Erzählungen

Gezwitscher

Von Sascha Josuweit
18.03.2010. Das Telefon klingelte und der Anrufbeantworter sprang an, das Notebook meldete ein Twitter-Update und an der Haustür klopfte es unerhört selbstbewusst... Eine Erzählung
Tippeditipp machten die Finger, tippeditipp, auf den Tasten. Tippeditipp, 140 Zeichen, das war schnell erledigt, schneller als gedacht sogar. Ein Witz, der sich noch verwenden ließ beim nächsten Eintrag. Tippeditipp. Geht das Minutenglück. Und noch einer. Der Morgen fing doch gut an.

Aufgestanden, Kaffee gekocht, in der Küchenzelle, sagte er und lachte, was denn sonst. Sollte er vielleicht weinen? Den letzten verbliebenen Freunden, die hin und wieder bei ihm anriefen, sollte er ihnen vorjammern, wie schäbig das alles war, seine winzige Küche, in der nicht mal ein Esstisch Platz hatte? Klar war Platz für einen Esstisch, 50 mal 30 Zentimeter Tisch genau gemessen, und stellte man die Teller etwas versetzt auf, konnten zwei daran sitzen und essen und zwar sogar gleichzeitig. Humor, heißt es, schützt vor Leid und Unglück. Ihm schien Humor nur ein anderes Wort dafür: Humor - Tumor. Das war jetzt sein musikalischer Sinn, was konnte er dagegen tun? Gar nichts.

Die Küche war sogar noch geschrumpft, als er eine Pumpdusche reingestellt hatte vor anderthalb Jahren. Pumpdusche auch (die Gags standen Schlange heute Morgen), weil er sie in monatlichen Raten abstotterte. Freie Sicht aus dem Küchenfenster oder Dusche. So war es immer, kam ihm vor, er hatte die Wahl, aber beide Optionen waren beschissen. Eine war sogar beschissener als die andere. Aber ohne Dusche wollte er auch nicht wohnen. Zuerst hatte er die Idee gehabt, das hässliche, sperrige Ding in die kleine Kammer am Ende der Küche zu verfrachten. Doch dazu hätte er die Türöffnung vergrößern müssen mit einem Vorschlaghammer oder so, und der Gedanke an den Radau und den Dreck und die Schreckensbilder kollabierender Häuser und zwischen Stahl und Beton eingeklemmter Frauen und Kinder, denen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks Suppe einflößen, während ihre zerquetschten Unterleiber schon nekrotisieren, die ihn eines Nachts heimsuchten, hatten ihn davon Abstand nehmen lassen. Es war auch so: Die Zeit macht einem schließlich alles erträglich. Dass er am Frühstückstisch sitzend auf das fleckige Milchglas der Dusche starrte, zum Beispiel. Und dass er, weil die Dusche jetzt da war an ihrem Platz vor dem Fenster, die Kammer nicht mehr betreten konnte, nur Zeug, das er nicht benötigte, hineinwerfen, indem er das Ding einige Zentimeter verrückte. Verrückt. Ein doppelter Platzverlust, und trotzdem war es ihm mit der Zeit gleichgültig geworden. Oder eben nicht. Lieber nämlich dachte er es sich als bewusste Entscheidung. Dass die Wohnung an Raum eingebüßt hatte, war ihm egal, doch nur, weil er die Dusche dort aufgestellt hatte und weil er sie genau dort hatte haben wollen und nicht zum Preis einer eingeschlagenen Wand in der Kammer oder sonst wo.

Anfangs hatten ihn seine Bekannten, allen voran Britta und Karl noch aufgezogen mit seiner provisorischen Existenz, den immer noch herumstehenden Umzugskartons, den mangels Stauraum in gefährliche Höhen anwachsenden Haufen alter Zeitungen, zu lesender Bücher und nach Zigarettenrauch oder Schlimmerem riechender Kleidungsstücke und mit der Dusche eben, aber lustig war es bald nicht mehr gewesen, das hatten auch Britta und Karl irgendwann geschnallt und die Schnauze gehalten. Komisch nur, hatte er diesbezüglich einmal gedacht, dass es, wenn der Witz weg ist, gar nicht zwangsläufig Ernst wird. Es war nämlich schlimmer, es wurde Gewohnheit, und mit Gewohnheiten war er noch nie gut klargekommen.

