Essay

Zu naiv und sensationslüstern

Von Zhou Derong
13.10.2008. Die Deutsche Welle kann gar nicht zu chinafreundlich sein, sonst würde sie in China nicht zensiert. Aber der Offene Brief des "Autorenkreises der Bundesrepublik" gegen die China-Berichterstattung der Deutschen Welle ist nur ein Beleg für die Ignoranz der deutschen Medien gegenüber China.
Aus dem fernem Deutschland kamen zuletzt Nachrichten, die einem in Shanghai immer befremdlicher, ja bizarr, erscheinen. "Deutsche Welle: Chinas zuverlässigste Plattform in Übersee", lautet eine Schlagzeile in der FAZ vom 26.9.2008, "China-Propaganda: Eklat bei der Deutschen Welle" eine Schlagzeile im Spiegel vom 24.9.2008. Dann noch der staatstragende Offene Brief des "Autorenkreises der Bundesrepublik" mit den illustren Namen aus ganz Europa. Sie alle suggerieren ein und dasselbe: Die China-Redaktion der Deutschen Welle sei, personifiziert durch ihre stellvertretende Leiterin, Zhang Danhong, von der fünften Kolonne der KP unterwandert.

Nun ist zwar in unserer Welt nichts unmöglich. Aber in diesem konkreten Fall scheint die Sache nicht ganz logisch zu sein. Denn wäre es tatsächlich so, dann hätte die Kommunistische Partei eigentlich keinen Grund, die chinesischen Seiten der Deutschen Welle in China zu zensieren. Uns ist aber noch in frischer Erinnerung, dass der chinesische Online-Dienst der Deutschen Welle erst nach heftigem Protest Deutschlands kurz vor Beginn der Olympischen Spiele in China zugänglich gemacht wurde. Einzelne "sensible" Nachrichten bleiben jedoch nach wie vor zensiert, je nach Laune der Kommunisten.

Freien Zugang hat man dagegen zu Peking freundlich gesinnten Seiten etwa des Hongkonger Phönix TVs oder der Tageszeitung Zaobao aus Singapur. Berichte und Kommentare über China auf diesen Seiten werden gerne und häufig von der regierungsamtlichen Agentur Xinhua sowie der im Westen wenig bekannten Chinanews Agentur übernommen, um zu Hause den falschen Eindruck einer internationalen Zustimmung zu ihrer Politik zu erwecken. Die KP kennt ihre Feinde gut und weiß auch genau, wo ihre Freunde zu finden sind.

Über die Qualität der einzelnen Texte der China-Redaktion der Deutschen Welle kann man natürlich diskutieren. Und man muss ihre Meinung auch nicht teilen. Dass aber die Redaktion kommunistische Propaganda mache, dieser Vorwurf geht entschieden zu weit. Ich kenne Frau Zhang persönlich, zu deren engstem Freundeskreis auch noch einige andere studentische Aktivisten gehören. Anfang der neunziger Jahre hat sie mir mit großer Anteilnahme bei der Zusammenstellung von Dokumenten der 1989er Studentenproteste geholfen. Sie war es auch, die mich in den vergangenen Jahren immer wieder aufgefordert hat, für die Deutsche Welle zu schreiben. Dass ich nur selten ihrer Aufforderung nachgekommen bin, lag an mir.

In ihrer Funktion als leitende Redakteurin, so darf ich annehmen, muss sie doch einen nicht unwesentlichen Anteil daran gehabt haben, dass die chinesische Seite der Deutschen Welle in China gesperrt war. Sie nun als "extrem regimefreundlich" (Perlentaucher vom 25.9.2008) zu bezeichnen, das nenne ich, mit Verlaub, glatten Unsinn.

