Essay

Leser suchen Abstand

Demnächst am Kiosk. Von Robin Detje
05.04.2005. Der Feuilletonist Robin Detje wird Verleger. Für den Herbst bereitet er eine politische Monatszeitschrift vor: "Abstand - Magazin für Weltinnenpolitik, Wirtschaft und Kultur". Der Perlentaucher veröffentlicht sein Manifest.
Früher waren Journalisten Fachleute auf dem Spezialgebiet einer bestimmten Form der Weltvermittlung. Das Berufsbild hat sich geändert. Der moderne Redakteur verkauft ein buntes und vor allem gefühlvolles Gute-Laune-Paket und muss journalistische Erwägungen hintanstellen. Ein guter Chefredakteur oder Ressortleiter arbeitet heute vor allem für Marketingabteilungen seiner schwächelnden Verlage. Ein Autor ist ein Werbetexter in eigener Sache.

Während dieser Aufsatz entsteht, stirbt der Papst. Sein Tod wird in der Qualitätspresse boulevardesk überinszeniert werden. Kein Chefredakteur glaubt noch, sich den Luxus leisten zu dürfen, das Ereignis nach journalistischen Maßstäben zu bewerten. Die Zeit wird am Donnerstag garantiert nach den Eventmarketing-Regeln der Boulevardpresse funktionieren und versuchen, mit dem Bild des Papstes ein bisschen Rahm von der vermuteten Erregung des Publikums für sich abzuschöpfen. Erregte Kunden sind gute Kunden.

Die großen Themenstrecken, mit denen moderne Zeitungen heute protzen, die redaktionellen Sonderanstrengungen, für die alle Ressorts verpflichtet werden, ein Einheitsthema durchs ganze Blatt zu schleifen, haben weder etwas mit Journalismus zu tun, noch mit den Erwartungen der Leser an eine verlässliche Zeitung. Das Konzept stammt aus dem Einzelhandel: Erlebniseinkauf! Italien-Wochen im Kaufhof mit Sonderangeboten auf allen Etagen! In den Fünfzigerjahren hieß der zugehörige Slogan: Öfter mal was Neues.

Dass man solch branchenfremde Strategien in Qualitätszeitungen auftauchen sieht, ist ein Zeichen für den gigantischen Mangel an Selbstbewusstsein, der in Redaktionen und Verlagen herrscht. Nur weil man sich mit seinem eigenen Produkt langweilt und an dessen Qualität zweifelt, fühlt man sich zu verkäuferischen Sonderanstrengungen verpflichtet und richtet seinen Lesern ein dauerndes erlebnisjournalistisches Fest an, das sie nie bestellt haben.

Die deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger - die ZZ-Verleger, wie wir sie hier nennen wollen - haben kein Interesse am Qualitätsjournalismus mehr. Sie geben diesen Markt still und leise, manchmal auch laut und entschlossen auf.

Die ZZ-Verleger der neuen Generation sind die Nachfolger der großen Verlegerpersönlichkeiten der Nachkriegszeit. Sie können ungeheure Kunststücke vollbringen. Sie können neue Zielgruppen erfinden und im Schulterschluss mit den Media-Agenturen neue Produkte auf sie abfeuern. Oft treffen sie. Nichts ist erotischer als der Erfolg. Er lässt sich in Zahlen ausdrücken und nicht wegdiskutieren. Nur eins haben sie verlernt: ihren größten Schatz zu bewahren, ihr eigentliches Kapital. Sie haben Angst vor Kreativität. Alle Bereiche des ZZ-Verlagswesens, die mit echter, organischer und unberechenbarer Kreativität zu tun haben, werden weggeschnitten.

Die ZZ-Verleger haben Angst vor Inhalten. Sie können rechnen, aber nicht lesen. Deshalb produzieren sie für "Nicht-Leser" - sie sind selber welche. Ihre schwierige wirtschaftliche Lage haben sie für einen Machtkampf gegen ihre eigenen Redaktionen genutzt, und sie haben ihn gewonnen. Aus Autoren sind content provider geworden, als könnte man die wichtigste Tätigkeit im ZZ-Verlagswesen outsourcen. Die Honorare für freie Autoren wurden in den vergangenen Jahren gekürzt oder, wie phasenweise bei einer großen Berliner Tageszeitung, gestrichen. Auf den Zeitungsseiten wurde der Platz für Texte reduziert. Texte sind unheimlich und kosten Geld. Für Anzeigen muss man keine Verantwortung übernehmen, und man verdient Geld mit ihnen. Im modernen Verlagen ist die Notwendigkeit, Inhalte zu produzieren, keine Lust mehr, sondern eine lästige Pflicht.