Tippeditipp, wieder war ein Aphorismus raus. Und tippeditipp kam die Antwort. Lichtenberg hätte seine Freude gehabt. Lichtenberg hätte das kalte Kotzen gekriegt. Aber war er Lichtenberg? War er nicht. Lichtenberg war ein kleines, buckliges Männlein gewesen, das unter Skoliose litt. Ein Zwerg, hässlich wie die Nacht. Er hatte nicht mal Lichtenbergs Nase. Kurze, klare Sätze, wie "Heftiger Niesanfall" oder "Esse heiße Himbeeren mit Vanilleeis", waren ihm sowieso lieber. Dass jemand sie las und sogar beantwortete, war eine tolle Sache. Dampfte man das Dasein nur stark genug ein, ließ sich ganz gut kommunizieren, und die Stimmung war ausgesprochen heiter, wenn er den Stand seiner Vitalfunktionen so in die Welt rausblies. Anders als beim Tagebuchschreiben oder den wöchentlichen Sitzungen mit seiner Analytikerin blieben die dräuenden Tiefen seiner komplizierten Psyche unangetastet. Probleme ließen sich auf die Art nicht lösen, da machte er sich nichts vor. Aber der Schwung, mit dem er neuerdings morgens die Bettdecke zurückschlug, den Kaffee aufbrühte und den Computer anwarf, war eine vollkommen neue Erfahrung, für die er Karls Gequake, er stumpfe zusehends ab, intellektuell wie empathisch, und gehe der kulturellen Regression mit ihren leeren Verheißungen von digitaler Selbstbestimmung wie ein unterbelichtetes Weichtier auf den Leim, in Kauf nahm. Was hatte es auch für einen Sinn, bewaffnet mit den längst abgeschriebenen oder, schlimmer noch, von jeder x-beliebigen Arschgeige in einer Zeitungsredaktion missbrauchten Sätzen von Marx, Freud, Kant und den anderen gegen die Kopf- und Schamlosigkeit der Gegenwart anzurennen, wenn das Auftauchen eines Jünglings in neo-existenzialistischen Röhrenhosen und mit Schnauzbärtchen auf einer Party oder an der Bar genügte, um das mühsam Satz für Satz, Blick für Blick eroberte Interesse einer Schönen an seiner Person wie die Schaumkrone auf dem Bier vor ihm in sich zusammenfallen zu lassen? Ach bitte, noch ein Pils. Diese Krone ließ sich wenigstens beliebig oft reproduzieren. Was ging ihn die Krone der Schöpfung an?

Viel staunenswerter war doch, wie die Dinge sich von ganz allein entwickelten, ließ man sie machen. Man überließ das Ruder den Verhältnissen und legte die Beine hoch und heraus kam etwas höchst Ansprechendes, Menschenfreundliches, wie die wundersame Verbindung zwischen gesellschaftlichem Rückzug einerseits und der kommunikativen Eruption in der Enge seiner Butze andererseits - einfach genial. Wer hätte sich so etwas ausdenken können? Sicherlich war sein Wunsch nach Rückzug mit Gedanken wie diesen optimal bedient, selbstverständlich vermutete der Skeptiker in ihm hinter der Geschmeidigkeit der Abläufe Mechanismen, die ihre todsicher auftretenden Störungen irgendwo an anderer Stelle nicht unbedingt fachgerecht entsorgten. Allerdings kam ihm sein Leben längst nicht mehr so unbegrenzt vor, als dass er zu fürchten gehabt hätte, sie würden ihn eines Tages noch einholen. Was zählte, war das Jetzt und nur das. Zu der Erkenntnis waren schon andere vor ihm gekommen, oft erst am Ende ihres Lebens. Vielleicht hatten sie daraus andere Konsequenzen gezogen, na und?


