Essay

Wacht auf, schlafende Mehrheiten für eine Vertiefung der Europäischen Union

Ein Interview mit Jürgen Habermas. Von Matthias Hoenig
23.03.2007. Der europäische Verfassungsprozess scheitert nicht in erster Linie an der feindlichen Stimmung in den Bevölkerungen, sondern an den nationalen Egoismen der Regierungen. Einziger Ausweg wäre ein europäisches Referendum, sagt Jürgen Habermas in einem dpa-Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung übernehmen.
In Berlin wird am Wochenende der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge als Geburtsstunde der Europäischen Union gefeiert. Der Philosoph und Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas bilanziert im dpa- Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung übenehmen, die Entwicklung Europas und entwirft Perspektiven. Sein Plädoyer: Bei der Europawahl 2009 sollen die Bürger in einem Referendum darüber abstimmen, ob die Europäische Union künftig einen direkt gewählten Präsidenten, einen eigenen Außenminister und eine eigene Finanzbasis bekommt.

dpa: Bei Kriegsende waren Sie 15 Jahre jung, aber alt genug, um die verheerenden Folgen von verblendetem Nationalismus noch aus eigener Anschauung mitzuerleben. Jetzt feiert die Politik 50 Jahre Römische Verträge - was sind Ihre Erinnerungen als Zeitzeuge?

Jürgen Habermas: Ich muss gestehen, dass mich vor 50 Jahren die innenpolitische Frage der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr leidenschaftlicher interessiert hat als die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ich habe damals nicht begriffen, dass diese Zollunion bereits mit verfassungsähnlichen Institutionen ausgestattet wurde und deshalb die Perspektive auf eine Europäische Gemeinschaft, also eine politische Vereinigung der Länder Westeuropas schon eröffnet hat. Andererseits standen die pazifistischen Motive, die damals die Anhänger der Friedensbewegung im nationalen Rahmen bewegten, im Einklang mit den Motiven, welche die sechs Gründungsstaaten und die Hauptakteure Adenauer, de Gasperi und Schumann angetrieben hat: Nie wieder Krieg zwischen den Nationalstaaten, die sich in zwei Weltkriegen zerfleischt hatten, natürlich die Einbindung Deutschlands, das den Krieg angezettelt hatte und mit dem monströsen Verbrechen der Judenvernichtung belastet war.

Dass EU-Länder noch einmal gegeneinander Krieg führen könnten, erscheint unvorstellbar. Und der gewachsene gemeinsame Markt hat Wohlstand für viele gebracht - dürfen wir den Paradigmenwechsel europäischer Politik weg vom Nationalstaatendenken zu einer europäischen Sicht als historisch feiern?

Habermas: Das ist gewiss ein Grund zum Feiern, auch wenn der Paradigmenwechsel noch nicht ganz vollzogen ist. Aber es gibt noch ein ganz anderes Ergebnis, das wir uns heute mit etwas Selbstbewusstsein zu Nutze machen könnten. Die europäische Einigung ermöglicht, in der multipolaren Spannungslage von heute eine Rolle zu spielen, die damals, zu Beginn des Ost-West-Konflikts, niemand voraussehen konnte. Am Anfang war "Europa" die Antwort auf Probleme, die sich innerhalb Europas stellten; heute richtet sich, wenn wir an die Zukunft Europas denken, der Blick vor allem auf Probleme, die uns von außen herausfordern: Es ist ja nicht nur die Osterweiterung, die die Einigungsdynamik über den in Nizza erreichten Stand hinaustreibt. Noch sind wir freilich solchen Erwartungen, die sich an eine diplomatisch ausgleichende Macht richten, nicht gewachsen.

Können Sie eine geopolitische Herausforderung nennen?

Habermas: Nehmen Sie als Beispiel den letzten, auf libanesischem Boden ausgetragenen Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah. Da die USA durch die einseitige Politik der Bush-Regierung im Nahost- Konflikt längst zur Partei geworden war, richteten sich viele Erwartungen auf Europa, das als neutraler eingeschätzt wurde. Die EU schickte zwar ihren außenpolitischen Sprecher Solana nach Beirut und Jerusalem, bot aber im übrigen mit einem Chor von dissonanten Stimmen ein lächerliches Bild. Gleichzeitig versuchten sich nämlich einzelne Länder wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien als Nationalstaaten zu profilieren und einander mit jeweils hausgemachten Initiativen zu übertrumpfen.

Welche Prioritäten würden Sie auf die politische EU-Agenda setzen: Die bislang gescheiterte EU-Verfassung, eine gemeinsame Außenpolitik Europas, gemeinsame europäische Streitkräfte, die Zähmung des internationalen Neoliberalismus durch Sozialstandards oder eine Vorreiterrolle im internationalen Klimaschutz?

