Essay

Ecce Pontifex

Von Daniele Dell'Agli
12.12.2011. Wie Nanni Moretti mit dem weißen Zauber der Improvisation den Papst zum Menschen macht. Und wie er seine Botschaft so elegant an der Oberfläche versteckte, dass sie für die Kritik undurchdringlich wurde.
"Il cinema ci aiuta a vedere una realta che ancora non riusciamo a vedere - Das Kino hilft uns, eine Wirklichkeit zu sehen, die wir noch nicht erkennen können", fasst Nanni Moretti sein cineastisches Credo in einer seiner kurzen Selbsteinführungen zusammen. Große Filme erkennt man meist nachträglich daran, dass sie nicht nur ihrem Publikum, sondern auch den Kritikern um genau solche "Visionen" voraus waren.

Die "Invasion der Barbaren" von Denys Arcand (2003) etwa wurde mit zahlreichen Preisen und begeisterten Kritiken bedacht und doch grotesk unterschätzt, weil die epochale Leistung dieses Films verkannt wurde: profane Szenen und Rituale zur Begleitung eines sterbenden Angehörigen beziehungsweise Freundes entworfen zu haben, die an Empathie und Intensität alles übertreffen, was die offiziellen Religionen an Trost zu bieten haben, die noch immer ihr Monopol in den letzten Dingen behaupten.

Ähnlich könnte es auch "Habemus Papam" ergehen, dem neuen Film von Nanni Moretti, dem schon in Cannes und anschließend von der italienischen, mittlerweile auch der deutschen Kritik attestiert wurde, dass er den satirischen Biss dieses Regisseurs vermissen lässt und überhaupt die Chance zur Abrechnung mit den Missständen in der katholischen Kirche, die der Plot nahe legt, verspielt habe. Der unsägliche Untertitel gar ("Ein Papst büxt aus"), den Niederungen deutschen Blödel- und Klamauk-Entertainments entstiegen, trägt das seine zur weiteren Infantilisierung der Rezeption bei. Nicht zum ersten Mal wird übrigens ein Moretti-Film bereits durch die Titelvergabe verhunzt: 2006 kam die Berlusconi-Satire "Il Caimano" mit dem chauvinistischen Titel Der Italiener in die Kinos. Man stelle sich vor, ein namhafter deutscher Regisseur X (für Moretti gibt es hierzulande leider kein Pendant) würde eine Merkel-Satire unter dem Titel "Das Suppenhuhn" drehen und der Film käme in Italien unter dem Titel "Die Deutsche" in die Kinos! Für die Vergröberung des Eindrucks von "Habemus Papam" sorgt darüber hinaus eine lieblos-uninspirierte Synchronisation (darüber später mehr), die jeden Filmfreund einmal mehr sich nach der Schweizer Untertitelungs-Praxis sehnen lässt - oder gleich nach dem Heimkino.

Worum geht es in diesem Film? Der Papst ist gestorben, ein neuer muss gewählt werden; zu diesem Zweck versammeln sich Kardinäle aus aller Welt wie seit gut einem Jahrtausend Usus zum Konklave. Die Wahl fällt nach etlichen Durchgängen überraschend auf Kardinal Melville (Michel Piccoli), der jedoch, kurz bevor der Protodiakon der wartenden Menge auf dem Petersplatz seinen Namen verkünden kann, eine Panikattacke erleidet. Damit ist die Zeremonie unterbrochen, denn sie gilt erst als abgeschlossen, wenn der neue Papst sich der Öffentlichkeit zeigt und den apostolischen Segen erteilt. Während der Pressesprecher (Jerzy Stuhr) die Journalisten beschwichtigt, rufen die besorgten Kardinäle den Psychoanalytiker Professor Brezzi, "den besten seiner Zunft" (von Nanni Moretti selbst gespielt) in den Vatikan, um dem designierten Papst über seine Krise hinweg zu helfen. Ein erstes Vorgespräch - Diagnose "depressive Verstimmung" - ändert nichts an dessen Zweifeln hinsichtlich seiner Eignung für das hohe Amt. Ein Ausflug extra muros (zur Kollegin und Ex-Frau des Analytikers) soll Aufschluss und Läuterung bringen, doch den nutzt der frischgekürte Papa Melville, um sich seiner Eskorte zu entziehen und auf eigene Faust durch Rom irren. Von diesem Umstand erfahren die Kardinäle nichts, die, solange es nicht zu der offiziellen Proklamation kommt, das Konklave nicht verlassen dürfen.