Zuviel

Blöd nur, wenn es dem Jetzt gefiel, sich zu vervielfachen und seine gut gesicherte Klause an mehreren Fronten gleichzeitig anzugreifen. Das Telefon klingelte und der Anrufbeantworter sprang an, das Notebook meldete ein Twitter-Update und an der Haustür klopfte es unerhört selbstbewusst. Sofort bildeten sich rote Flecken auf seinen Wangen. Er sah auf den Bildschirm und erkannte den Avatar von stilbluete 3.0, um deren Aufmerksamkeit er seit Wochen mit ausgefeilten Formulierungen buhlte, Perlen der Blogosphäre, die der geübten Leserin tiefe, bis in die skandalösen Einzelheiten seines Alltags gehende Einblicke in seine Existenz gestatteten, ohne dass er die Karten für alle offen auf den Tisch zu legen brauchte. Vorausgesetzt, die so Verehrte las, was er schrieb. Denn bis auf eine höchst flüchtige Begegnung, flüchtig noch im ohnehin rasenden Takt der Updates (eine belanglose Verständnisfrage, die sie in die virtuelle Runde getwittert hatte, auf die er zufällig eine Antwort wusste), war nichts gewesen. Ihm war es dennoch wie ein Blitzschlag vorgekommen. Ihre minimale Dankesbezeugung hatte er wieder und wieder gelesen und bis in die kleinsten sprachlichen Einheiten zerlegt, in der Überzeugung, irgendwo darin stünde sein Schicksal geschrieben.

Er machte einen Schritt auf die Tür zu, hörte, wie ein Pfeifton die Nachricht auf dem Anrufbeantworter ankündigte, und hielt inne.

"Hi, it's Lisa. We met at the concert, remember? I said I'd call, so I call. I don't like machines. I try again." Klick.

"Was?", dachte er.

Die ungeliebte Maschine brabbelte ihren Schlusssatz in die tote Leitung. Wieder klopfte es an der Tür. Er war wie erstarrt. Gefangen in einem zähen Netz, das sich zwischen Bildschirm, Telefon und Haustür quer durch seine Wohnung spannte. Wieso eigentlich dieses Klopfen? Warum klingelte, wer immer da in aller Frühe vor seiner Tür stand, denn nicht? Oder war die Klingel kaputt? Vielleicht war sie schon lange kaputt, und er hatte es nur noch nicht bemerkt. Wie sollte er auch? Es gab Dinge, die entzogen sich einer beiläufigen Kontrolle. Schattenexistenzen, die den überwiegenden Teil ihrer Funktionsdauer im Stand-by verharrten: Wecker, Haus- und Türklingeln, Alarmanlagen. Die Art Geräte mit einer Vermittlerfunktion zwischen Innen- und Außenwelt. Wie aus dem Nichts traten sie plötzlich in Erscheinung, akustisch, ohrenbetäubend, und stellten die Verbindung her, um gleich darauf wieder in tausendjährigen Schlaf zu versinken. Mit seiner Klingel jedenfalls verhielt es sich so. Hatte er gedacht. Endlich riss er sich los. Er stürzte zur Wohnungstür und öffnete sie mit einem Ruck. Die Staubflocken auf dem Absatz begannen zu tanzen, wirbelten und kreisten herum und setzten sich wieder. Er horchte ins Treppenhaus. Unten klappte die Tür zum Hof. Er schüttelte den Kopf: so ein Heckmeck. Erschöpft schob er die Wohnungstür zu und trabte zum Schreibtisch zurück.

Ohne etwas zu sehen, starrte er wieder auf den Schirm. Wo war er stehen geblieben? Lisa, Mensch! Der Kaffee, ja. Er fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn. Erst mal Kaffee, das beruhigt. Er lief in die Küche. Er schraubte die Espressomaschine auseinander und klopfte den Trichter gegen den Rand des Treteimers. Der Kaffeesatz plumpste hinein. Hätte er sich das Wissen um die Bedeutung gestattet, die diesen kleinen Verrichtungen mit ihren vertrauten Geräuschen innerhalb seines Daseins zukam, er wäre vor Rührung in Tränen ausgebrochen: kleiner, mattsilberner Trichter, alter, feuchtwarmer Kaffeesatz, auf- und zuklappender, blecherner Eimer. Sicher, all das war für sich genommen läppisch, schäbig, schabenhaft, klein und traurig. In der Summe jedoch ergaben diese Dinge wirklich ... Oh nee, das mochte er nicht mal denken. Er machte regelrecht einen Bogen darum. Wer wollte schon seine Existenz an einen Treteimer hängen?

