Essay

Dieser Schutzschirm ist kein Knirps

Von Beate Meierfrankenfeld
28.01.2009. Die Sprache der Krise offenbart auch eine Krise der Sprache.
Dass die Sprache, unsere Sprache, in einer global vernetzten Bilderkultur in der Krise ist, wird uns oft gesagt. Es gibt volkspädagogische Deutschstunden, die ganze Stadthallen füllen, Feldzüge gegen Anglizismen, Jurys, sprachpolizeiliches Feuilleton. Es gilt jedoch auch das Umgekehrte: Die Sprache hat ihre Krise ­− und die aktuelle Krise hat ihre Sprache.

Da ist erst einmal ihr Name selbst. Zu Beginn konnte sie mit einigem Recht "Immobilienkrise" heißen - und war damit spartenbezogen und lokalisiert. Und sie betraf das Prinzip "amerikanische Vorstadt" schlechthin, aufgeklärten Geistern, auch wenn sie es nur aus Filmen kannten, schon als Wille und Vorstellung längst suspekt. Genau genommen aber war die "Immobilienkrise" eigentlich immer schon eine "Hypothekenkrise", und diese brauchte nicht mehr lange, um zur allgemeinen "Finanzkrise" zu werden. Das hörte sich dann schon sehr viel wendiger an und drohte global zu diffundieren, wurde aber immer noch gern in säuberlicher Abgrenzung zur soliden "Realwirtschaft" betrachtet. Die dann allerdings ihrerseits in die Krise geriet. Zunächst sprach man verschämt, zunehmend aber auch kaltblütig vor den Kameras von einer "Rezession", oder, mit Sinn für traurige Jubiläen, gar von Anklängen an die "Große Depression" von 1929.

Wo aber Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Oder wird in "Pakete" geschnürt, als "Schirm" aufgespannt, mit "Schutzschilden" entschlossen verteidigt. Die Trostmetaphern haben ihr besonderes Gewicht: In der Schweiz wurde das "Rettungspaket" gleich zum Wort des Jahres 2008 gekürt - und verwies in seiner Allgemeingültigkeit nicht nur den Ausdruck "Task Force Cervelat" (zur bloßen Rettung der Nationalwurst) auf einen hinteren Platz. Die Deutschen gaben sich dagegen gewohnt problembewusst: Ihr Wort des Jahres, ausgewählt von der Gesellschaft für deutsche Sprache, ist in schlichter Wucht die "Finanzkrise" selbst, es folgt Unerfreuliches wie "verzockt" (Rang 2), "Datenklau" (Rang 3), "hessische Verhältnisse" (Rang 4) und "Nacktscanner" (Rang 7), außerdem sind "Umweltzonen" (Rang 5) und eine "multipolare Welt" (Rang 6) zu durchmessen, bevor er endlich, endlich dasteht: der "Rettungsschirm"; auf Platz 8. Nach ihm kommen, das in Klammern, nur noch der rührend zaghafte "Bildungsfrühling" auf dem 9. Rang und das bezeichnenderweise auf dem Schlussplatz der Top Ten gelandete und ziemlich dünn verhallende "Yes, we can". Klammer zu.

Schutzschirm und Rettungspaket, das klingt heimelig, defensiv, hausväterlich. Diese Rhetorik baut Nester, versorgt die Leute wie weiland das Care-Paket oder holt sie wenigstens vorübergehend ins Trockene. Und sie ist nicht ganz von dieser Welt: Protestanten erinnern sich vielleicht an ihre Konfirmation, bei der um "Schutz und Schirm vor allem Argen" gebetet wurde, Katholiken an Kommunionbildchen der Jungfrau Maria als Schutzmantelmadonna. Die Assoziationen greifen weit, auch wenn es nicht gleich um Erlösung geht, sondern ums Ausharren, abgeschirmt von den Unbilden der Welt da draußen.

Peter Sloterdijk, selbst ein Sprachartist von Graden, hat jüngst in einem Zeitungsinterview folgendes Deutungsangebot gemacht: "Unser System schwingt durch die Extreme von Enge- und Weite-Gefühlen, anders formuliert: von Ernst und Frivolität." Knappheitsempfinden auf der einen, "Belle-Epoque-Stimmung" auf der anderen Seite also. Wo wir uns augenblicklich befinden, dürfte da keine Frage sein. Und eng werden könnte es tatsächlich unterm Schirm, genauer gesagt: unter all den Schirmen. Zuerst wurden sie für die Banken gefordert, dann für "an sich gesunde Unternehmen" (so Angela Merkel), außerdem für Arbeitsplätze (Steinmeier und Steinbrück), für Arbeitnehmer (Oskar Lafontaine), für Steuerzahler (Paul Kirchhof), für arbeitslose Jugendliche oder für die Menschen überhaupt.