Der Blitzkrieg der Verlage gegen die Autoren macht nicht bei der Honorarkürzung halt. Die Verlage wollen sich als Rechtehändler neue Verwertungsmöglichkeiten erschließen, und sei es mit vorgehaltener Waffe. Manchmal werden die Autoren aufgefordert, sich zur Aufgabe wesentlicher Rechte an ihren Texten zu verpflichten, machmal werden sie trocken von der Gültigkeit dieser neuen Bedingungen in Kenntnis gesetzt. Die Verlage wollen alles, was sie einmal gekauft haben, uneingeschränkt weiterverkaufen dürfen, ohne um Erlaubnis fragen oder die Erlöse teilen zu müssen. Rein juristisch betrachtet können in einer deutschen Qualitätszeitung erschienene Texte von Mathias Greffrath nun in einem rechtsradikalen Sammelband weiterverwertet werden, ohne dass der Autor vorher davon erführe.

Man muss sich schon sehr machtlos fühlen, bevor man solchen Allmachtsphantasien freie Bahn lässt. Die Übernahme der Copyright-Paranoia von Monsanto, Microsoft oder Sony Music ist weder unmoralisch, noch verwerflich, sie ist bloß unternehmerisch falsch. Natürlich können die Verlage den offenen Machtkampf mit ihren Autoren kurzfristig gewinnen, ihrer Wirtschaftsmacht sei Dank. Langfristig werden sie verlieren, weil sie ihr Vertrauensverhältnis zu den Inhaltslieferanten mutwillig zerstören. Wer agiert wie Ignacio Lopez, dem liefert man keine erste Ware mehr. Der bekommt Ausschuss. So wird man auf Dauer nicht nur die unabhängigen Autoren verlieren, die es noch gibt, man wird auch keine neuen mehr heranziehen.

Einmal, in uralten Zeiten, die vielleicht aus anderen Gründen keine besseren Zeiten waren, saßen die unberechenbaren und kreativen Redakteure des innovativen Printprodukts Zeit-Magazin auf dem Redaktionsflurteppich und kifften. Da kam ein mürrischer kleiner Mann des Wegs, in einem Staubmantel, mit einem Honeckerhütchen, und stieg über sie hinweg. "Wer ist den dieser Spießer?" rief ein vollgedröhnter Redakteur. Es war Gerd Bucerius, dem der ganze Laden gehörte und der nun in seinem Büro verschwand.

Viele Legenden umranken den unberechenbaren und kreativen Verleger Bucerius. Wer weiß, welche der Geschichten stimmen. Hat er wirklich einen Stuhl nach seinem Chefredakteur Theo Sommer geworfen? Wir denken ihn uns jedenfalls als einen Mann der in seinen Redaktionen das Andere ausgehalten hat, und sei es im offenen Konflikt. Was nicht so war wie er, hat er ertragen, weil der Unternehmer Bucerius wusste, dass es ihm nützt. Dieses Selbstbewusstsein war das Markenzeichen der Verlegerpersönlichkeiten alten Stils, die man nicht idealisieren soll. Die Herren waren keine Herzchen; mit ihnen hatte man andere Sorgen. Aber der Vergleich mit ihren Nachfolgern lohnt sich.

Die ZZ-Verleger von heute gestalten ihre Profit Center streng nach ihrem eigenen Bild. Sie sind so unsicher, dass sie sich nur mit Managern umgeben wollen, wie sie selbst welche sind. "Persönlichkeit" lässt sich nicht kalkulieren und wird wegrationalisiert. Die Streitsucht, die zum Journalismus gehört, wird abgeschafft. Kreative Journalisten können in der neuen Verlagsordnung nur deshalb in Reservaten überleben, weil es sich betriebswirtschaftlich nicht rechnen würde, sie zu feuern. Aber einen großen Teil ihrer Energie müssen diese oft recht jungen Dinosaurier heute darauf verwenden, ihre journalistische Leidenschaft gegen die verlegerische Dummheit zu verteidigen. So hält man einander mancherorts noch einigermaßen in Schach. Die Jüngeren aber haben längst begriffen, dass es darum geht, im Apparat zu funktionieren und dem großen, rechnenden Tier nicht noch mehr Angst zu machen.