Die Vorwürfe, die man ihr macht, gehen hauptsächlich zurück auf ihre unbedachten, zum Teil sicherlich dummen und auch falschen Äußerungen kurz vor den Olympischen Spielen. So etwa der Vergleich zwischen dem Verbot kinderpornografischer Seiten mit dem von "Free Tibet" oder von Falun Gong. Aber sich dumm stellen schien vor den Olympischen Spielen, so ergab jedenfalls meine Recherche im Perlentaucher, ohnehin fast ein Volkssport unter den deutschen Olympia-Funktionären zu sein. Ich habe nie herausgefunden, welche Konsequenzen für diese Funktionäre aus ihren Äußerungen folgte. Nur in der FAZ schüttelte man müde den Kopf. Man hätte von den Medien eigentlich viel mehr Kampfgeist erwartet. Lag es am heißen Wetter? Oder an der Begeisterung für die Olympischen Spiele?

Was hat Frau Zhang zu ihren Ausrutschern veranlasst? "Ihr Antrieb sei", stand in der Berliner Zeitung vom 20.8.2008, "die Wut der hierzulande lebenden Chinesen über die verunglimpfende Berichterstattung."

Nun ist das Wort "verunglimpfend" vielleicht eine Spur zu emotional. Aber grottenschlecht, ja einseitig war die Berichterstattung vor und während der Olympischen Spiele tatsächlich. So wurde zum Beispiel vor den Spielen fast bis zum Exzess hämisch über die Luftqualität in Peking berichtet. Die Kritik ist selbstverständlich berechtigt und auch richtig. Doch wünschte man sich, hier und da auch einmal so etwas wie eine selbstkritische Reflexion zu lesen. Denn ganz unschuldig ist der Westen ja auch nicht: seine dreckigsten Industrien sind nach China oder in ein anderes Billiglohnland verlagert worden. Indem China sich laut Spiegel vom 16.6.2008 zum "Klimasünder Nummer eins" entwickelt, leistet es zugleich, so pervers es klingt, einen nicht unwesentlichen Beitrag zur sauberen Luft in Berlin, London oder New York. Sagen die klugen Köpfe nicht dauernd: Die Welt ist ein Dorf?

Und wenn wir erneut die Rekordverkaufszahlen von Volkswagen, Daimler oder BMW in China bejubeln, sollten wir nicht vergessen, gleichzeitig die Autoindustrie zu ermutigen, in Zukunft umweltverträglichere Autos zu bauen, vor allem in China, statt dauernd über die "Brüsseler CO2-Strafpläne" zu jammern. Das ist nicht chic, und cool ist es auch nicht.

Auch über den Bericht der ARD über Doping in China kann man nur den Kopf schütteln. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit und Integrität des Journalisten. Aber ein wenig zu naiv und sensationslüstern ist der gute Reporter aus Deutschland schon gewesen. Denn in China wimmelt es heute nur so von Betrügern und Falschspielern, und zwar in allen erdenklichen Varianten. Eine kleine Unachtsamkeit, schon geht man in die Falle.

Doping mit Schildkröten, ja. Tigerschwanz, auch okay. Schweinenhoden, vielleicht. Aber "Gendoping in Form einer Stammzellentherapie"? Das wäre wie Michelle Pfeiffer als Lehrerin an einem Schanghaier Gymnasium: zu schön, um wahr zu sein. So weit sind meine Landsleute bioathletisch einfach noch nicht. In Sachen Doping kann ich Amerika wie Europa beruhigen: man ist China noch Jahrzehnte voraus. Schauen wir uns doch nur das Hundert-Meter-Finale oder die Tour de France an: Weit und breit kein einziger Chinese zu sehen. Da wartet China noch auf einen Techologie-Transfer aus dem Westen.

Arg gekünstelt wirkte auch die laute Aufregung, als sich herausstellte, dass jene schokoladensüße Kinderstimme bei der olympischen Eröffnung nicht dem Kind gehörte, das gezeigt wurde. Jahr für Jahr, wieder und wieder hat man über den Massensport Fälschung in China berichtet. Inzwischen ist Fälschung fast wie der andere Name für China geworden. Und nun benimmt man sich auf einmal wie die kreischenden wangenroten Schulmädchen? Das kann einfach nicht echt sein.

