Essay

Die Probleme der Multikulturalität

Der Schutz von Minderheiten - eine Lehre aus der Geschichte. Von Jutta Limbach
17.08.2005. Der Terror zielt auf die multikulturellen Gesellschaften. Die falscheste Reaktion darauf wäre der Abschied von der Idee der multikulturellen Gesellschaft.
Mit den sechziger Jahren beginnt das Zeitalter weltweiter Migration. Menschen finden sich in einer anderen lokalen Umwelt wieder, in der sie sich von den Einheimischen nicht nur in Kleidung, Speise und Trank, sondern auch in ihrer Sprache, in ihrem Denken und Glauben voneinander unterscheiden. Die auch in Europa - wie schon zuvor in den USA und Kanada - wachsende Vielfalt von Kulturen und Religionen führt zu Spannungen und Konflikten.

Häufig ist die Schule Ort der Auseinandersetzung. Gegenstand des Konflikts sind vielfach die Kleidung, religiöse Zeichen oder Symbole. Man denke an das "islamische Kopftuch" oder das Kruzifix. Darf eine Schülerin oder eine Lehrerin in einer öffentlichen Schule das Kopftuch tragen? Hat eine islamische Schülerin ein Anrecht darauf, vom koedukativen Sportunterricht befreit zu werden, weil sie sich dem anderen Geschlecht nicht in der Sportkleidung zeigen darf? Jedenfalls nach ihrer Lesart des Koran.

Aber auch jenseits der Schule stellen sich Fragen: Ob etwa in deutschen Städten der mit Lautsprecher übertragene Ruf des Muezzin ebenso zugelassen werden darf wie das Glockengeläut der christlichen Kirchen? Oder ob den Fremden das religiös gebotene Schächten erlaubt werden muss, obwohl es den einheimischen Tierschutzregeln widerspricht? In jüngster Zeit sind es vor allem Vorschriften des Koran, mit denen Muslime und Musliminnen Verhaltensweisen begründen, die nicht denen der einheimischen Bevölkerung entsprechen oder gar diesen widersprechen.

Im Groben sind auf diese Fragen zwei entgegen gesetzte Antworten möglich: Die eine besteht in der Empfehlung, die Zugewanderten/Migranten mögen sich bitte den Gebräuchen und der Kultur ihres Gastlandes anpassen. Die diesem Assimilationszwang entgegen gesetzte Alternative zielt auf die Kulturfreiheit. Gemeint ist damit das Recht des Fremden, in seinen eingewurzelten Lebensformen und Wertprinzipien leben zu dürfen, die ihm aus dem Herkunftsland (der Mütter und Väter) vertraut, vielleicht sogar heilig sind.

Idee und Wirklichkeit der multikulturellen Gesellschaft

Beide Strategien kennen - nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland - ihre Anhänger. Zwar werden sie in der Reinheit/Einfalt kaum vertreten. Doch bevorzugen die jeweiligen Gegner die grobschlächtige Lesart des jeweils anderen, von ihnen bekämpften Konzepts. Das zeigt die öffentliche Debatte seit dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam und den Selbstmordattentaten in London. Angesichts dieser Akte fanatisierten Terrors aus der Mitte der Gesellschaft ist in Deutschland über die Parteigrenzen hinweg ein Abgesang auf die Idee einer multikulturellen Gesellschaft angestimmt worden. Ja, mehr noch. Dieses Konzept ist als Wurzel des Übels ausgemacht worden.

Richtig ist die Beobachtung, dass allerorten in Europa Parallelgesellschaften entstehen. Vor allem in den Großstädten und Vorstädten, in denen viele Migranten und deren Abkömmlinge leben, vollzieht sich eine Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer, rassischer und religiöser Bruchlinien.

Dieser besorgniserregende empirische Befund sollte uns zwar aus unseren idealistischen Welten herabholen, aber nicht eine richtige gesellschaftspolitische Idee zu Grabe tragen lassen. Die wachsende Fragmentierung in unseren Groß- und Vorstädten ist nicht das Resultat der Idee von der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen. Sie ist vielmehr die Folge ihrer misslungenen Umsetzung in die Wirklichkeit.

Erst allmählich begreifen wir, dass die mit uns lebenden und arbeitenden Migranten und deren Kinder sich in unserer (vermeintlich) offenen Gesellschaft geistig unbehaust und von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen fühlen. Eine Mentalität der Unterlegenheit, ja der Minderwertigkeit gedeiht. Sie lässt die von der Mehrheitsgesellschaft ignorierten Menschen nach anderen Identität und Gemeinschaft stiftenden spirituellen Welten Ausschau halten. Die Zuflucht zu vorgeblich Heimat bietenden fundamentalistischen Predigern bietet sich da als Ausweg an. Zeichnen sich diese abartigen Spielarten von Religion doch dadurch aus, dass sie über Feindbilder verfügen, die das eigene Ego aufpolieren.