Soweit der erste Teil einer Geschichte, die selbst in ihren absurden Momenten - etwa die Unterredung des Therapeuten mit dem päpstlichen Analysanden coram publico - dank einer akribischen Rekonstruktion der Abläufe sowie der genauen Beachtung der Rituale, Roben und Dekors (dafür gab es Lob sogar aus dem Vatikan) mit dem nüchtern-distanzierenden Blick eines Chronisten protokolliert erscheint. Dazu tragen die gleitenden, kaum merklichen Übergänge von den dokumentarischen Totalen der Zeitgeschichte "draußen" zu dem (fiktiven) Psychodrama im Inneren des Konklave bei (die vom auch sonst kongenial unaufdringlichen Soundtrack Franco Piersantis akzentuiert werden); aber auch der diskret-zurückhaltende Stil Morettis, der selbst so großartige Drehorte der Architekturgeschichte wie Palazzo Farnese, die Reggia di Caserta oder Villa Medici (Nachbauten der Sixtinischen Kapelle und der Fassade des Petersdoms in Cinecitta nicht zu vergessen) mit einer Selbstverständlichkeit einzufangen weiß, dass der Zuschauer zwar aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, sich aber weder überwältigt, noch von der Handlung abgelenkt fühlt. Der Kamera Alessandro Pescis gelingt es, die Akteure in die übermächtigen Kulissen einer glorreichen Vergangenheit einzubinden, ohne deren barock-renaissancehafte Grandiosität über das gegenwärtige Geschehen triumphieren zu lassen.



Die Geschichte gabelt sich nun in zwei Handlungsstränge, die abwechselnd erzählt werden: wie der Papst auf seinen Streifzügen inkognito durch Rom Beobachtungen und Erfahrungen macht, die ihn darin bestärken, die ihm aufgetragene Bürde abzulehnen; und wie die mit dem Psychoanalytiker im Vatikan eingeschlossenen Kardinäle sich die Wartezeit bis zu seiner Rückkehr vertreiben. Besonders in diesem Teil blitzt das komödiantische Genie Morettis auf: die Würdenträger legen mit der Anspannung allmählich auch ihren steifen Habitus ab, wenden sich den kleinen Freuden des irdischen Daseins zu - kulinarischen Genüssen, Kartenspiel, Heimtrainer -; man streitet mit dem Vertreter der konkurrierenden Heilslehre um den fünften Bußpsalm (Nr. 102), den der "Experte" zur Erläuterung seiner Diagnose des päpstlichen Ausnahmezustands heranzieht. Mit der ihm eigenen, charmanten Boshaftigkeit geißelt Moretti en passant die - von Eva Illouz (Die Errettung der modernen Seele) ausführlich analysierte - Obsession unserer Epoche, sich bei jedem Beziehungsproblem, jedem seelischen Konflikt, jedem sozialen Funktionsversagen sogleich in therapeutische Behandlung zu begeben. Am Ende lassen sich die hochbetagten Geistlichen von Dr. Brezzi sogar zu einem Volleyballtournier anstiften, der Psychagoge ohne Fortune mutiert zeitgemäß zum virtuosen Spielleiter.

