Essay

Krieger ist nicht gleich Krieger

Von Paul Cliteur
06.02.2007. Ian Buruma vertritt in "Murder in Amsterdam" eine postmodernistische Auffassung, die die radikale Aufklärung mit dem radikalen Islamismus gleichsetzt. Aber so lassen sich religiöse Eiferer nicht befrieden. Job Cohen, Bürgermeister von Amsterdam kann ein Lied davon singen.
Viele Jahre lang war der Multikulturalismus das Credo der niederländischen Regierung, ein Ansatz, der sehr gut zur niederländischen Geschichte und Kultur passte. Heute trägt der Multikulturalismus ein postmodernes Kleid. Die zentralen Ideen dieser Vision vom Zusammenleben sind Relativismus (vor allem kultureller Relativismus), eine negative Einstellung zur westlichen politischen Tradition, die Kultivierung einer kollektiven Schuld für die Überschreitungen in der kolonialen Vergangenheit und andere reale oder vermutete schwarze Seiten in der Geschichte des Westens.

Für Multikulturalisten ist die europäische Zivilisation seit der Aufklärung auf der grundlegend falschen Spur. Holocaust, Nazismus, Kommunismus, Sklaverei - all das wird nicht als Abweichung von einer insgesamt positiven Entwicklung gesehen, sondern als unvermeidbare Frucht des europäischen Geistes, der von Natur aus repressiv sei.

Multikulturalisten lehnen auch die Universalität der von der Aufklärung entwickelten Ideen wie Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit ab. Für sie sind das isolierte Vorlieben ohne jede universelle Berufung. Es ist in ihren Augen absurd oder ein Ausdruck kultureller Arroganz, in fremde Länder einzumarschieren, um Demokratie und andere westliche Ideale zu exportieren. Ebenso lächerlich erscheint es ihnen, von religiösen und ethnischen Minderheiten in westlichen Gesellschaften zu erwarten, dass sie diese Ideen übernehmen und sich in eine liberale Demokratie integrieren: Minderheiten sollen nach ihren eigenen Gebräuchen leben und die nationalen Kulturen sollen sich, wenn sie im Widerspruch zu nicht-westlichen Ideen stehen, den neuen Bedingungen anpassen. Diese Einstellung hat schwerwiegende Konsequenzen für die Art, wie liberale Gesellschaften organisiert sind. Denken Sie an das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Antwort des postmodernen Kulturrelativismus ist: Unterlassen wir Kritik. Seien wir zurückhaltend in der Kommentierung uns nicht vertrauter Religionen. Lasst Reformen von innen kommen und vermeiden wir jede Provokation oder Polarisierung.

Das Ergebnis wäre eine verzerrende "Reinigung" der ganzen westlichen Tradition von Literatur, Kunst, Film und sogar Wissenschaft. Der Postmodernismus schätzt die westliche Tradition der Vernunft nicht sehr, aber würde er der westlichen Welt auch das Recht bestreiten, sich zu verteidigen? Der ganze Denkansatz, der die Ideale der Aufklärung, eingeschlossen Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verficht, soll durch eine Glorifizierung des "Anderen" ersetzt werden, durch nicht-westliche Kulturen und vor allem durch die Überzeugung, dass alle Kulturen gleich wertvoll sind. Jede Bevorzugung westlicher Ideen muss ausgemerzt werden, um mit Roger Scruton zu sprechen: "the West" für "the Rest". (1)

Sehr anschaulich wird diese Auffassung in der Arbeit von Stuart Sim, einem Professor für Kritische Theorie an der Universität von Sunderland (Großbritannien): Die Anschläge auf das World Trade Center inspirierten ihn zur Analyse des Begriffs des Fundamentalismus. So weit, so gut. Aber wie andere postmoderne Kulturkritiker bevorzugt Sim eine sehr weite Definition von Fundamentalismus. In seinem Buch "Fundamentalist World. The New Dark Age of Dogma" stellt Sim "Marktfundamentalismus", "politischen Fundamentalismus", "nationalen Fundamentalismus" und andere neben den religiösen Fundamentalismus. Für Sim ist jede Idee, die nicht vollkommen relativistisch ist, fundamentalistisch. Die einzige Möglichkeit, dem Urteil "Fundamentalist" und "Fundamentalismus" zu entkommen, ist die Übernahme postmoderner relativistischer Ansichten, wie sie Sim bevorzugt.

