Essay

Mose, der Politiker

Die Sinaierzählung als ein Kapitel politischer Theologie. Von Rolf Schieder
09.04.2013. Die wirkliche Sensation der Sinaierzählung besteht in der Transformation eines Königskults in eine Volksreligion, im Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk - ohne Vermittlung durch einen König. Nach der von Jan Assmann lancierten Debatte wäre eine erinnerungsgeschichtliche Rekonstruktion der Mosefigur als internationales Projekt anzuregen.
Man kann Jan Assmann nicht genug dafür danken, dass er diese Debatte angeregt, mögliche Missverständnisse seiner erinnerungsgeschichtlichen Rekonstruktion der Figur des Mose ausgeräumt und in die Irre führenden Interpretationen zurückgewiesen hat. Für Antijudaismus, Polytheismusromantik und billige Monotheismuskritik ist er als Gewährsmann nicht zu haben. In aller Deutlichkeit betont er in seinem ersten Perlentaucher-Essay, "dass mir nichts ferner liegt als den Monotheismus zu denunzieren und den Kosmotheismus zu propagieren."(9) In seinem Buch "Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung" weist er auf die Gefahren eines eindimensionalen Monotheismus ebenso hin wie auf die eines eindimensionalen Kosmotheismus: "Genauso problematisch aber wie ein eindimensionaler Monotheismus, der die eigene Wahrheit nicht nur absolut, sondern auch universal setzt und nicht nur Gott, sondern auch Religion nur im Singular denken kann, wäre ein eindimensionaler Monismus oder Kosmotheismus, der jede personhafte Gottesvorstellung als Idolatrie verwirft."[1] Aufklärungsfundamentalismus ist keine angemessene Antwort auf religiösen Fundamentalismus. Die Antwort ist Differenzierungskompetenz auch in religiösen Fragen, mithin die Verbesserung religiöser Bildung.

Mit der Figur einer Religion des "Sowohl-als-auch" zielt Jan Assmann nicht auf eine positive Religionen verachtende, elitäre Universalreligion. "Es geht vielmehr darum, sowohl die eigene Religion zu praktizieren, als auch die anderen Religionen in ihrem je eigenen Wahrheitsbezug anzuerkennen und zu respektieren." (10) Assmann identifiziert in allen Weltreligionen die Doppelstruktur einer "universalen, natürlichen Menschenreligion" und einer bestimmten, historisch gewachsenen positiven Religion. "Da es Religion nun einmal nur im Plural gibt und geben wird, ist diese Form des 'Sowohl-als-auch' - sowohl Treue zum Eigenen als auch Respekt vor dem Anderen - eine vernünftige Lösung." (10) Religiöse Bildung hat ihr Ziel erreicht, wenn Treue zum Eigenen und Respekt vor dem Anderen sich nicht ausschließen, sondern einander bedingen.