Wurzeln des Terrorismus

Die Ursachen, Motive und Voraussetzungen der terroristischen Anschläge sind gewiss vielschichtig. Die Tatsache, dass diese Taten aus der Mitte der Gesellschaft kommen, lässt uns die Aufmerksamkeit dorthin lenken. Analysen, die den Wurzeln des Terrors nachgehen, haben gezeigt, dass weder Armut noch Analphabetismus eine Disposition zum Terroristen schaffen. Ein weitaus wichtigerer Faktor sei die Erfahrung von Demütigung. Diese erkläre, warum die Anführer des Terrorismus so erfolgreich in der Rekrutierung junger Männer seien.

Unser Ansatzpunkt sollte daher nach wie vor das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und die daraus begründbaren Rechte der Minderheiten sein. Auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, angesichts der Gefahr des Terrorismus über den Schutz der Minderheit statt über den Schutz der Mehrheit nachdenken zu wollen.

Das Grundgesetz als Kontrastprogramm

In Deutschland hat der furchtbare Anschauungsunterricht in Unmenschlichkeit während der Nazizeit die Gestalt des Grundgesetzes vielfach beeinflusst. Insbesondere die Aufnahme der Menschen- und Bürgerrechte geschah in der Absicht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zur Gleichheit vor dem Gesetz ist eine Antwort auf die Entartung des Rechts im Nationalsozialismus und der im Schatten dieses Willkürsystems arbeitenden Vernichtungsmaschinerie.

Die Leidensgeschichte ethnischer, rassischer und religiöser Minderheiten in der Zeit des Nationalsozialismus hat sich im Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes niedergeschlagen. Laut diesem darf niemand wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Die Schöpfer des Grundgesetzes haben sich mit diesem Individualschutz von Angehörigen häufig benachteiligter Gruppen begnügt. Einen Minderheitenschutz im Sinne eines Gruppenrechts kennt das Grundgesetz im Gegensatz zu einigen Länderverfassungen nicht. Gemeint sind Normen, laut denen der Staat, die Länder und Gemeinden die kulturelle Identität und Eigenständigkeit einer ethnischen oder religiösen Minderheit zu schützen und zu fördern haben.

Versuch der Reform des Grundgesetzes

Der Versuch der damaligen Opposition Anfang der neunziger Jahre das Grundgesetz um einen ausdrücklichen Schutz von Minderheiten zu ergänzen, schlug fehl. Selbst die Aufnahme des schlichten Satzes:
"Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten" scheiterte an den politischen Mehrheitsverhältnissen in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Der von der SPD darüber hinaus vorgeschlagene Zusatz, dass der Staat Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit schützt und fördert, stieß bei der konservativen Mehrheit auf eine noch heftigere Abwehr. Die Gegner befürchteten, dass sich hinter diesem Minderheitsschutz eine neue gesellschaftspolitische Konzeption, nämlich die von der multikulturellen Gesellschaft verberge.

Für sie bedeutet der Begriff "multikulturelle Gesellschaft" offensichtlich mehr als ein bloßes Kürzel für die beobachtbare Tatsache einer kulturell gemischten Gesellschaft. Sie assoziieren mit dem Konzept das Nebeneinander weitestgehend eigenständiger Kulturen. Es könne aber nicht Sache des Staates sein, so argumentieren sie, auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich das Nebeneinander möglichst vieler eigenständiger Kulturen zu organisieren. Vielmehr müsse von den Zuwanderern erwartet werden, dass sie sich in Staat und Gesellschaft unseres Landes integrieren. Neben den USA, Kanada und Großbritanien ist Deutschland das wichtigste Einwanderungsland. In ihm leben über sieben Millionen Ausländer. Rund 3,2 Millionen sind Muslime, davon zwischen 300 000 und 400 000 deutsche Staatsbürger. Diese große Zahl von Migranten und eingebürgerten Abkömmlingen von Migranten genießt keinen gruppenrechtlichen Minderheitsschutz. Insbesondere die Türken und ihre Abkömmlinge genießen keinen Schutz ihrer Herkunftssprache, Kultur und Religion.

Die Sprache, Kultur und Religion der Zuwanderer werden toleriert, aber nicht gefördert. In Deutschland vollzieht sich der Schutz der ethnischen und religiösen Minderheiten daher im wesentlichen durch das Nadelöhr des Individualschutzes, insbesondere durch die allgemeinen Freiheitsrechte. Die Religionsfreiheit spielt dabei eine tragende Rolle. So ist der Bau einer Moschee, der islamische Religionsunterricht durch die Islamische Föderation, das Schächten und die Befreiung einer muslimischen Schülerin von dem koedukativen Turnunterricht Gegenstand von Gerichtsentscheidungen gewesen.