Sim will zu einer Art Skepsis gegenüber allen Vorstellungen von Autorität ermutigen. Er bevorzugt radikale Skepsis ("je mehr Skepsis, desto besser"). (2) Die Verteidigung der Werte der Aufklärung, wie Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit als "universelle Prinzipien" ist für ihn nur ein weiterer Fundamentalismus, der abgelehnt werden muss.

Da somit jedes Bekenntnis zu universellen Werten eine Art Fundamentalismus ist, erscheint die Welt als ein einziger großer Zusammenprall von "Fundamentalismen", wobei keiner dem anderen unter- oder überlegen ist. Für den postmodernen Relativisten sind alle Lebensentwürfe und Weltanschauungen gleich wertvoll. Sims Lösung ist die Ablehnung aller universellen Werte. Aber ist das ein vernünftiger Rat? Diese Einstellung, so scheint es mir, macht die westlichen Gesellschaften sehr verletzbar durch ideologische Herausforderungen, wie sie der religiöse Terrorismus darstellt. Liberale Demokratie, mit ihren Institutionen der freien Meinungsäußerung, seien nicht notwendig besser als ihre Alternativen. Das einzige, was der Postmodernist ablehnt, ist missionarischer Eifer.

Wohin diese Einstellung führt, kann man am Beispiel von "Murder in Amsterdam" abschätzen, einem kürzlich erschienenen Buch über den Mord an Theo van Gogh, geschrieben von dem niederländisch-amerikanischen Journalisten und Wissenschaftler Ian Buruma. Wie Sim vertritt Buruma eine postmoderne relativistische Auffassung. Er versucht, wieder wie Sim, postmodernen Relativismus auf das Problem des religiösen Terrorismus anzuwenden. Er behauptet auch, dass eine Orientierung an den Ideen und Idealen der Aufklärung nicht wesentlich besser oder wünschenswerter ist als eine Orientierung an der radikalislamischen Ideologie. Beides muss abgelehnt werden.

Die relativistische Haltung wird sichtbar, wenn Buruma einen Vergleich zwischen der Weltsicht Mohammed Bouyeri, van Goghs Mörder, und den Menschen zieht, die er für die heftigsten Kritiker des radikalen Islam in den Niederlanden hält: Ayaan Hirsi Ali und den Juraprofessor Afshin Ellian. Während Bouyeri den radikalen Islam verteidige, verteidigten Hirsi Ali und Ellian die "radikale Aufklärung". Laut Buruma sind sie im wesentlichen dasselbe. Der erste Punkt der Übereinstimmung ist, dass sie alle "Krieger" sind. (3) Bouyeri ist ein Krieger mit Schwert und Messer, die er bei dem Versuch benutzte, van Gogh zu enthaupten. Hirsi Ali und Ellian sind Krieger mit einem Stift. Aber diese Unterschiede sind für den postmodernen Relativisten weniger wichtig als die Ähnlichkeiten: alle sind Krieger. Der zweite Punkt der Übereinstimmung ist, sie sind alle "radikal". Islamisten sind radikal in dem Sinne, dass sie nicht vor einer radikalen Interpretation ihrer Heiligen Schriften zurückscheuen. Wenn die Schrift den Tod von Ungläubigen und Abtrünnigen fordert, scheut der wahre Gläubige nicht davor zurück, den Willen Gottes zu erfüllen und die Ungläubigen und Abtrünnigen zu töten, vor allem, wenn sie sich der Straftat der Blasphemie schuldig gemacht haben. Anhänger dessen, was Jonathan Israel "radikale Aufklärung" nennt, sind ebenfalls "radikal". Der eine ist "radikal säkular, der andere radikal religiös", aber beide sind "radikal".