Plädoyer für eine historisch-kritische Erinnerungsgeschichte


Hilfreich sind auch Jan Assmanns Hinweise zur gedächtnisgeschichtlichen Methode, die er gemeinsam mit Aleida Assmann entwickelt hat. Die Gedächtnisgeschichte frage nicht danach, was sich wann tatsächlich zugetragen hat. Sie frage vielmehr danach, wer habe wie und warum die Erinnerung an ein Narrativ wachgehalten. Dabei wird über eine schlichte rezeptionsgeschichtliche Fragestellung hinaus die Dynamik des Vergessens und des Wiedererinnerns, der Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten methodisch einbezogen. Es geht dann also bei "Mose, dem Ägypter" weder um die Rekonstruktion seiner Biografie noch um die historisch-kritische Rekonstruktion der Exoduserzählung als literarische Form. Es geht vielmehr darum, was die Leser und Hörer aus Mose gemacht haben. Dabei interessiert sich Jan Assmann vor allem für die Moserezeption in der Zeit der Aufklärung. Denn "dieser zunächst eher marginale Aspekt eines ägyptischen oder ägyptisierten Mose gewann in der Aufklärung eine enorme Bedeutung und gipfelte in der These, dass der biblische Monotheismus aus Ägypten stamme." (5) In "Mose, dem Ägypter" begegnen wir also nicht dem biblischen Mose, sondern einer Symbolfigur, die für die moderne westliche Welt eine enorme Strahlkraft besessen hat und noch besitzt. Mose ist aus der religionsphilosophischen, vor allem aber der politischen Geschichte der westlichen Welt nicht wegzudenken. Luzide analysiert Jan Assmann in "Religio duplex" den Monotheismusdiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts und die Rolle, die Mose als Ägypter darin spielt. Seine These lautet, dass mit der Erfindung eines ägyptischen Mose zwischen einem alle Konfessionen und Kulturen umfassenden Glauben an den einen Gott und einem partikularen Glauben, der auf bestimmten konfessionellen Traditionen beruht, einerseits unterschieden, zugleich aber die Synthese beider Glaubensweisen empfohlen wurde. Mose als Ägypter wurde zum Inbegriff eines aufgeklärten Monotheismus, der den ägyptischen Kosmotheismus und den biblischen Bundesgedanken gleichermaßen schätzte. Ich selbst möchte darüber hinaus daran erinnern, dass die Hochschätzung des Monotheismus im 17. Jahrhundert mit der Entstehung der Nationalstaaten koinzidiert - ein religionspolitischer Zusammenhang, der sich analog auch für die Entstehung des Monotheismus als Moment der politischen Machtkonzentration im 7. Jh. v. Chr. zeigen lässt.

Geschichte, so erinnert uns die Gedächtnisgeschichte, ist immer "gemachte Geschichte". Die Inszenierung von Geschichte gehört heute zu den wichtigsten kollektiven Repräsentationsmechanismen. Erinnerung und Gedächtnis dienen weder der reinen Information, noch der bloßen Unterhaltung, sie wirken vielmehr als Verpflichtungsdiskurse. Die Erinnerung der Shoah in Deutschland ist ein sprechendes Beispiel. Die Verantwortung der Gedächtnisgeschichtler besteht dann freilich darin, sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, dass sie mit der Rekonstruktion von Erinnerungsgeschichte selbst an einem Faden weiterknüpfen, selbst bestimmte Diskurse verstärken und selbst bestimmte Interessen damit verbinden. Die Gefahr der Instrumentalisierung der Erinnerungsgeschichte hat Michel Foucault zur Forderung bewogen, "aus der Historie ein Gegen-Gedächtnis zu machen".[2] "Der Französischen Revolution hat man die römische Toga umgehängt, der Romantik die Waffenrüstung des Ritters, der Wagnerepoche das Schwert des germanischen Helden. All das ist nur Flitterwerk, dessen Unwirklichkeit unsere eigene Unwirklichkeit durchscheinen lässt. … Der gute Historiker, der Genealoge weiß, was er von dieser Maskerade zu halten hat. … Anstatt unsere blasse Individualität mit den starken Identitäten der Vergangenheit zu identifizieren, geht es darum, uns in so vielen wiedererstandenen Identitäten zu entwirklichen."[3]

Ihr kritisches Potential spielt die Erinnerungsgeschichte dann ganz aus, wenn sich noch einmal kritisch zur eigenen Rekonstruktion zu verhalten vermag. Die klassische historisch-kritische Methode kann ihr dabei insofern wertvolle Dienste leisten, als diese das erinnerte Material als Ergebnis eines komplexen Überlieferungsprozesses beschreibt. Die Differenz zwischen den Erinnerungsmotiven und dem erinnerten Gegenstand kann dann besonders plastisch herausgearbeitet werden.