Dafür ließ man das eigentlich Subversive an der Geschichte geräuschlos untergehen: Chen Qigang, Musikleiter der Eröffnungspiele, hatte von sich aus und völlig überraschend für seine Gesprächspartner, den Austausch der beiden Mädchen in einem Interview mit dem Pekinger Rundfunk publik gemacht. Das zuständige Politbüromitglied habe die letzte Probe besucht und dann den Austausch verordnet, erklärte er. Widerrede habe nichts genutzt. So wurde im Interesse der Nation "in letzter Minute" gefälscht. Das war die Enthüllung! Drei Tage nach der glanzvollen Eröffnung wirkte Chens Erklärung fast wie ein Erdbeben und fegte den sorgfältig kreierten schönen Schein mit einem Schlag weg. Es war eine schallende Ohrfeige für die Partei.

In dem Radiointerview sagte Chen, dem deutlich anzumerken war, wie er mit sich rang, er sehe es als seine Pflicht an, dass das Volk die Wahrheit erfahre: Dass das Eröffnungslied von einem anderen Mädchen gesungen wurde. Das ist Zivilcourage. In China vermuten viele, dass die Zukunft für Chen schwierig wird.

Das Interview wurde aufgezeichnet. Und ein Tag später stand im Internet sowohl die Textversion als auch der Livemitschnitt. Dass beides für viele meiner deutschen Kollegen, die vom Chinesischen keinen blassen Schimmer haben, eine fast unüberwindbare Hürde darstellt, ist mir natürlich bewusst. Gerade deshalb wünsche ich mir, dass sie gelegentlich die Weisheiten studieren, die Harald Schmidt Woche für Woche in der Zeitschrift Focus verbreitet. In der Ausgabe vom 25.8.2008 schrieb er zum Beispiel: "Wer aber im chinesischen Restaurant nur bestellen kann, indem er auf die Fotos in der Speisenkarte zeigt, hat vielleicht auch Probleme bei der Beurteilung des internen Demokratieprozesses im Reich der Mitte."

Wie der Berliner Professor Wolf Lepenies im chinesischen Restaurant bestellt, habe ich nicht live miterlebt. Aber sein Text, erschienen am 29.7.2008 in der Welt, lässt vermuten, dass er auf die Fotos in der Speisekarte zeigt.

In dem Artikel ging es um die bekannte chinesische Zeitschrift, Du Shu (Buchlesen), und deren vor einem Jahr von ihrem Posten entbundene Redakteure Wang Hui und Huang Ping. Professor Lepenies schrieb: "Unter den intellektuellen Publikationen Chinas steht die Zeitschrift an vorderster Stelle."

Diese Charakterisierung hatte die Zeitschrift in der Tat einst verdient. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war sie in China das Organ der Aufklärung, legendär vor allem wegen ihrer liberalen Haltung. Um sie haben sich all jene bekannten Intellektuelle gesammelt, die mit der Partei nicht übereinstimmten. 1996 übernahm sie als exekutiver Chefredakteur Wang Hui, der in China als einer der führenden Köpfe der "Neuen Linke" gilt. Seitdem büßt die Zeitschrift kontinuierlich ihre einst glanzvolle Reputation ein.

Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass sich die Zeitschrift unter Wang zu einer Plattform der "Neuen Linke" entwickelt hat. So verschwanden allmählich aus dem Blatt jene ganzvollen Namen wie Li Shengzhi, Zhu Xueqin oder Xu Youyu, allesamt bekannte liberale Intellektuelle Chinas. Von den Dissidenten wie Liu Xiaobo ganz zu schweigen. Diese Du Shu pries nun Professor Lepenies: "Zu den herausragenden Eigenschaften von 'Dushu' und zum intellektuellen Rang seiner Herausgeber aber gehörte es, auch ihren Kritikern in der eigenen Zeitschrift stets Raum und Stimme zu geben."

Seine intellektuelle Integrität hat Wang selbst vor acht Jahren mit einem Skandal zerstört. In Zusammenarbeit mit der Du Shu-Redaktion stiftete im Jahre 2000 Li Ka-shing, ein Milliardär aus Hongkong, den mit einer Million Yuan ausgestatteten "Chang-jiang Du-shu Preis". Die Redaktion, in diesem Fall Wang Hui und sein Adjutant Huang Ping, stellte das Preisverleihungskomittee zusammen. Anschließend schickten mehrere Mitglieder des Komitees, angeführt von Wang, ihre eigenen Werke ins Rennen schicken. Am Ende wurden sie alle prämiert, wobei Wangs Buch einen der mit hunderttausend Yuan dotierten Hauptpreise gewann.