Moretti führt uns gleichsam einen Akt umgekehrten Proselytentums vor: nicht der Hinzugekommene (griechisch: Proselyt) wird missioniert, sondern der Fremdkörper des Ungläubigen agiert in der Gemeinschaft der Prälaten (die ihn gerufen hatten!) wie ein Katalysator zur Deregulierung ihrer Atavismen. Die Feinjustierung der von ihm ausgehenden Irritationen kann allerdings nur erfassen, wer die seltsame, zugleich sanfte und rau-kehlige Stimme Morettis im Original hört, diese entschiedene Diktion, die trotzdem einen Vorbehalt des Unernsts bewahrt (und den keine Synchronisation wird je ersetzen können). Dabei macht dieser Regisseur seine Senioren (auch ihnen, beziehungsweise ihren nicht-italienischen Darstellern lässt Moretti den fremdländischen Akzent) an keiner Stelle lächerlich, im Gegenteil: gerade indem er sie als Wesen mit sinnlichen Bedürfnissen und einem ihrem Alter durchaus angemessenen Spieltrieb Ernst nimmt, gibt er ihnen eine Würde, die sie in ihren hauptamtlichen Auftritten wohl nur noch von Opus-Dei-Anhängern anerkannt bekommen.

Die Pointe dieser Verwandlung ist: je menschlicher die Würdenträger gezeichnet werden, desto weniger Autorität strahlen sie aus. Als ob patriarchale Autorität - denn um diese geht es hier - ihre einschüchternde Wirkung erst durch die Maske von etwas Un-Menschlichem, nämlich des mortifizierten Lebens entfalten kann.



Diese Ökonomie des Machtgewinns durch Verzicht greift Moretti nirgends frontal an, er verabschiedet sie mit leichter Hand, spätestens als die Kardinäle Musik aus der Papstsuite hören und sich zu einem Song von Mercedes Sosa zu wiegen beginnen (dem der Papst in einer suggestiven Parallelmontage zur gleichen Zeit bei Straßenmusikanten "draußen" begegnet): Todo cambia: "Alles ändert sich", singt sie, ganz im Stil lateinamerikanischer Revolutionsbarden der siebziger Jahre - quod erat demonstrandum.

Dass Moretti zeigt, wie die Konversion der Ekklesiasten zu späten Genießern des Diesseits sie untauglich für ihre Ämter macht, dürfte der wahre Grund für die Boykottaufrufe des Osservatore Romano sein. Tatsächlich fehlt "Habemus Papam", wie von Kritikern moniert, die von Moretti zu erwartende ironische Schärfe gänzlich, Respektlosigkeit oder gar Blasphemie liegen ihm fern; aber dafür ist es ein ausgesprochen listiger Film: im Sinne einer klassischen captatio benevolentiae schmeichelt er den Zuschauern mit einem getragenen Erzählduktus, wunderschönen Ambientes und mal komischen, mal ergreifenden Szenen, während er ihnen unmerklich die traditionsreichen, emblematischen Konnotationen des dargebotenen Schauspiels entleert: was immer an diesem Film gefällt oder "menschlich" berührt - mit Katholizismus oder Religion hat das nichts mehr zu tun..

Nicht minder raffiniert verfährt die Parallelaktion des päpstlichen Selbsterfahrungstrips, die seine Majestät ausgerechnet in die Arme einer Theatertruppe treibt, die gerade Tschechows Möwe probt: ein Stück, in dem die auf einem Landsitz sich langweilenden Besucher aus der Stadt unter Anleitung eines Schauspielers zum Zeitvertreib wiederum ein Stück aufführen. Eine Verschachtelung der Repräsentationsebenen - mitsamt ihrer Verdopplung durch die simultane "Aufführung" eines Volleyballturniers der katholischen Nationen im Vatikan (beziehungsweise ihrer vorlaufenden Trainingseinheiten) - vermeidet Moretti durch eine geschickte, die Ebenen klar abgrenzenden Montage, die sein Sujet klar im Blick behält.