Das Netz, ja, das war etwas anderes. Da waren die Menschen, die er inbrünstig liebte und zugleich fürchtete. Da waren sie ja, als stilles Wort, Satz, Aussage, als flüchtiger Gedanke, Beobachtung und oft ganz unmittelbar, so als könne er die blinkende Einfügemarke sehen, den pulsierenden Auslass, aus dem der Lebenssaft destillierte in den Text. Und dann wieder so fern, dass er ganz ruhig sein konnte, weil nichts Körperliches da war, ihn zu bedrängen und zu beschmutzen und niemand ihn unter Druck setzen konnte oder erniedrigen. Weil er sich ebenso gut auch sagen konnte, da ist niemand, nur Zeichen, nur ein System und eine Maschine und ein Knopf zum Ausschalten. Als hätte er endlich die für ihn gültige Form des Gesprächs gefunden, eine Möglichkeit, dem hysterischen Treiben an den einschlägigen Orten, in den Kneipen und Clubs, aus dem Weg zu gehen, das ihn anstrengte und regelrecht krankmachte und das er überhaupt nur mit einer Menge Alkohol noch zu ertragen vermochte, und sich dennoch nicht ausklinken zu müssen und zu isolieren, sondern teilzuhaben am großen Ganzen, am Flimmern und Zittern, an dem, was man so Leben nannte.

Klar konnte sich auch mit Lisa etwas entwickeln. Beim Nachsinnen über die Stimme auf dem Anrufbeantworter kam sogar die Erinnerung zurück. Blick und Haut und Stimme und Wärme, eine Knie- oder Armbeuge und eine Hand, die ihn anfasste oder sich abstützte bei ihm, ganz von allein, nicht Teil von ihm, nicht er, einmal nicht er selbst, sondern jemand anderes, Lebendiges mit eigenem Willen und Wünschen, zu essen, zu schlafen, gekratzt zu werden, ihn anzufassen, zu reden, eine Antwort zu bekommen, ein Zeichen. Aha, ja, geil, so war, so ging das und war so anstrengend eigentlich gar nicht gewesen, wie er jetzt immer dachte aus der Entfernung.

Er hatte es mehr als einmal ausprobiert. Man brauchte ihr nur etwas zuzuhören und von Zeit zu Zeit den Faden aufzunehmen, den ihr hübscher Kopf gerade zu entwirren versuchte, indem er ihn mühsam um hundert Hindernisse herum führte. Und dann hängte man einfach ein lustiges, buntes Kringelchen dran:

"Du meinst, den äußeren Schweinehund zu besiegen, tut manchmal auch ganz gut?"

Das war geistreich. Und natürlich gab es ihr das Gefühl, gehört und verstanden zu sein. Zwar hätte sie sich fragen können, was es zu bedeuten hatte, wenn er eine Stunde Konversation zu einem einzigen Satz zusammenstrich, doch viel lieber freute sie sich, den eigenen Gedankenbrei so appetitlich in kleine Häppchen portioniert zurückgespielt zu bekommen. Wie sollte er denn wissen, dass seine nach einem simplen rhetorischen Schema funktionierenden Bemerkungen die Frau in Wirklichkeit mit dem Versprechen lockten, er wäre jederzeit imstande, sie zu stoßen, und zwar mindestens genauso lange, wie ihre umständliche Rede gedauert hatte, nur um sie diese seine Anstrengung ihrerseits mit einem kurzen, bündigen Schrei quittieren zu lassen? Über solche oder ähnliche Zusammenhänge hatte Freud sich einst den Kopf zerbrochen, und der war, wie gesagt, sogar von ihm bis auf Weiteres auf Eis gelegt worden.

So türmte sich Schicht um Schicht. Er sah sich von innen und von außen und momentweise schoben sich beide Perspektiven zu einer dritten zusammen wie bei einem optischen Apparat. Er fühlte sich nicht nur nicht mehr in der Lage, seine Projektionen von der Wirklichkeit zu unterscheiden, er vermochte sich auch keiner Frau mehr auch nur zu nähern, solange das alles simultan in seinem Schädel herumsauste. Möglicherweise gab es Frauen, wie es ja wohl auch Männer gab, die leicht zu beeindrucken waren. So what? Die Kaffeemaschine brüllte wie ein überhitzter Zwölfzylinder-Bolide. Alles war möglich, in der Theorie sowieso und in der Welt um ihn herum. Ach ja, und natürlich auch das Gegenteil.