Und wer soll da jeweils wen eigentlich schützen? Die Rede von "Schutz und Schirm" findet sich nicht nur im Gebetbuch, sondern gehört zu einem alten Rechtsinstitut der europäischen Sozialgeschichte, der "Grundherrschaft". Diese verpflichtete den Grundherrn zu "Schutz und Schirm" gegenüber den "Grundholden", meistens Bauern, welche im Gegenzug Dienste und Abgaben in "Treue und Gehorsam" zu leisten hatten. Wir befinden uns also auf einem tiefgründigen Bedeutungsfeld, das an übersichtliches Territorium, handfeste Werte, Naturalienhandel und Geschäfte von Angesicht zu Angesicht denken lässt − im Zeitalter weltumspannender Virtualienmärkte durchaus tröstlich. Was historisch die "Treue" war, müsste heute wohl "Vertrauen" heißen - mit dem Nebeneffekt, dass dieses grundsätzlich entzogen werden kann, während Treue ihrem Wesen nach absolut ist. Tatsächlich ist "Vertrauen" - verlorengegangenes oder wiederzugewinnendes − ein weiteres Lieblingswort in der aktuellen Lage. Dennoch hakt es mit dem Tausch "Schutz und Schirm" gegen "Vertrauen". Denn unsere Obrigkeit ist durch nichts anderes als ein Verfahren gerechtfertigt, in dem die Bürger − die also, die da geschützt und beschirmt werden sollen − als Wähler nun mal eine nicht unwichtige Rolle spielen. Irgendwie sind sie also die Obrigkeit selbst. Und zahlen müssen sie die vielen Schirme ohnehin.

Noch etwas macht das Unterkriechen unter Schutz und Schirm und Zaubermantel des Staates problematisch: Es wird als Demutsgeste verstanden. Und Demut ist unter Konkurrenzbedingungen immer die zweitbeste Wahl. Deshalb traute sich zunächst auch keiner so recht, den Anfang zu machen. Ein hoher Sparkassenfunktionär, der nicht gern namentlich genannt werden wollte, gab die Hoffnung zu Protokoll, alle Banken mögen "gemeinsam in einem großen Schritt" unter den ersten 480-Milliarden-Schirm treten. Die Scheu ist inzwischen geschwunden, schließlich hat die Riesenkrise nicht nur Dumme und Gierige schrecklich verstrickt. Folgerichtig werden Unternehmen als "notleidend" oder "in Not geraten" bezeichnet − und da ist es wieder, das Pathos von Schicksal und Metaphysik. Es scheint nur noch Beten zu helfen. Oder: Verantwortung abgeben, Unterschlupf suchen. Für alle soll das aber auch wieder nicht gelten, finden wenigstens Sprachwissenschaftler: "Notleidende Banken" wurde kürzlich zum Unwort des Jahres 2008 gewählt, von einer weiteren Jury; Begründung: Der Begriff stelle das Verhältnis von Ursachen und Folgen der Krise auf den Kopf.
Die Unterscheidung von Gut und Böse an sich ist durchaus wesentlich im Sprachspiel der Krisenbewältigung. Sie legt nahe, in einer Situation global flottierender Kräfteverhältnisse klare Grenzen von drinnen und draußen, Freund und Feind ziehen zu können. Auch rein rhetorisch verlockend ist daher die Idee, den bösen Buben gewissermaßen zu institutionalisieren: als eine sogenannte "Bad Bank", die den Geldinstituten ihre "faulen" oder "giftigen" Wertpapiere abnehmen würde. Weil alle anderen dann wieder viel riskieren könnten, wäre die Krise damit aber vermutlich auf Dauer gestellt. Und so soll sie dann doch nicht gedacht werden.

Schirme sind zum Aufspannen und Zuklappen da, man benutzt sie auf Zeit. Und von der gegenwärtigen Zuspitzung erhoffen sich viele eine kathartische Wirkung: Deutschland werde gestärkt aus ihr hervorgehen, sagen nicht nur Kanzlerin, Vizekanzler und Josef Ackermann. Sehen wir es doch also einfach so: Ein paar übermütige, aber nicht unbedingt übelwollende Jungs haben ein bisschen Unordnung auf ihrem eigenen Spielplatz angerichtet, jetzt werden sie für eine Zeit lang hereingerufen, draußen wird klar Schiff gemacht und manches eben so wieder aufgebaut, dass es nicht mehr ganz so wild zugehen kann. Unterm Schutzschirm sitzt man derweil zwar eigentlich mit gesenktem Kopf, kann aber einen Seitenblick durchaus wagen, ob nicht irgendwo schon wieder was gehen könnte.
An die Selbstreinigungskräfte des Spielplatzes glaubt niemand mehr so recht, die eigene Logik des Spiels allerdings dürfte von den Umbauten des Terrains unberührt bleiben: Ihm wird es auch in Zukunft nicht darum gehen, sich in der Beschränkung einzurichten, sondern nur darum, "Weiteempfindungen" wiederzugewinnen (Sloterdijk), bis hin zu jener berauschenden "Illusion, fliegen zu können" (nochmal Sloterdijk). Punkt. Schutzschirme einholen. Bis zur nächsten bedrohlichen Großwetterlage.