Habermas: Sie zählen in der Tat die dringendsten Herausforderungen auf, denen sich ein geeintes Europa im 21. Jahrhundert stellen müsste. Aber eine gemeinsame Außenpolitik, der Aufbau gemeinsamer Streitkräfte oder eine Harmonisierung der Steuer- und Wirtschaftspolitiken in der Absicht, unsere gefährdeten sozialen und kulturellen Standards abzusichern, sind politische Ziele, die auf einer anderen Ebene liegen als die gescheiterte EU-Verfassung. Die erweiterte EU muss ja zunächst einmal ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, um regierbar zu bleiben und die nötige politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bevor sie sich so ehrgeizige Ziele setzen kann. Vor allem sollten wir uns keine Illusionen darüber machen, woran heute eine Vertiefung der Institutionen wirklich scheitert...

...an der Ablehnung vieler Bürger in ganz Europa?

Habermas: Nicht am Widerstand der Bevölkerungen! Das ist zwar die nahe liegende, aber falsche Vorstellung, die sich nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden festgesetzt hat. Tatsächlich haben wir in den meisten kontinentalen Ländern nach wie vor schlafende Mehrheiten für eine Vertiefung der Europäischen Union. Der tiefer liegende Grund für die Lähmung der Einigungsdynamik liegt vielmehr darin, dass verschiedene Regierungen mit der Union verschiedene Zielvorstellungen verbinden. Die Blockade, die wir heute beobachten, erklärt sich daraus, dass die Regierungen dem vorhersehbaren Konflikt über diese zentrale Frage aus dem Weg gehen. Die Berliner Ratspräsidentschaft bereitet, wie man liest, zum Jubiläum am 25. März eine Erklärung vor, die die Verfassungsfrage nur am Rande behandelt.

Welche Bedeutung haben denn die gescheiterten Abstimmungen in in Frankreich und den Niederlanden?

Habermas: Die gescheiterten Referenden haben nur ans Tageslicht gebracht, dass die Regierungen in der Sackgasse stecken und weder vor noch zurück können. Bisher konnten sie sich auf die "Methode Monnet" verlassen und sind den Imperativen gefolgt, die sich aus der ökonomischen Integration zwangsläufig ergeben haben. Der Gemeinsame Markt war kein Nullsummenspiel, sondern hat jedem Mitgliedstaat eigene Vorteile gebracht. Ein Verfassungsrahmen für gemeinsame Politiken verlangt demgegenüber einen gemeinsamen politischen Willen, der über die Wahrnehmung nationalstaatlich einzuheimsender Dividenden hinausgeht. Offensichtlich können die Regierungen im Hinblick auf die finalite, auf den Sinn des europäischen Projektes nicht zusammenfinden.

Lässt sich das konkreter sagen, an wem liegt's?

Habermas: Von den Beitrittsländern einmal ganz abgesehen, ziehen Großbritannien und das eine oder andere skandinavische Land in die eine Richtung, die Gründungstaaten und Spanien in die andere Richtung. Die Einigung über grundsätzliche Klimaschutzziele in Brüssel, die erst noch operationalisiert werden müssen, ist als Erfolg von Angelika Merkel gefeiert worden. Aber war das wirklich mehr als ein Ausweichmanöver vor der eigentlichen Auseinandersetzung?

Wer soll denn die europäische Entwicklung befeuern, wenn nicht die Regierungen?

Habermas: Als einzigen Ausweg sehe ich ein europaweites Referendum. Die Regierungen, die ja die Herren des Verfahrens sind, müssten ihre faktische Ohnmacht erkennen und dieses einzige Mal "Demokratie wagen". Sie müssten über ihren Schatten springen und sich selbst - in Gestalt der politischen Parteien, aus denen ja die Regierungen zusammengesetzt sind - vor die Wahl stellen, in einem europaweiten Wahlkampf mit offenem Visier um jede Stimme für oder gegen einen Ausbau der Europäischen Union zu kämpfen.

Die geopolitische Entwicklung fordert, wie Sie mehrfach deutlich machten, ein starkes Europa. Es könnte zu einem Beispiel werden für entsprechende Zusammenschlüsse auf anderen Kontinenten zu supranationalen Mächten. Ohne solche Global Players könne ein gerechteres Weltwirtschaftsregime nicht entstehen, und internationale Sicherheitsprobleme oder die Klimakatastrophe lassen sich national ohnehin nicht lösen. Kurzum: Ist der Nationalstaat angesichts von ihm allein nicht mehr lösbarer Probleme zum Auslaufmodell geworden?