Der Papst erinnert sich nämlich, dass er selber mal Schauspieler werden wollte und mangels Talent abgelehnt wurde. Der Stellvertreter (Darsteller, Repräsentant) von etwas oder jemandem - von einem personal gedachten Etwas -, das nur kraft der Überlieferung kanonischer Texte existiert: kann man eine bündigere Definition des Schauspielers geben? Dass die Klassiker des Theaters für diese kulturelle Institution den Status heiliger Schriften beanspruchen dürfen, steht ebenfalls außer Frage. Und nun schreckt der talentlose Schauspieler von einst vor der größten Rolle seines Lebens zurück: Vertreter Gottes für die größte Glaubensgemeinschaft der Christenheit zu werden. Es sei eine persönliche Krise seines Selbstvertrauens, beteuert er, keine des Glaubens. Wie aber kann der Papst zweifeln, ob er der richtige für sein Amt ist, ohne an der Unfehlbarkeit Gottes, der ihn - durch das Votum des Konklave - auserwählt hat, zu zweifeln?

Moretti überlässt es dem Zuschauer, solche Fragen zu stellen; ihm kommt es darauf an, "jemanden zu zeigen, der ganz oben angekommen, sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlt und den Mut aufbringt, Nein zu sagen"; und je mehr Michel Piccoli seine Figur dem verstorbenen Johannes Paul II expressiv angleicht (der in jungen Jahren bekanntlich als Schauspieler angefangen hatte), desto mehr entfernt sich seine Rolle von der autokratischen Selbstgefälligkeit des polnischen Papstes, der über ein Vierteljahrhundert lang unbeirrt eine noch nie da gewesene Machtfülle auf das Pontifikat konzentriert hatte, und der am Ende sogar seinen Todeskampf massenmedial (und das heißt: missionarisch) zu instrumentalisieren gewusst hat (Jerzy Stuhr, aus Kieslowski-Filmen gut bekannt, sorgt dafür, dass wir die Wojtyla-Connection nicht übersehen). Moretti entwirft hierzu eine Gegenfigur, deren Verstörung in der Originalfassung des Films durch Michel Piccolis unbeholfenes Italienisch ungleich plastischer zum Ausdruck kommt als in der Synchron-Konserve, die ihm eine völlig abwegige Robustheit verleiht. Ähnlich wie die wundersam aufgetauten Kardinäle lässt Piccolis Nonpapa ahnen, dass die (verwirklichte) Utopie eines Vatikans mit menschlichem Antlitz gleichbedeutend mit dem Ende dieses ältesten totalitären Systems auf Erden wäre. Nirgends jedoch kostet Moretti den kindlichen Größenwahn aus, das "höchste Sujet" (das zweithöchste, Berlusconi, hatte er im Caimano mit dem gebotenen Sarkasmus abgehandelt) und dessen Megalopathie, die Berufung zum Pontifex maximus, zum obersten Brückenbauer zwischen Himmel und Erde, sich einmal anders vorzustellen - "il mio Vaticano, i miei cardinali, una mia fantasia" (NM). Prompt wird ihm vorgeworfen, er habe die aktuellen Probleme der Kirche (Missbrauch, Zölibat, Misogynie, Ökumene et cetera) ausgeblendet, sich für eine letztlich oberflächliche Komödie mit milden tragischen Zügen entschieden. Als ob es Sache eines Spielfilms ist zu illustrieren, was Journalisten recherchiert haben. Wer so argumentiert, denkt nicht nur verkehrt, er hat nicht einmal richtig hingeguckt.