Das Zeitungswesen war auch zur Zeit der großen Verlegerpersönlichkeiten kein unschuldiger Hort des reinen Wahrheitswillens. Die Korruptionsanfälligkeit des Journalismus ist strukturell bedingt. Gerade dass er zwischen allen Interessengruppen steht und so anfällig dafür ist, funktionalisiert zu werden, macht ihn zu einem so guten Instrument für die Beschreibung unserer Wirklichkeit. In dem Bordell, das der Journalismus beschreibt, hat er selber ein Zimmer. Er greift an und bleibt dabei immer angreifbar. Es geht nicht darum, auf eine romantische Weise zu einer angeblich reinen Vergangenheit des Zeitungswesens zurückzukehren. Es geht um die Balance zwischen notwendigem Anstand und unvermeidlicher, in gewissen Grenzen geradezu wünschenswerter Unanständigkeit. Diese Balance hat sich auffällig verschoben. Die Enthemmung der Verlage und Inserenten in ihren Bemühungen, die Grenzen zwischen Anzeigenteil und redaktionellem Teil zu verwischen, war dieser Tage Thema von Berichten in Panorama und FAZ.

Der Vorgang folgt betriebswirtschaftlicher Logik. Die Grundidee des Zeitungswesens mag einmal der Dialog zwischen Lesern und Journalisten gewesen sein. Schon seit längerem stehen die Zeitungen auf dem wirtschaftlichen Fundament eines Dialogs zwischen Anzeigenkunden und Verlagen. Dieser Dialog wird immer weiter optimiert, auf die Gefahr hin, das Eigentliche des Verlagsprodukts "Zeitung" aufzugeben. Das Werbeumfeld wird sprachlich und von der Anmutung her der Werbung immer weiter angeglichen. Die Grenzen verschwimmen nicht zufällig, sie werden mutwillig aufgelöst. Der Einfluss der Media-Agenturen, die darüber entscheiden, wo die Großkunden ihre Anzeigen platzieren, nimmt zu. Ihr Einspruch kann neue journalistische Ideen und verlegerische Produkte zu Fall bringen und tut es auch. Der Machtkampf wird offen ausgefochten, ohne Respekt vor der inhaltlichen Integrität des Werbeumfelds Journalismus. Selbstverständlich verspüren die Media-Agenturen keine gesellschaftliche Verantwortung für den Erhalt der Vierten Gewalt im Staate, des Journalismus als Instrument demokratischer Kontrolle. Das wäre unlogisch.

Aber die deutschen ZZ-Verleger haben vor lauter Innovationslust vergessen, wer ihre Kunden sind. Das wird sich im Hochqualitätssektor bitter rächen. Die eigentlichen Kunden der Verlage sind die Leser. Erst über die Leser kommt man an die wirklich zahlenden Kunden heran - an die Media-Agenturen, die den Anzeigenkuchen verteilen. Die ZZ-Verlage verstehen die Leser nicht mehr. Sie kennen sie auch nicht mehr. Ihre Unternehmenskultur gleicht der ihrer Anzeigenkunden. Konzerne verstehen die Interessen anderer Konzerne. Das Bild, dass sich die Verlagskonzerne gemeinsam mit den Media-Agenturen von den Lesern geschaffen haben, ist ein aus ihrer eigenen Unternehmenskultur heraus erzeugtes Mode-Phantasma. Die Leser von Qualitätszeitungen lassen sich nicht so leicht in Zielgruppen einordnen. Man arbeitet zielstrebig an ihnen vorbei. Und deshalb kann keine der verlegerischen Großinnovationen den Auflagenverfall stoppen. Was dann wieder eine neue Runde noch kundenfernerer Großinnovationen einläutet.

Die Welt-Kompakt-Take-Away-News, die Gratiszeitungs-Tabloid-Mode für den journalistischen Schnellimbiss, das alles lässt sich verlags- und branchenintern rational begründen. Die Entwicklungen sind Controller-proof. Da gibt es keine Beschwerden von oben, so fragwürdig und spekulativ die Zahlen der Marktforschung auch sein mögen. Es sind Zahlen, und Zahlen kommen immer gut. Dass die Verlage von Qualitätszeitungen mit dieser Strategie ihren Kundenstamm verraten, können diese Zahlen leider nicht ausdrücken.

Aber man soll die ZZ-Verleger für ihre Schwächen nicht schelten. Ihr Rückzug aus dem unberechenbaren Hochqualitätssegment, ihr freiwilliger Kompetenzverzicht, ist eine unternehmerische Chance. Man muss sich nur trauen, seine Projekte nicht auf Zahlen und Ängste zu gründen, sondern auf Erfahrung und Instinkt, dann kann man auf dem Terrain, das die deutschen Weltkonzerne aufgeben, als local player gutes Geld verdienen. Dazu gehört der Wille zum unternehmerischen Risiko, eine in Deutschland auch jenseits des ZZ-Verlagswesens unbeliebte Qualität. Der deutsche Unternehmer verhält sich wie seine Angestellten: Er bewegt sich nicht und schimpft auf die Rahmenbedingungen. An seiner Mutlosigkeit sind andere schuld.

Wer es im deutschen Wachkoma wagt, überhaupt einen Finger zu rühren, kann nur gewinnen.

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