Zu wenig

Stilbluete 3.0 schien ihm nicht leicht zu beeindrucken zu sein. Eigentlich hieß sie Esther Wessloh, hatte ein Diplom in Informatik und arbeitete in einer Forschungsgruppe zum Thema "Effiziente Algorithmen" an der TH Karlsruhe. Außerdem war sie geisteswissenschaftlich interessiert, schlagfertig, witzig und verfügte über ein beachtliches poetisches Talent. Dies und ihre kindlich wachen, aber tief umschatteten grünen Augen unter der widerborstigen Frisur, die auf genau das richtige Verhältnis von Kultiviertheit und Weirdness schließen ließen, sorgten für eine rasch anwachsende, was Wunder, größtenteils männliche Fangemeinde. Mit den eloquenteren Exemplaren unter ihren Followern lieferte sich Esther gern kurze, polemische Insider-Debatten über die Tücken von Programmiersprachen oder das jüngste taz-Interview mit William Gibson. Als Außenstehender begriff man fast nichts und erlebte das Pingpong der Beiträge in etwa, wie ein normalpotenter Mensch einen Porno ansah, so zwischen staunendem Schrecken und unbändigem Neid. Diese Dinge existierten wirklich, Momente einer Welt für sich, zu der allein das Schicksal einem die Schlüssel überließ. Oder eben nicht. Wer zehn Minuten nach dem Aufstehen noch keinem Ruby- oder Python-Seminar via Skype zugeschaltet war oder zwei Tage nach ihrem Erscheinen noch nicht die Übersetzung im Vergleich zum Original von Gibsons neuer Short Story beim Lunch zu diskutieren in der Lage war, sorry, der konnte nun mal nicht mitreden.

Und er? Er warf sich aufs Bett und blätterte im Fauser. Wenn er sich die im Buchdeckel abgedruckten Fotos ansah, Fauser der Nerd mit Hornbrille, Fauser als spitznasiges RAF-Mastermind, Fauser die Vettel, Fassbinder-Fauser, musste er lachen. Ein bisschen, fand er, war er wie Fauser oder Fauser wie er, ein mittelloser, mittelintelligenter Außenseiter, ein verklemmtes kleines Arschgesicht, das zuviel trank und zu wenig an die frische Luft kam. Hatte Fauser vielleicht die Welt gesehen? Bestimmt nicht. Nur wo zum Teufel hatte er dann die ganzen abgefahrenen Geschichten her? Typen, die am Bosporus die härtesten Drogen und in München die hübschesten Mädchen klarmachten. Das war ihm schleierhaft. Was immer er selbst in dieser Richtung unternommen hatte, Drogen, Mädchen, Storys, am Ende war er immer wieder bloß auf sein langweiliges, okzidentales Ich gestoßen. Fehlte ihm etwa die Fantasie, Scheiße, war es das? Dann konnte er echt einpacken. Fantasie ließ sich bekanntlich nicht lernen. Und dem Leben war gerade soviel abzugewinnen, wie von Anfang an darin gelegen hatte. Den Entwurf einer Ruine hatte ein Schlaumeier das genannt, das hoffnungslose Unterfangen, mehr zu wollen als einem bestimmt war, mehr Schönheit, mehr Sinn, mehr Wasweißich. Freud hatte hier den Ursprung der Neurose vermutet gehabt. Aber Freud hatte schließlich nicht ahnen können, dass das Leben dereinst auch für einen wie ihn Herausforderungen bereithalten würde, die sogar Erfolg versprechend waren, weil sich die seinen Vorstellungen von einem angenehmen Leben so ausdauernd widerstrebenden Einflüsse von außen in der wunderbaren Welt der Avatare auf ein Minimum begrenzen ließen. Was übrig blieb, war die Macht der Worte und die war mit ihm. Wenn er sich also einen Brocken wie stilbluete 3.0 vornahm und nicht einen jener leicht einzufangenen Käfer, die in den Social Networks und Blogs herumkrabbelten, dann deshalb, weil es ihn anmachte, ganz einfach. Weil er eine wie Esther da draußen, in einer Bar oder sonst wo, niemals ansprechen würde, im Leben nicht.

