein völlig anderes Deutschland") und dort mit ihm über GustavMahler. Dagmar Leischow spricht für die taz mit DonWas, der seit 2011 Labelchef von BlueNoteRecords ist. Karl Fluch plaudert für den Standard mit der Popsängerin ChristinaStürmer. In der SZ gratuliert Peter Richter Dieter "Maschine" Birr von den Puhdys zum 80. Geburtstag. Philipp Krohn gratuliert auf FAZ.net John Sebastian zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden die Auftaktveranstaltung von AndréHellers "Reflektor"-Festival in der Hamburger Elbphilharmonie mit PeterSloterdijk, der über FranzSchuberts "Winterreise" philosophierte ("Es war mehr ein unterhaltsames Verirren in hochkulturelle Anekdotenschnipsel und lustige Formulierungen", hält Till Briegleb ind er SZ fest), ein Konzert des RIASKammerchors und der KammerakademiePotsdam in der Berliner Philharmonie (VAN), ein Auftritt der Postpunk-Band TheIdles in Berlin (Tsp), ein Konzert des ukrainisch-deutschen Orchesters MementoOdesa (Tsp) und die Wiederveröffentlichung von MartinCarthys Debütalbum von 1965 (NZZ).
Der BerlinerTechno ist Teil des immateriellenKulturerbes. "Wenn also irgendwo 'Nzz, nzz, nzz' aus Lautsprechern oder Kopfhörern böllert, gilt es nun, nicht mehr gleich ein Schnoferl zu ziehen, es ist ab sofort amtlicherweiseKulturverständnis gefordert", flachst Karl Fluch im Standard, der diese Entscheidung aber dennoch "völlig gerechtfertigt" findet: Techno ist eine, wie es so schön heißt, gelebteKulturtechnik" und "im Vergleich zu den nun ebenfalls als Kulturerbe ausgerufenen Errungenschaften wie 'Bergsteigen in Sachsen', der 'Finsterwalder Sangestradition in Brandenburg', dem 'Kirchseeoner Perchtenlauf' in Bayern, der 'Schwälmer Weißstickerei' aus Hessen oder der 'Weinbereitung aus Äpfeln, Birnen oder Quitten' im moselfränkischen Raum ist Berliner Techno schon um einigesgeiler."
Diese Entscheidung dient vor allem den Geschäften von Loveparade-Mitbegründer und -Betreiber Dr. Motte, auf dessen Lobbyarbeit sie auch zurückgeht, stöhnt hingegen Julian Weber in der taz. Doch "schlimmer ist die gesellschaftspolitische Botschaft der Unesco-Entscheidung. Ohne die afroamerikanischeTechno- und Housekultur in den Metropolen Chicago und Detroit, die den elektronischen Dancefloor-Sound begründet hatte, ohne die queere Clubszene im New York der 1970er und 1980er, die Ausgehkultur in der Discoepoche eingeleitet hatte, wäre all das undenkbar, was als 'Techno in Berlin' läuft. Leider hat der Vatikan ja nicht zeitgleich Disco-DJ Larry Levan heiliggesprochen, Detroit und Chicago wurde auch nicht das 'Weltkulturerbe House und Techno' zuerkannt: So bleibt 'Techno in Berlin' ein provinziellerRollbackindie1990er."
Weitere Artikel: Marin Bail spricht für VAN mit dem Dirigenten und Cembalisten TrevorPinnock unter anderem über die Geschichte und die Folgen der historischenAufführungspraxis. Für die Berliner Zeitungführt Michael Maier ein großes Gespräch mit dem Pianisten LangLang. Christian Schachinger erklärt im Standard, wie alte Songs via TikTok wieder in die Charts kommen: "Den Alten kann es recht sein. Sie müssen sich nicht mit Neuem beschäftigen und können sich ganz auf den geistigen Verfall in der Nostalgie konzentrieren." In der FAZgratuliert Jan Brachmann dem Dirigenten RogerNorrington zum 90. Geburtstag.