Das Geheimnis dieses Films liegt in der Tat darin, dass er seine Brisanz, wie schon bei der Kardinalserweckung beschrieben, elegant an der Oberfläche versteckt. Zum Beispiel im wiederholten Kontrastieren der Jugend auf den Plätzen und Straßen mit den greisen Glaubensverwaltern in ihrer prächtigen Festung: kommentarlos, gleichsam beiläufig und dadurch umso eindrücklicher demonstriert Moretti den ganzen Atavismus des geistlichen Machtapparats. Ist eine radikalere "Kritik" vorstellbar? Ja, und zwar in Gestalt eines fehlenden Fragezeichens. Warum bleibt die Einsetzungsformel im Indikativ? Habemus Papam - wirklich? Haben "wir" denn einen Vater? Einen Papst jedenfalls nicht, nicht nach Moretti. Oder allenfalls einen, der es nicht sein will. Wer also sind "wir", die wir trotzdem einen haben? All jene, die es begrüßen, dass endlich einer "Nein" sagt zu dieser Rolle und so einer von "uns" wird: ein Vater vielleicht, aber kein Patriarch?

Als der Film nach der erzwungenen Rückkehr des renitenten "Papa" Melville in den Vatikan für die Schlussansprache wieder zum dokumentarischen Gestus des Anfangs zurückkehrt, wird - im Gegenschnitt zur gespannten Erwartung auf dem Petersplatz - vollends deutlich: Dieser und nur dieser "Papst" ist für "uns" wirklich; der andere, der jeden Sonntag über den Bildschirm flimmert, ist hingegen eine mediale Fiktion, wie alle organisierte Religion pure Fiktion ist, über deren Nutzen man nicht erst seit Nietzsche und Freud streitet (den Vorwurf des Priestertrugs hat Lukrez als erster formuliert). Und je virtuoser, sprich effekthaschender die offizielle Kirche ihre mediale Präsenz inszeniert, desto fiktiver (und austauschbarer) werden ihre Botschaften. So könnte eine Lektion der so gegensätzlichen, diskret-lakonischen Ästhetik Morettis lauten, die die gängigen vatikanischen Rituale zum papistischen Spektakel - Brimborium, Pomp und Firlefanz -, also wiederum zur Fiktion deklassiert.

Die Autorität des Vaters war in christlich-jüdisch-islamischer Tradition von jeher die der Alten über die Jungen, der Tradition (der Toten) über die Gegenwart (die Lebenden), legitimiert durch die Konstruktion eines Schöpfergottes als Vater, dessen Autorität die Scholastik als die der Ursache über die Wirkung definierte (erhellend hierzu die Analysen von Alexandre Kojeve in La notion de l'autorite, 1942 geschrieben, erst 2004 in Paris veröffentlicht). Wenn nun selbst der "Heilige Vater" vor seiner Rolle zurückschreckt - wie mag es da erst um die gewöhnliche Väterlichkeit bestellt sein? "Unser" Protagonist wurde in die alte Position manövriert und hat durch Ablehnung der Wahl die Prüfung "unserer" Zeit bestanden, wodurch er ein zeitgemäßer Vater wurde: kein Alleinherrscher, nicht einmal ein Rechthaber. Eher ein Fehlbarer, der zweifelnde Stimmen in und um sich zulässt und weiß, dass ihm seine Autorität weder "von oben" verliehen wurde, noch kraft Amtes, Biologie oder Tradition gesichert ist; dass er sie vielmehr in jeder Lebenslage neu von seinem Gegenüber und von potenziellen Weisungsempfängern übertragen bekommt, auf deren Anerkennung er angewiesen bleibt.

Wem durch solche Überlegungen der intellektuelle Anspruch von Habemus Papam überstrapaziert erscheint, sei daran erinnert: kein anderer Filmemacher hat in den vergangenen Jahrzehnten die Dekonstruktion von Autorität generell und (seit Aprile, 1998) der traditionellen Vaterfigur so konsequent durchgespielt wie Nanni Moretti - ohne je die Notwendigkeit infrage zu stellen, dass es Väter genauso braucht wie Mütter, insbesondere als Bezugspersonen, die den einengenden mütterlichen Betreuungsfuror systematisch sabotieren und bei aller aufmerksamen Zuwendung die Kinder eher loslassen können. Man darf darüber hinaus Morettis (auch im deutschen Fernsehen wiederholte) Auskunft, es stecke in beiden Hauptfiguren, auch in der des Kardinals Melville etwas von ihm, getrost ernst nehmen. Diese Geste des Verzichts auf die höchste Autorität entspringt einer Idiosynkrasie des Filmemachers, die seinem ganzen Werk ein unverwechselbares Muster aufgeprägt hat (nicht zufällig trägt Nonpapa Melville den Namen des Schöpfers von Bartleby, dem berühmtesten Neinsager der Literaturgeschichte).