Ein dritter Punkt der Übereinstimmung ist, dass beide radikale Parteien an universelle Werte glauben. Beide sind überzeugt, für eine gerechte Sache zu kämpfen, und schon aus diesem Grund keine Relativisten. Nachdem er die Grundzüge der Ideen der radikalen Aufklärer skizziert hat, schreibt Buruma: "Dasselbe könnte man, gewissermaßen, von ihrem größten Feind sagen: dem modernen heiligen Krieger, wie dem Mörder Theo van Goghs." (4)

Mit diesem Einschub "gewissermaßen" scheint Buruma zu zögern. Und natürlich, jeder urteilsfähige Autor würde sich bei dieser albernen Übung in Semantik unwohl fühlen. Aber sind diese zwei Positionen wirklich "dasselbe"? Ist ein Krieger mit einem Stift wirklich dasselbe wie jemand, der seinen Krieg führt, indem er Menschen tötet und enthauptet? Sowohl Chamberlain als auch Hitler hatten Schnurrbärte, aber es wäre absurd dieser Ähnlichkeit irgendeine Bedeutung zuzuschreiben. Natürlich sind beide, der radikale Islam und die radikale Aufklärung "radikal", aber das macht sie sowenig identisch wie ein radikaler Plan zur Linderung des Hungers und Leidens in der Welt wirklich dasselbe ist wie ein radikaler Plan zur Ausrottung der Juden oder irgendeiner anderen ethnischen oder religiösen Minderheit dieser Welt.

Und schließlich: es mag wahr sein, dass radikale Islamisten ebenso an "universelle Werte" glauben, wie es Anhänger der Aufklärung tun. Aber das tat auch Immanuel Kant, das taten auch Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Nicolai Hartmann und R. M. Hare. Die meisten Moralphilosophen glauben an universelle Werte. Das macht Kant, Hartmann und Hare nicht zu "Fundamentalisten". Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von den Vereinten Nationen 1948, ist auch ein "universelles Credo". Die Vereinten Nationen proklamieren diese Liste der Menschenrechte als einen "allgemeinen Standard des Erreichten". Das macht die Vereinten Nationen nicht zur einer Ansammlung von Fundamentalisten oder gefährlichen Terroristen. Oder sind sie das in den Augen postmoderner Kritiker der Moderne?

Die Argumentation von Buruma und anderen postmodernen Relativisten hat absurde Konsequenzen, aber diese Konsequenzen ergeben sich ganz logisch aus der postmodernen Auffassung.

Buruma spielt auch mit dem Wort Reinheit. Er schreibt, dass sich die "versprochene Reinheit des Islam" (5) nicht wirklich von "radikaler Aufklärung" unterscheide. Das würde implizieren, dass Sayyid Qutb, der Ideologe des radikalen Islams, sich nicht vom Paten der radikalen Aufklärung, Baruch de Spinoza, unterscheiden würde.

Was mich an diesen relativistischen - oder eher nihilistischen - Positionen ängstigt, ist, dass sie westliche Gesellschaften zur leichten Beute für die Ideologie des radikalen Islamismus macht. Wenn die westlichen Gesellschaften glauben, sie hätten keine Kernwerte, für die es sich (mit friedlichen Mitteln) zu kämpfen lohnt, dann gibt es für Immigranten auch keinen Grund, diese Werte zu akzeptieren. Wenn es die herrschende Ideologie in den westlichen Gesellschaften ist, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte keine spezifischen Qualitäten haben, die sie Theokratie, Diktatur und Autoritarismus überlegen machen, dann gibt es keinen Grund, sich dem radikalen Anschlag auf die westlichen Demokratien durch Lehrer des Hasses entgegenzustellen.