Habermas: Nein, die Nationalstaaten sind auf der internationalen Bühne nach wie vor die wichtigsten Akteure. Sie bilden auch die unersetzlichen Komponenten, aus denen sich die internationalen Organisationen zusammensetzen. Die internationale Gemeinschaft organisiert sich ja in der Gestalt von "Vereinten Nationen". Wer alimentiert die Vereinten Nationen und stellt Truppen für humanitäre Interventionen, wenn nicht die Nationalstaaten? Wer, wenn nicht die Nationalstaaten, garantiert gleiche Rechte für alle Bürger? Was sich ändern muss - und in Europa schon stark geändert hat - ist das Selbstverständnis der Nationalstaaten. Sie müssen lernen, sich weniger als unabhängige Akteure denn als Mitglieder zu verstehen, die sich zur Einhaltung von Gemeinschaftsnormen verpflichtet fühlen. Sie müssen lernen, ihre Interessen eher innerhalb internationaler Netzwerke durch kluge Diplomatie als durch Androhung militärischer Gewalt im Alleingang zu verfolgen.

Die rüde Machtpolitik der USA unter der Bush-Administration, die die Interessen des eigenen Landes zum obersten Maßstab macht und das internationale Völkerrecht offen suspendiert hat, haben Sie scharf verurteilt. Nach Ihrer Auffassung herrscht zurzeit eine "sozialdarwinistisch enthemmte Weltpolitik". Ein starkes Europa könnte die Vereinten Nationen stärken und Wegbereiter einer fairen Weltinnenpolitik werden. Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Habermas: In dieser Kurzfassung kommen zwei Dinge zu kurz. Zum einen, dass meine Kritik an der Bush-Regierung nicht den geringsten Beiklang antiamerikanischer Gefühle hat. In Deutschland war Antiamerikanismus immer Teil der reaktionärsten Bewegungen. Aber der Umstand, dass gerade meine Generation die im 18. Jahrhundert wurzelnde politische Kultur der Vereinigten Staaten bewundert und von dieser gelernt hat, verpflichtet mich nicht zu einer Art Nibelungentreue. Er verpflichtet sehr viel eher dazu, an dem normativen Sinn der Westorientierung der Bundesrepublik festzuhalten ­ auch gegen eine abwählbare US-Regierung und deren selbstzerstörerische Politik. Zum anderen bin ich nicht so naiv zu glauben, dass selbst ein Europa, das gelernt hat, mit einer Stimme zu sprechen, aus eigener Kraft die überfällige Reform der Vereinten Nationen voranbringen könnte. Wenn sich die USA nicht, wie schon zwei Mal im Laufe des 20. Jahrhunderts an die Spitze der Reformbewegung setzen, besteht kaum eine Aussicht auf Erfolg. Wir können bestenfalls die schwache Hoffnung hegen, dass ein stärkeres Europa in diesem Sinne Einfluss auf seinen Alliierten nehmen könnte. Freilich müssen wir wohl eher damit rechnen, dass die nächste US-Regierung den Kurs einer neorealistischen Machtpolitik steuern und für die normative Perspektive eines Ausbaus der UNO eher unempfindlich sein wird.

Welche Zielvorstellung sollte die EU als politisches Konstrukt haben? Ist die Vorstellung der «Vereinten Staaten von Europa» mit gemeinsamer Regierung, Staatsangehörigkeit, Armee etc. Ihre Vision, oder wie sollte die politische Selbstorganisation Europas in 50 Jahren aussehen?

Habermas: Eine waghalsige Vision für ein halbes Jahrhundert im Voraus ist nicht das, was uns jetzt weiterhilft. Mir genügt eine Vision bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009. Mit dieser Wahl sollte ein europaweites Referendum über drei Fragen verbunden werden: ob die Union, hinausgehend über effektive Entscheidungsverfahren, einen direkt gewählten Präsidenten, einen eigenen Außenminister und eine eigene Finanzbasis haben soll. Das entspricht den Vorstellungen des belgischen Ministerpräsidenten Verhofstadt. Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die "doppelte Mehrheit" der Staaten und der Stimmen der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mitgliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die Reform entschieden hat. Wenn das Referendum Erfolg hätte, würde sich Europa vom Modell des Geleitzuges verabschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt. Auch in einem Europa von Kern und Peripherie würden natürlich die Länder, die es vorziehen, einstweilen am Rande zu bleiben, die Option behalten, sich jederzeit dem Zentrum anzuschließen.

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Das Interview mit Jürgen Habermas führte Matthias Hoenig für die dpa