Zum einen in den Filmen, die ihr eigenes Entstehen thematisieren: als eine immer wieder abbrechende Zielstrebigkeit, eine Telosverweigerung, die dann doch zum gelungenen Abschluss führt (Aprile); als wiederholtes Scheitern eines Projekts, dessen Chronik am Ende doch einen kohärenten Film ergibt (Il Caimano); als unentschlossenes Schwanken zwischen der frustrierenden Präsentation eines gerade abgedrehten Films, Probeaufnahmen zu einem neuen und davon heimgesuchten Albträumen, aus dem sich der dritte Film zusammensetzt, den wir unter dem Titel Sogni d'oro (Goldene Träume, 1981) kennen. In anderen Fällen wirkt sich seine Idiosynkrasie gegen erwartbare Entwicklungen oder finalisierte Handlungslogiken entweder direkt auf die Schnitttechnik, die Szenen aneinander reiht, die weder Anfang noch Ende haben (und weder das eine noch das andere brauchen); oder auf die Wahl der Form - etwa die episodische von Liebes Tagebuch (1993); oder auf die Dramaturgie aus, wenn er in Das Zimmer meines Sohnes (2001) jedes Leidenspathos (anlässlich des Verlust des Sohnes) vermeidet und für die Hinterbliebenen am Ende sogar eine überraschend zukunftsoffene Perspektive findet. "Ich mag weder Einführungen noch abschließende Aufnahmen oder Bemerkungen" (NM). In Habemus Papam ist dieses Tändeln und Schweifen, Ansetzen und Abbrechen von Handlungssträngen allgegenwärtig und dass der Film darüber nicht auseinander fällt, ist zweifellos das Verdienst einer (nach Auskunft Morettis) monatelangen Montage - einer dissoziativen Montage, die mangels passender Anschlüsse dem Zuschauer die Herstellung von Kohärenz zumutet - aber mehr noch seiner Kunst, durch seine dramaturgischen Einfälle immer wieder aufs Neue zu überraschen.

Überraschend, plötzlich heißt im Italienischen all'improvviso. Was an Morettis Einfällen berührt, ist - neben dem Gespür für die fließenden Übergänge zwischen Tragik und Komik in ein und derselben Situation - vor allem die unerwartet neue Dimension, die sie den Figuren verleihen, die Aktivierung einer Möglichkeit, die man ihnen nicht zugetraut hätte und die auch der Zuschauer als Moment von Freiheit, als Erweiterung seiner Auffassung des Menschenmöglichen (im Guten und nicht - wie vom filmischen Tagesgeschäft beworben - im Bösen) erfährt. Für diesen Einbruch des Unvorhergesehenen steht in den romanischen Sprachen der Begriff der Improvisation. Der Ausdruck kommt von pro-videre, vor(her)sehen (christlich: sorgen für). Die Negation des Vorhersehbaren meint sowohl das unerwartete Ereignis als auch die Reaktion darauf, das improvisierte Handeln, von dem die Betroffenen selbst überrascht sind, weil sie keine Zeit haben, sich einen Plan zu überlegen.