Die prinzipielle Offenheit des Grundgesetzes

Aus der Religionsfreiheit aber folgt, dass es einen Assimilationszwang nicht gibt. Als säkularisiertes Freiheitsrecht ist die Bekenntnisfreiheit "offen für die Entfaltung verschiedener Religionen und Bekenntnisse". Die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen sind gleichberechtigt und in ihrer Besonderheit anzuerkennen. Die Andersartigkeit "eingewanderter Religionen muss folglich ertragen werden. Die Empfehlung an die Migranten, sie mögen sich doch bitte den Gebräuchen ihres Gastlandes anpassen, verdient kein Gehör. Strategien, die die Angleichung der Minderheits- an die Mehrheitskultur fordern, vertragen sich nicht mit unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Unter der Herrschaft einer Verfassung, die die Freiheit des Glaubens und des weltanschaulichen Bekenntnisses schützt, ist ein Streben nach geistiger Vorherrschaft im Sinne einer Leitkultur fehl am Platz. Der Standard des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber der Pluralität weltanschaulich-religiöser Auffassungen.

Alle öffentlichen Gewalten der Bundesrepublik Deutschland haben die Glaubens-, Gewissens- und weltanschauliche Bekenntnisfreiheit und damit das Gebot der Toleranz zu respektieren. Kommt es zu Spannungen zwischen der Kultur der Mehrheit und der der Minderheit, so müssen die im Konfliktfalle von der Minderheit angerufenen Gerichte der Mehrheit trotzen, wenn verfassungsrechtliche Garantien auf dem Spiel stehen.

Da sich der moderne Staat nicht religiös definiert, sondern sich als Verfassungsstaat begreift, muss er die kulturelle und insbesondere die religiöse Verschiedenheit zulassen und verteidigen. Die Beantwortung letzter Sinnfragen ist nicht Sache des Staates. In einem pluralistischen Staat der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit kann es eine Verpflichtung auf das Christentum oder auf einen personalen Gott nicht geben. Denn nur der Staat kann die friedliche Koexistenz unterschiedlicher religiöser Überzeugungen garantieren, der selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.

Der Begriff "Toleranz" gehört zwar nicht zum unmittelbaren Wortschatz der Verfassung. Doch ergibt sich dieses Prinzip aus dem Gesamtsinn des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt das Gebot der Toleranz vor allem dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde. Aber auch in dem Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, dem Diskriminierungsverbot anderer Bekenntnisse und in der Religionsfreiheit äußert sich die "Wertentscheidung der Verfassung für Toleranz als einem tragenden Prinzip der freiheitlichen Demokratie".

Grenzen der Toleranz

Auch die Toleranz kennt Grenzen. So dürfen sich die Verhaltensweisen einer religiösen Minderheit - seien sie auch in deren religiösem Recht verankert - nicht in Widerspruch zu den Grundwerten unserer Verfassung setzen. Das könnte etwa dann der Fall sein, wenn die religiösen Zeichen ein Symbol der Unterdrückung darstellten und der Würde und Freiheit der Trägerin zuwiderliefen. Das Grundgesetz garantiert auch die Gleichheit von Mann und Frau. Doch kann man das religiös motivierte Kopftuch nicht ohne weiteres als Symbol der Unterdrückung oder Ausdruck einer fundamentalistischen Grundeinstellung deuten. Das ist bei einer Burka, einem Schleier, der nur die Augen sehen lässt und alle anderen Partien des Kopfes und Körpers bedeckt, anders zu beurteilen. Denn der total verschleierten Frau wird die Möglichkeit genommen, von ihrem Gegenüber als ein Individuum wahrgenommen zu werden.

Religiöse Praktiken, die Kinder oder Frauen zum Objekt fremder kultischer Handlung herabwürdigen und deren Recht auf körperliche Unversehrtheit - durch Genitalverstümmelung zum Beispiel - irreversibel schädigen, sind nicht von der Garantie der Religionsfreiheit gedeckt. Hier ist der Staat zum Schutz verpflichtet, auch und vor allem gegen die Übergriffe Privater, seien es auch die eigenen Eltern. Das ergibt sich für das Recht auf körperliche Unversehrtheit ausdrücklich aus dem Internationalen Privatrecht des Bürgerlichen Rechts und der Kinderkonvention.

Toleranz als Bürgertugend

Wer die Welt im Geiste der Menschenrechte verändern will, muss tiefer träumen und wacher handeln. Das unser Grundgesetz eröffnende Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde ist dabei die herausfordernde normative Idee. Um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken, bedarf es nicht nur der Sympathie, sondern auch und vor allem der Tatkraft. Und zwar sowohl im Alltag, im sozialen Umfeld, als auch in der großen Politik.

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Jutta Limbach war von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Heute ist sie Präsidentin des Goethe-Instituts. Ihr Text ist die gekürzte Fassung einer Rede in der Kanadischen Botschaft in Berlin am 2. August 2005.