Unter den chinesischen Intellektuellen schlug diese offene Dreistigkeit hohe Wellen der Empörung. Dass Wang und Huang beide als Redakteure letztlich unbeschadet aus diesem Skandal hervorgingen, hatten sie der damaligen Verlagsleitung zu danken, die gegen die Protestler sogar mit juristischen Mitteln vorzugehen drohte.

Dieser Skandal war in zweifacher Hinsicht bahnbrechend: Er legitimierte zum einen das Geschäft zwischen Geist und Geld. Denn das pflegten Intellektuelle, die in der Öffentlichkeit stehen, bisher nur in dunklen Hinterzimmern abzuwickeln, um ihr Image als soziales oder politisches Gewissen zu wahren. Nun ist das Feigenblatt gefallen. Inzwischen treten Vertreter der Intelligenzija in China ganz selbstverständlich wie Unternehmer auf und benehmen sich oft auch so, das heißt, sie fälschen und machen ungeniert Raubkopien.

Zum anderen markierte er den ersten und bis heute auch radikalsten Richtungskampf mit diametralen Vorzeichen unter den Intellektuellen. Wangs Verbündete bezichtigten die Kritiker des unlauteren Motivs: In Wirklichkeit hätten sie ihn nur aufgrund seines politischen Standpunkts attackiert. Und so krachte die Neue Linke zum ersten Mal gegen die Liberalen, frontal und öffentlich. Danach ging jeder seiner Wege, öffentlich wie im privaten Leben.

Das alles steht auf der chinesischen Speisekarte. Vielleicht fehlt es nur an einem passenden Foto. Anders ist es nicht zu erklären, dass der Berliner Professor die ganze Sache in seinem Text übergangen hat.

Wer des Chinesischen mächtig ist, kann selbst feststellen, wie offen, scharf und manchmal auch gewitzt heute die chinesischen Journalisten die Geschehnisse im eigenen Land kommentieren. Nehmen wir ein beliebtes Beispiel, etwa die Nachrichtenseiten des Internetportals Sohu, und schauen uns nur zwei Kommentare zu dem Milchskandal am 6. Oktober an:

Die Stadtregierung Shi-jia-zhuang entschuldigte sich am 1. Oktober dafür, dass ihre Geheimhaltung des Skandals "dem Image der Partei und Regierung" sehr geschadet habe. Dazu schrieb nun ein Kommentator, das höre sich an wie "eine politische Loyalitätserklärung", wie "eine Entschuldigung bei dem Machthaber". Das erinnere ihn an die feudale Gesellschaft, in der man sich vor dem Kaiser verantworten müsse. "In einer demokratischen Gesellschaft aber muss sich die Macht vor dem Recht verantworten." Seinen Text schloss er mit der Frage: "Macht uns dieser Unterschied nicht nachdenklich?"

Auf den Unterschied zwischen den politischen Shows in einer "zivilisierten Gesellschaft" und China machte indes ein anderer Kommentator aufmerksam. Denn inzwischen versuchen landauf, landab die Parteifunktionäre durch demonstratives öffentliches Milchtrinken das gemeine Volk zu beruhigen. Zugleich ist bekannt geworden, dass Lebensmittel für die Parteispitze in Peking unter strengster Überwachung und ausschließlich auf ökologisch einwandfreiem Ackerland angebaut werden. Der Autor riet daher lapidar dem Volk, trinke nur, was die Funktionäre trinken.

Kommentare wie diese sind heute in China keine Einzelfälle, sondern die Regel. Man spricht offen die Probleme an und verlangt unumwunden nach mehr Kontrolle durch Medien, mehr Rechtstaatlichkeit, mehr Transparenz in der Informationspolitik, mehr Freiheit und mehr Demokratie.