Das Improvisieren ist demnach die laizistische Vorgehensweise par excellence, die weder auf ein (göttliches, menschliches) Drehbuch vertraut, weder Providenz oder prästabilierte Harmonie noch Befehlskette kennt und im Unvollkommenen, Fragmentarischen, das aus solchem Handeln resultiert, die Chance erkennt, Entwicklungen offen zu halten. Nicht zufällig haben die monotheistischen Religionen das Theater, die Brutstätte der Improvisation, von jeher angefeindet. Es grenzt daher schon an Häresie, dass Melville-Nonpapa im Theatermilieu Zuflucht findet, und mindestens unorthodox ist der (letztlich vergebliche) Versuch der Kardinäle, durch eine Sprengung der Tschechow-Premiere die einzig offizielle Akklamation des Papstes ausgerechnet in einem Theater zu erzwingen.

Inwieweit Moretti das Improvisieren am Set in den Fortgang der Handlung integriert, oder nicht vielmehr bereits im Drehbuch antizipiert und somit provoziert, beziehungsweise am Schneidetisch anschließend korrigiert, ist eine Frage, die nur er beantworten könnte. Tatsache ist, dass dieses Element seines Schaffens in Habemus Papam (wie schon zuvor in Das Zimmer meines Sohnes) sich von der Ebene der Produktion (und der ad hoc zu treffenden Entscheidungen) auf die der Dramaturgie verlagert und damit implizit thematischen Charakter angenommen hat. Das hängt damit zusammen, dass es in diesen beiden Filmen nicht wie sonst bei ihm ums Filmemachen selbst geht als der zeitgemäßen Kunst, das Private und das Politische aufeinander zu beziehen und die sozialen Spielräume für individuellen Eigensinn auszuloten. Zum Markenzeichen wurde seine tendenziell autarke Arbeitsweise, Drehbuch, Regie und Produktion selbst zu übernehmen und sich obendrein selbst in diesen Rollen als sein eigenes Sujet zu spielen (eine Überforderung und zugleich - für den Zuschauer - eine mise-en-âbime, die er nur noch mit dem Wahlkalifornier Henry Jaglom teilt).

Diese Hybris wurde ihm gern von der Kritik wahlweise als egoman oder narzisstisch angekreidet, doch er hat auch sie schon früh reflektiert. In Sogni d'oro (1981) spielt er einen Regisseur, der sich den Fragen des Publikums nach der Vorführung seines Films (den der Zuschauer nicht zu sehen kriegt) stellt und auf den Vorwurf, er habe nur die Welt gezeigt, die er persönlich kennt, blicke nicht über seinen beschränkten Horizont hinaus, antwortet: er könne nun mal nur für sich selbst sprechen. In seinem letzten Film (den letzten zumindest, den er als Regisseur und Darsteller drehen will, die aufwendige Produktion von Habemus Papam hat er schon delegiert) offenbart Moretti durch das Refus des Papstes die überaus humane, um nicht zu sagen revolutionäre Pointe dieser Haltung: Jeder kann, soll und darf nur sich selbst repräsentieren, jede Stellvertretung für andere ist schiere Anmaßung, historische Vorbilder gehören in den Giftschrank der Faszinationsgeschichte verbannt. Io sono un autarchico (1976) hieß sein erster Spielfilm: ein Titel, dessen Programm auktorialer Selbstgenügsamkeit jetzt, nach einem Dutzend Probeläufen in ebenso vielen Spielfilmen, den Status eines ethischen Imperativs beanspruchen darf.

Man muss nicht mit Morettis Gesamtwerk vertraut sein, um den Feinheiten der Komposition von Habemus Papam gerecht zu werden; es reicht, wie gesagt, genau hinzusehen: der Film endet keineswegs als Komödie, nicht einmal als Tragikomödie. Nachdem Melville NonPapa vor der Menge auf dem Petersplatz und dem versammelten Konklave seine Entscheidung bekräftigt und begründet hat, brechen dröhnend die apokalyptischen Klangkaskaden der Dies-Irae-Sequenz aus Arvo Pärts Miserere über das entsetzte Publikum herein, das Unversöhnte, Unerlöste dieser letzten Wendung wird mit Pauken und Trompeten (plus Glocken, Posaune und Engelschor), also mit gebührender Dramatik besiegelt. Aber was heißt das schon? Genaugenommen ging die Welt nur im Vatikan und dort wiederum nur für die Kardinäle unter, "draußen" geht das Leben weiter, als sei nichts geschehen, spätestens nämlich, wenn Piersantis abwiegelnder Soundtrack das Miserere (in dem übrigens das Gottesgericht auch nicht das letzte Wort behält) über dem Abspann ablöst. Die Lektionen dieses Films werden erst mit der Zeit ihre Wirkung entfalten.