Im Leben stand er, den Kaffeebecher in der Hand, in diesem Witz von einer Küche. Im Leben fing ein offenes Fenster gegenüber ein paar Sonnenstrahlen ein und schickte sie durch sein Küchenfenster und die transparenten Wände der Einstelldusche, sodass die Kalk- und Wichsflecke darauf deutlich zu sehen waren. Die Sonne war auch nicht mehr, was sie mal war. Er ging ins Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch, schob das Notebook zurecht und bewegte die Maus, um den Bildschirmschoner zu deaktivieren. (Was schreibt denn die Maus so?)


Interface

Er las: heute früh begegnung mit gleich zwei hysterischen frauen (heulend, schreiend usw.), begreife, wie männer sich manchmal fühlen.

Sieh an, dachte er. Offensichtlich hatte Esther den hohen Grad ihrer Emanzipation nicht, wie viele ihrer Zeitgenossinnen, mit der Fähigkeit zur Empathie mit dem anderen Geschlecht bezahlt, weswegen ihre Befreiung den Namen überhaupt erst verdiente, fand er. Er versuchte, sich Esther heulend, schreiend usw. vorzustellen, und sah sich bestätigt, als es ihm nicht gelang. Er spürte die Verlockung, mit einer seinen Gedanken ins Allgemeingültige transportierenden Überlegung aufzutwittern, und widerstand. Beiläufige Kommentare hielt Esther für Bullshit, wie sie überhaupt diejenigen als Trittbrettfahrer verachtete (Twittbrettfahrer, hatte tatsächlich gleich einer gekalauert), die sich aufs bloße Kommentieren anderer Beiträge beschränkten. Er drückte ein paar unverfängliche Worte über das mysteriöse morgendliche Klopfen an seiner Wohnungstür in die Tastatur, das war's. Um die Wartezeit bis zu ihrem nächsten Tweet zu überbrücken, klickte er auf den Link in Esthers Profil und gelangte auf ihre Website, einer Kombination aus privatem Blog und Webentwicklerportal. Der letzte Eintrag war zwei Tage alt und enthielt Esthers gleichermaßen resümierende wie prophetische, in jedem Fall, wie er fand, absolut zutreffende Qualitätsevaluierung einiger von ihr frequentierter Networks. Das Niveau der Texte, schrieb sie, sei zusehends beschämend, die Verflachung unaufhaltsam und im übrigen vergleichbar dem Verfall künstlerischer Potenziale im Prozess der Gentrifizierung unserer Städte. Hier wie dort folge auf den freien Flow origineller Ideen ziemlich zwangsläufig die kalkulierte Mimikry, das geschäftsmäßige Copy & Paste, die Abzocke, die alte Erzschlacht Kopf gegen Kapital, kurz: der Hirntod. Er war platt. Wie recht sie hatte. Und wie weit vorn sie wieder war damit. Während sich die meisten anderen noch an ihren hinziselierten 140 Zeichen berauschten, eifrig Alpha-Follower sammelten, uncoole Follower entfollowten usw., schaute Esther längst aufs Ganze und spürte, wie die Vibes sich wandelten. Mit Juri M. Lotman gesprochen: Die Zwitschermaschine hatte sich heiß gelaufen und stand kurz vor dem Kollaps, was bedeutete: Es ging voran. Das Heraufziehen völlig neuartiger Netzwerke am virtuellen Horizont. In dem Artikel war davon nicht die Rede gewesen, doch Esther wusste es. Er wusste, dass sie es wusste.