Neulich las ich in der Welt vom 2.8.2008: "Demokratie - ein Auslaufmodell: Immer weniger Deutsche sind von der Demokratie überzeugt. Wer oder was kann sie noch retten?". Würde man eine solche Umfrage in China durchführen, wären wir alle überrascht über die hohe und breite Akzeptanz der Demokratie unter den Chinesen. Nach Jahren der Armut und des Unrechts weiß heute selbst ein einfacher Bauer, dass die Demokratie eine gute Sache ist und ihm mehr Rechte und Schutz bringt. Das war Anfang der neunziger Jahre noch ganz anderes. Damals wurden Demokratie und Freiheit nur von fortschrittlichen und westlich orientierten Intellektuellen akzeptiert. Wie viel ist über diese dramatische Wandlung der chinesischen Gesellschaft in der vorolympischen Berichterstattung der deutschen Medien zu lesen gewesen? Wie viel davon ist überhaupt in der deutschen Öffentlichkeit angekommen?

Zurück zu Wang Hui und seiner Neuen Linken. Als Redakteur arbeitete Wang nebenberuflich. Sein Hauptberuf als Professor der renommierten Qinghua Universität ist das Denken. Dazu schrieb Professor Lepenies: "Charakteristisch für die Auffassung von Wang Hui und Huang Ping ist die Distanzierung von der Modernebegeisterung, welche die meisten chinesischen Intellektuellen erfasste, als Deng Xiaoping das Land in den Kapitalismus führte. Wang Hui und Huang Ping machten frühzeitig auf die Kehr- und Kostenseite des chinesischen Modernisierungsprozesses aufmerksam: auf die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, die Auseinanderentwicklung der städtischen und der ländlichen Regionen sowie auf eine Umweltzerstörung gigantischen Ausmaßes. Wang und Huang nahmen den Anspruch der Kommunistischen Partei Chinas ernst, eine sozialistische Partei zu sein: sie verlangten von ihr eine Politik der sozialen Verantwortung."

Das Soziale in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu haben, das ist in der Tat das größte Verdienst der Neuen Linken. Nur sieht sie die aufgestauten sozialen Probleme als Resultat der Reformpolitik seit 1978 an. In seinem bekannten Essay von 1997, mit dem an Karl Jaspers angelehnten Titel "Der geistige Zustand und die Probleme der Moderne im gegenwärtigen China", stellte Wang Hui fest, dass der kapitalistische Westen heute denselben sozialen Problemen wie China gegenüberstehe, und dass ihnen der Kapitalismus heute genauso wie vor zweihundert Jahren hilflos zusehen müsse. Und er urteilte: Als Rettungsplan sei der Kapitalismus in seinen Ursprungsländern kläglich gescheitert. Doch das habe die Partei nicht verstanden. Im Gegenteil. Sie gedenke mit ihrer Reformpolitik, Volk und Land schnurstracks genau in diese kapitalistische Weltordnung zu führen und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, diese kapitalistische Moderne für China zu realisieren. Daher forderte Wang, und mit ihm die Neue Linke, ein radikales Umdenken in der bisherigen Reformpolitik.

Der grundsätzliche Unterschied zu den Liberalen wird damit überaus deutlich. Letztere befürworten die Wirtschaftsreform, sehen aber als größtes Defizit der bisherigen Reformpolitik die fehlende politische Reform an. Und auf dieses Defizit führen sie ihrerseits die schweren sozialen Probleme zurück.

Was schlägt Wang vor? Der Kapitalismus sei bankrott, das sagte Wang unzweideutig. Der Sozialismus? Er bemühte sich zunächst genau zu sein und nannte den gescheiterten Sozialismus den "traditionellen Sozialismus". Dann begann er zu nuscheln und schlich um seine Vision wie die Katze um den heißen Brei. Denn Begriffe wie Sozialismus oder Planwirtschaft sind heute in China so gründlich diskreditiert, dass ein Intellektueller, der sie zu preisen versucht, sich selbst sofort unglaubwürdig macht. Vermutlich daher hat Wang seine Katze nie aus dem Sacke gelassen.