Besprochen werden das neue Album des Jazzbassisten HenningSieverts (Tsp), JustinTimberlakes neues Album "Everything I Thought I Was" (Welt), das Comeback-Album von TheGossip (WamS) und BrennanWedls EP "Kudzu" (taz).
Ziemlich enttäuscht ist tazler Dirk Schneider davon, "wie dünn die Gedanken sind", die US-Noiserockerin KimGordon beim Webcam-Gespräch anlässlich ihres neuen Solo-Albums "zu ihrer Kunst entwickelt. Dieser Kunst, die ästhetisch so ansprechend ist. Vielleicht etwas zu ansprechend. Es erhärtet sich der Verdacht, dass es sich bei Kim Gordons neuem Soloalbum um wasserdichte, längst etablierte Ästhetik handelt, die zwar Spaß macht, aber eines nicht hat: Sprengkraft. Kim Gordon ist selbst zur Marke geworden."
Außerdem: Tresor-Gründer DimitriHegemannfreut sich im Gespräch mit der BerlinerZeitung, dass die BerlinerTechnokultur nun Teil des immateriellenKulturerbes ist. In der Schweiz hegt und pflegt man die eigene Technokultur schon seit 2017, informiert Philipp Gollmer in der NZZ. Deutlich weniger unter Schutz stehen die der Reihe nach schließenden Musikinstrumente-Fachgeschäfte, um die Tobi Müller auf ZeitOnlinetrauert. Das Rap-Trio Kneecapverklagt die britische Staatssekretärin KemiBadenoch, weil diese zugesagte Exportfördermittel zurückhält, berichtet Ralf Sotschek in der taz. Im großen SZ-Magazin-Gespräch befragen Thomas Bärnthaler und Jo Metson Scott NickCave ausführlich zu dessen im Zuge der Pandemie neu entfachten Liebe zur Keramikkunst. In der FAZgratuliert Wolfgang Sandner dem Freejazzer JoachimKühn zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden JanHecks Kino-Doku "Otze und die DDR von unten" über die DDR-Kultpunkband Schleimkeim (ND) sowie neue Alben von JustinTimberlake (Presse, SZ) und dem Nino aus Wien (ZeitOnline).
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Stephan Sura über PacodeLucías wirklich wunderbare Flamenco-Künste:
Großtreffen der Poptheoretiker in der Zeit: Jens Balzer interviewt DiedrichDiederichsen. Anlass: Letzterer hat seine gesammelten Texte aus dem 21. Jahrhundert als 1100 Seiten starken Wälzer veröffentlicht. Der Titel: "Das 21. Jahrhundert". Das lässt Fragen aufkommen, wie sich die Popmusik des 20. Jahrhunderts, in der sich Diederichsen einen Namen als Popkritiker machte, von der des 21. unterscheidet. Vielleicht ja im Begriff der Utopie: "Die Utopien der Popmusik wollten selten tragfähige Modelle sein. Meistens ging es erst mal nur um das Abhauen, um das Flüchten, also darum, sich einem unmittelbaren Zwang zu entziehen. Das ist, wenn nicht zeitlos, so doch heute immer noch ein wichtiger Motor von Popmusik", meint Diederichsen. "Anders als früher gibt es aber keine Perspektive für eine positive Entwicklung. Sondern es geht nur noch um die Frage: Soll man die Apokalypse abzuwehren versuchen, oder soll man es lassen? Es ist auffällig, dass die Bewegungen, die sich noch an der Verhinderung der Apokalypse versuchen, der Klimaaktivismus zum Beispiel, keine Hymnen besitzen, keinen Soundtrack. Der Widerstand gegen den Untergang läuft, anders als zu Zeiten von Joy Division und Einstürzende Neubauten, weitgehend ohne Popmusik."
Weiteres: Im Standardgratuliert Christian Schachinger H. P. Baxxter von Scooter zum 60. Geburtstag. Besprochen werden JanHecks Kino-Dokumentarfilm "Otze und die DDR von unten" über die DDR-Punkband Schleimkeim (FD) sowie Konzerte von LucindaWilliams (Presse, Standard) und The1975 (Tsp).