Denn das ist das Raffinierte oder eben Listige dieses Films: bis zur letzten Einstellung tut er so, als ob er die Geschehnisse im Vatikan wohlwollend-neutral, gleichsam als Beobachter begleiten würde - wozu der fiktive Dokumentarismus solcher Szenen viel beiträgt -, um die Zuschauer am Ende mit lauter offenen Fragen nach Sinn und Unsinn des Ganzen zu entlassen. Eine "Vision", wie sie die Kritik neuerdings tagtäglich an ihren unzähligen "Meisterwerken" exhumiert, solch eine Vision hat Moretti ihnen nicht zu bieten, davor bewahrt ihn schon sein Humor. Allenfalls eine unplakatierte, gleichsam ex negativo: das Ferment für die allmählich heranreifende Einsicht, mehr noch das Gefühl, dass auch sie (die Zuschauer) dieses Theater, das katholisch-christliche und seine fossilen Botschaften gut entbehren können.

Bei Denys Arcand kommt Religion nicht vor (dort, wo man sie erwartet) und niemand vermisst sie; bei Moretti ist sie allgegenwärtig und jeder fragt sich, wozu? Beide Filme kritisieren nicht, sie zeigen "bloß", dass es anders geht, dass niemand herrschaftlich organisierten und dogmatisch zementierten Glauben braucht, und dass die Chance, endlich erwachsen zu werden, noch nie so groß war wie heute. Ecce Homo oder wie der Papst wurde, was er ist (ein Mensch), hätte Moretti seinen Film nennen können - doch der Papst ist nicht wichtig. Vielmehr scheint es an der Zeit, die Säkularisierung des Visionären um einen neuen Begriff des Pontifex zu bereichern: wer tatsächlich Brücken baut, Wege bahnt zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen den Fixierungen der Identität und den Potenzialen ihrer Verwandlung, zwischen seelischen Abgründen und befreienden Ausdrucksformen, zwischen dem profanen Alltag und existenziellen Ausnahmesituationen: das sind ausnahmslos Künstler, in erster Linie Filmemacher, ihnen allein sollte fortan dieses Prädikat gebühren. In seinem voraussichtlich letzten Film offenbart sich Nanni Moretti als der, der er immer schon war, frei nach Nietzsche: halb Satyr, halb Heiliger des italienischen Autorenfilms und als ungläubiger Philanthrop ein ganzer Humanist.

Daniele Dell'Agli

Postscriptum:

Nach alledem versteht sich: nicht hat Nanni Moretti die Chance vertan, skandalöse (und allgemein bekannte) Zustände in der katholischen Kirche anzuprangern, sondern die Filmkritik (nicht nur die deutsche) hat darin versagt, eine neue, souveräne Form der Auseinandersetzung mit einer obsoleten "Anthropotechnik" (Peter Sloterdijk) im Kino überhaupt wahrzunehmen, eine, die keiner derben Stimulantia mehr - weder der surrealistischen Spielereien Bunuels oder Fellinis, noch der Horror-Folklore des Satanismus - bedarf. So unbeachtet die Filmkritik die christlich-fundamentalistischen Konnotationen von Malicks Tree of Life passieren ließ (siehe hierzu die glänzende Studie von Christina Striewski im Perlentaucher), so gründlich ignorierte sie die subversiven Listen von Habemus Papam. Die Komplementarität dieser doppelten Religionsblindheit sollte zu denken geben.