Es könnte aber auch an seinem Stil legen, der manch einem Großmeister der berühmten Frankfurter Schule in nichts nachsteht. Sich umständlich auszudrücken, dafür hat auch Wang ein Faible, und zwar so sehr, dass sein Chinesisch oft zu einer fehlerhaften Übersetzung aus einer fremden Sprache mutiert. So war übrigens auch der Stil der Zeitschrift unter ihm. Einmal darauf angesprochen, antwortete Wang stolz, Verständlichkeit sei ein Kriterium der Konsumgesellschaft. Er wolle nicht, dass seine Zeitschrift zu einem bloßen Konsumgut verkomme.

Weil aber die Zeitschrift immer schwerer verständlich wurde, verlor sie an Bedeutung und Einfluss. Sie lebte zuletzt eigentlich nur noch von ihrer einstigen Reputation. Bibliotheken und andere Kulturinstitutionen, deren Zahl heute in China drastisch gestiegen ist, abonnieren sie zwar immer noch. Aber der Anteil der privaten Abonnements sowie die Verkaufszahlen am Zeitungsstand sinken kontinuierlich. Neue junge Leser wenden sich von ihr ab. Der Verlag versuchte dies mit einer redaktionellen Umbildung vor einem Jahr abzuwenden. Pan Zhenping, der zuletzt einige aufsehenerregnde Bücher über den liberalen Historiker Chen Yinque herausgegeben hat, ist der neue Chefredakteur.

Dass die Welt, wie Wolf Lepenies in seinem Text zur Reputation Wangs erwähnte, am 11.11.2005 ein Gespräch mit ihm veröffentlicht hat, dagegen ist nichts einzuwenden. CNN macht auch Interviews mit Chinas Premier. Ebensowenig dagegen, dass Bundespräsident Horst Köhler Wang "vor kurzem zu einem Gedankenaustausch ins Schloss Bellevue einlud". Es könnte ja sein, dass man nur die deutsche Wertoffenheit demonstrieren möchte. Möglich ist auch, dass Bundespräsident Köhler aus reiner Neugier die sozialistische Kraft in China genauer kennenlernen möchte. Vor einigen Jahren habe ich selbst über einen Parteiintellektuellen berichtet, der jedes Jahr durch Deutschland tingelte. Er hatte gute Kontakte zu SPD, CDU und FDP und war überall ein gern gesehener Gast. Er informierte seine deutschen Freunde über die neueste Entwicklung der Pekinger Politik und diskutierte mit ihnen über Deutschlands Chinapolitik. Manipulation? No way. Es sind doch lauter gestandene Männer und Frauen.

Um so überraschender jetzt der Offene Brief des "Autorenkreises der Bundesrepublik", in dem weder Wertoffenheit noch Neugier noch Gastfreundlichkeit zu spüren sind. Stattdessen fordert man eine generelle Überprüfung, "ob Redakteure und Mitarbeiter der DW, die Mitglieder bzw. Kader der Kommunistischen Partei Chinas sind, sich tatsächlich als 'Deutschlands Visitenkarte im Ausland' eignen".

Nun leuchtet mir die Sache zwar im Prinzip ein - die Deutsche Welle ist schließlich keine Caritaseinrichtung für arbeitslose Mitglieder bzw. Kader der Kommunistischen Partei Chinas! Aber wie sollte man denn in der Praxis vorgehen?

Mit der Stasiüberprüfung ist es einfach. Da kann man sich an die Birthler-Behörde wenden und eventuell vorhandene Unterlagen sichten. Im Fall von Russland wird es zwar etwas komplizierter, aber da gibt es zum Glück zwischen Berlin und Moskau noch alte Duzfreunde. Richtig schwierig wird es bei den Chinesen. Nehmen wir an, die Deutsche Welle überprüft mich. Sie hat mein Wort, dass ich kein Parteimitglied bin. Und was dann? Soll sich Frau Bundeskanzler Merkel bei ihrem Besuch in Peking bei Hu Jingtao, dem Parteichef, über mich erkundigen? Oder soll sie sich an jene wenden, die mich tatsächlich kennen oder vorgeben, mich zu kennen?