Es bleibt ein Mysterium, warum viele intelligente Menschen dem postmodernen Denkschema treu bleiben, obwohl so viele intelligente Autoren - Terry Eagleton und John Searle, um nur zwei zu nennen - diesen gründlich dekonstruiert haben. Ich glaube, es hat mit der postmodernen Überzeugung zu tun, dass eine Einstellung, die sie als relativistisch und pragmatisch ansehen, im Kampf gegen den religiösen Terrorismus helfen könnte. Sie hoffen, wenn wir auf eine radikale Kritik der terroristischen Geistesart verzichten, könnten wir die radikalsten Elemente befrieden.

Das ist ein großer Irrtum, wie Buruma verstanden hätte, hätte er über das Material in seinem Buch gründlicher nachgedacht. Buruma porträtiert nicht nur Protagonisten der radikalen Aufklärung, sondern auch den Amsterdamer Stadtrat Ahmed Aboutaleb und den Bürgermeister der Stadt, Job Cohen. Buruma schreibt, er habe Aboutaleb - einen in Marokko geborenen Muslim, der Pluralismus verteidigt - "von Leibwächtern umgeben" angetroffen. "Wie Ayaan Hirsi Ali braucht er rund um die Uhr Schutz". Das hätte Buruma zu weiteren Reflektionen über die Natur des religiösen Terrorismus anregen können. Und Cohen: er gilt vielen als viel zu weich. Er benutzt keine kräftige Sprache gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten. Er ist ein Mann des "Dialogs" und "Respekts", der sich fast jeder Kritik enthält, die die Gefühle religiöser Minderheiten stören könnte. Doch Cohen wurde namentlich in dem Brief kritisiert, den Bouyeri auf dem Körper von Theo van Gogh zurückließ.

Buruma glaubt, er wisse, warum Terroristen van Gogh, Ellian und Hirsi Ali hassen: weil religiöse Terroristen im Streit mit der "radikalen Aufklärung" liegen. Buruma und viele andere Postmodernisten leben in dem Wahn, dass wir die Terroristen befrieden könnten, wenn wir nur radikale Aufklärung ablehnen und damit auch radikale Kritik an Religion und jede Provokation. Aber was würde er Aboutaleb und Cohen raten? Was haben sie falsch gemacht? Offenbar ist religiöser Terrorismus keine Reaktion auf eine zu heftige Kritik am Islam. Er hat andere Wurzeln. Und natürlich gibt es in Ländern wie Ägypten, Pakistan und Saudi Arabien keine radikale Aufklärung, keine beleidigenden Karikaturen von Mohammed und keine Bücher wie Rushdies "Satanische Verse". Dennoch gibt es dort religiösen Terrorismus.

Nur wenn wir ehrlich über diese Dinge nachdenken, werden wir in der Lage sein, die Gefahr für die liberalen Institutionen besser zu verstehen.


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Der Artikel ist eine gekürzte Version von Paul Cliteurs Artikel "The Postmodern Interpretation of Religious Terrorism", der im Februar 2007 in der Zeitschrift free inquiry veröffentlicht wurde. Die vollständige englische Version finden Sie auf der Website des Council for Secular Humanism.

Paul Cliteur, geboren 1955 in Amsterdam, ist Juraprofessor an der Universität Leiden in den Niederlanden.

Aus dem Englischen von Anja Seeliger

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(1) Roger Scruton: "The West and the Rest", ISI Books 2002.
(2) Stuart Sim: "Fundamentalist World", Seite 214
(3) Ian Buruma: "Murder in Amsterdam", S. 31 - 32
(4) Ian Buruma, ebda. S. 32
(5) Ian Buruma, ebda. S. 32

Pascal Bruckner hat mit seiner Polemik gegen Ian Burumas Buch "Murder in Amsterdam" und einen Artikel Timothy Garton Ashs eine internationale Debatte ausgelöst. Alle Artikel zu dieser Debatte finden Sie auf Deutsch hier, auf Englisch hier.