Pling. Vorerst zwitscherte sie noch, dem Himmel sei Dank. Wenn auch nicht ihm, sondern einem Kerl, der sich Pinocchio nannte, wegen des Holzkopfes oder wegen der Nase, das blieb sein Geheimnis. Es ging um die Digitalisierung von Emotionen, das Gefriertrocknen und die Portionierung allerschönster Ekstasen in das binäre Schema. Was war ein Kuss gegen die Information über einen Kuss? Und was bedeutete das für unser Verständnis von Wissen und Erfahrung? Die Zeit als Säugling oder Urmensch, als aller innerer Zwang bloß äußerer Zwang gewesen war, war passe. Jetzt ging es darum, die letzten Bastionen der Äußerlichkeit, ja, zu veräußern, zu schleifen bzw. zu schützen. Angestrengt überlegte er, wozu das gut sein könnte, das eine oder das andere. Ihm fiel nichts ein. Gebannt sah er dem fliegenden Wortwechsel zu und merkte nicht einmal, wie sehr ihn der Inhalt anging. Hallo?

Hirn, Herz, Seele, was für ein Durcheinander. Ihm wurde schwarz vor Augen, wenn er daran dachte. Brainuploads und Kopftransplantationen beschäftigten die Wissenschaft wie nie zuvor. Die aufregendsten Entwicklungen im Bereich maschineller Intelligenz jedoch kamen längst aus den illegalen Schattenreichen des Web-Marketings und den Hexenküchen ungezählter Viren- und Trojanerwerkstätten. Gelangweilte, genialische Skriptkinder hackten sich in die hoch gesicherten Netzwerke von Regierungen und Militär. Inselbegabte Freaks entwickelten mit ungeheurer Energie und gegen alle technischen und rechtlichen Hürden immer neuen Spam und betrieben die Einebnung letzter Grenzen zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz quasi von der Couch aus. In ihrem Blog schimpfte Esther über die Dummheit, mit der die offizielle Seite der Kriminalisierung des Fortschritts in die Hände spielte, indem sie das Grundgesetz im medientechnologischen Sektor immer weiter zusammenstrich, anstatt zu versuchen, die findigen Darth Vaders ins Boot zu holen. Zur Illustration ihres Textes stellte Esther Screenshots von kniffligen Captchas, Hürden für Spam-Roboter, wie krakelige Zeichenfolgen oder komplizierte Bruchgleichungen mit der lapidaren Aufforderung "solve for x", mit auf die Seite, deren Lösung, wie sie schrieb, uns Menschen zusehends den Schmalzschweiß auf die Stirn treibe, während die eigentlichen Adressaten die kleinen Mensch-Maschine-Filter immer wieder aushebelten. Auf einem anderen von Esther hochgeladenen Bild war ein Typ mit einer Elektrodenkappe auf dem Kopf zu sehen, der auf ein Buchstaben- und Zahlenfeld auf seinem Bildschirm starrte. Das Bild, erklärte Esther, zeige die Versuchsperson, wie sie gerade einen Tweet schreibe, wofür sie mittels des vorgeführten Computer-Brain-Interfaces etwa eine Viertelstunde benötige. Die Schnittstelle war nicht etwa von seriösen Wissenschaftlern für den therapeutischen Einsatz entwickelt worden, sondern von ein paar unausgelasteten Twitter-Nerds, aus Jux. Esther fand das wunderbar. Welche Möglichkeiten für eine bessere Welt!

Ach, Esther. Er fühlte sich ihr nah, ganz nah. Ihre Einträge studierend und das nächste Update erwartend, war ihm, als wäre er durch ein fantastisches Gerät mit ihr verbunden und könnte den Gang ihrer Gedanken unmittelbar mitverfolgen. Er brauchte gar nicht mehr auf den Schirm zu sehen, um zu wissen, was sie schrieb. Ein, zwei Wochen ging das so, dann wurden die Einträge immer spärlicher, und schließlich schwieg Esther. Er wusste, sie hatte die Konsequenzen gezogen aus ihren Erkenntnissen und war weiter geflogen zu einer neuen Community. Er hatte es ja vorausgesehen. Einen Vormittag lang überlegte er, ob er ihr folgen sollte, dann löschte er seinen Twitter-Account und Esthers Feeds in seinem Reader und schaltete den Rechner aus.

"Wie gut, dass du Zeit hattest."

Seine Stimme zitterte kaum, als er das sagte. Es geht ja, dachte er. Er stieß mit ihr an. Er führte sein Glas sicher zum Mund.

Lisa lächelte.

"Let's go dancing", sagte sie und nahm seine Hand, die noch kalt war. Doch das würde sich ändern.