Mein Vater, ein Gymnasialdirektor, wurde während der Kulturrevolution von einem anonymen Schreiber beschuldigt, ein Spion der im Bürgerkrieg geschlagenen Nationalisten zu sein. Daraufhin wurde ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. In der Einzelhaft sollte er ein Geständnis ablegen. Dann erkrankte er schwer. Seine Peiniger meinten aber, er simuliere ja nur. Als man ihn schließlich doch zum Arzt gehen ließ, weil er nicht mehr sitzen konnte, war alles schon zu spät. Krebs im späteren Stadium. Er starb im Alter von 41 Jahren. Und die Beschuldigung? Alles natürlich unwahr. Ich und meine Familie wissen bis heute nicht, wer der Verfasser des anonymen Schreibens war, und warum er es tat. Aus Hass, Neid oder vielleicht einfach aus revolutionärem Spaß. Aber was erzähle ich hier nur? Geschichten wie die von meinem Vater kennen doch die prominenten Unterzeichner des Offenen Briefes bestimmt zur Genüge.

Politisch korrekt ist natürlich auch der Vorschlag, "dass jeder Mitarbeiter der Deutschen Welle auf einen Codex hin verpflichtet wird, der sich an Kriterien eines werteorientierten Journalismus bemisst". Doch scheint der Teufel wieder einmal im Detail zu stecken.

Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit, diese Werte, da habe ich nicht den geringsten Zweifel, wird jeder Mitarbeiter der Deutschen Welle sofort unterschreiben. Aber was ist zum Beispiel mit einem Satz wie "die KP ist zur Zeit die Garantie für Stabilität und Wohlstand in China"? Lassen wir hier zunächst den Kontext aus, in dem der Satz stand. Darf ein chinesischer Mitarbeiter der Deutschen Welle dies schreiben? Ist das mit dem Codex zu vereinbaren? Darf man auch einmal Peking für die erfolgreiche Armutsbekämpfung loben? Oder über "Die Demokratie - ein Auslaufmodell" berichten? Und überhaupt darf man in einem Text seine Skepsis über ein zu rasches Tempo des Demokratisierungsprozesses in China zum Ausdruck bringen? Oder ein anderes Beispiel mit einem anderen Land. Darf ein Mitarbeiter der russischen Redaktion der Deutschen Welle schreiben: "Die Georgier haben doch den Kaukasus-Krieg angefangen"? Was sagt dazu der bundesdeutsche Wertjournalismus?

Wir sehen, mit einigen Seiten ist der bundesdeutsche Codex eines wertorientierten Journalismus nicht aufgestellt. Ich stelle mir eigentlich ein richtig dickes Buch vor, sagen wir von mindestens eintausend Seiten, mit einem ganzen Haufen von Kriterien, die uns sagen, was wir zu China oder Russland oder Themen wie Antisemitismus oder rechtem und linkem Extremismus in allen erdenklichen Varianten schreiben dürfen und was nicht. Für so etwas ist in Peking das Propagandaministerium zuständig. Und in Berlin?

Die Autoren des Offenen Briefes schlagen vor, "einen unabhängigen, diktaturimmunen Beobachter" einzusetzen, "der Qualitätskontrollen durchführt, die dem gesetzlichen Sendeauftrag entsprechen". Was für eine geniale Idee! Hoffentlich ist er außerdem Nichtraucher, umweltbewusst, hinterzieht keine Steuern, hört keine Telefone ab und ist vor allem nicht einer von der Sorte Joseph McCarthy.

Zur Immunologie schlage ich vor, dass man das Max-Planck-Institut damit beauftragt, einen Impfstoff gegen die Diktatur zu entwickeln. Denn "diktaturimmun" - was für ein unsinniges Wort - ist bekanntlich niemand von Geburt an. Der Haken dabei ist, dass man sich nur gegen bekannte Krankheit impfen lassen kann. Diktatur aber ist innovativ und taucht selten mit dem gleichen Gesicht auf.

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Zhou Derong wurde 1962 in China geboren und hat dort Biologie studiert. Im Dezember 1986 kam er nach Deutschland, um hier weiter zu studieren. Ab 1989 berichtete er als freier Kulturkorrespondent mehrere Jahre für die FAZ aus China. Inzwischen lebt er in Schanghai.