In gebotener Kürze sei der Befund der historisch-kritischen Exegese zur biblischen Mosefigur noch einmal zusammengefasst. Über den historischen Mose gibt es keine verlässlichen Daten. Die ältesten Erzählungen von Israel in Ägypten und des Auszugs kannten Mose noch nicht. Auch war seine Person mit den frühen Erzählsträngen der Exodus-, Wüstenwanderungs-, und Sinaitradition nur locker verknüpft. Als Religionsstifter kommt er schon deshalb nicht in Frage, weil die Entwicklung der altisraelitischen Religion von den Vorgaben der altorientalischen Religionsgeschichte abhängig war. Der Alttestamentler Eckart Otto nimmt an, dass im 7. Jahrhundert eine Mose-Exodus-Tradition entstand, die zum einen der Kritik der Herrschaftsansprüche des assyrischen Königtums, aber auch der Kritik des israelitischen Königtums diente.[4] Dem Bund, den der assyrische König mit dem Gott Assur schloss, wurde der Sinaibund gegenübergestellt, für den nun gerade kein König mehr notwendig war. Der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus war auf engste mit der politischen Machtkonzentration und der Stärkung der Macht der Herrscher verknüpft, die für die Repräsentation der Einheit des Reiches einen Gott an ihrer Spitze benötigten. Auch JHWHs Karriere begann als eine Gottheit, die die Königreiche Juda und Israel religiös repräsentierte. Kult- und Machtkonzentration bedingten einander.

Nach den Katastrophen von 722 und 587 lautete aber die drängende Frage: Gibt es einen Ort für JHWH jenseits des Königtums? Mit der Bejahung dieser Frage war die theologische Idee eines idealen "Gottesvolk Israel" geboren.[5] Dieses Volk brauchte künftig weder einen König, noch einen Palast, noch ein Reich. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk kompensierte den Verlust des Königtums nicht nur, er wies dem Volk vielmehr eine Rolle zu, die vormals nur dem König vorbehalten war. "Der Entmachtung des Königs aber entspricht eine Ermächtigung des Volkes. (…) Was zuvor nur dem König von seinen Hofpropheten zugesprochen wurde - Heil in den politischen Geschäften - wird nun auf das Volk als ganzes ausgedehnt. Ein in der damaligen Welt analogieloser Vorgang."[6]

Die wirkliche Sensation der Sinaierzählung besteht also in der Transformation eines vormaligen Königskults in eine Volksreligion, in deren Zentrum ein Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk - ohne Vermittlung durch einen Herrscher - steht. Im 5. Jahrhundert v. Chr. erhält die Exoduserzählung als Ursprungsgeschichte von Israel als Gottesvolk ihre endgültige Gestalt. Die Moseerzählung ist eine "gewaltige Rückprojektion eines Idealbildes für das jüdische Gemeinwesen nach dem Exil".[7] Die Wirkung der nachexilischen Exoduserzähung auf die politische Ideengeschichte der westlichen Welt ist schwerlich zu überschätzen - ein Vorgang übrigens, den man den Juden schwerlich zum Vorwurf machen kann.

Religio duplex
oder theologia tripertita?

Jan Assmann stellt die von ihm so genannte mosaische Gegenreligion in einen religionsgeschichtlichen Kontext und versteht diese als erbarmungslosen Kampf gegen die Anhänger eines Kosmotheismus. Der bibelexegetische Befund legt darüber hinaus die Einordnung in einen politikgeschichtlichen Kontext nahe. Die Sinaiperikope ist ein machtvoller Gegenentwurf zum altorientalischen Gottkönigtum. Aber auch für die politische Theorie der frühen Neuzeit bestand die Faszination der Mosefigur darin, dass er nicht als König, sondern als Staatsgründer und Gesetzgeber auftrat.

Die Kategorie, mit deren Hilfe Jan Assmann die Dynamik der Erinnerung an Mose den Ägypter zu erklären sucht, ist die einer religio duplex. Was ist damit gemeint? Den Begriff der "religio duplex" übernimmt Assmann von dem Philosophen Theodor Ludwig Lau (1670-1740), der damit auf die Doppelstruktur der Religion als einer Religion der Vernunft und einer Religion der Offenbarung aufmerksam machen wollte. Assmann kann in seinem Buch zeigen, dass die Doppelstruktur einer allgemeinen, vernünftigen, natürlichen und einer besonderen, geglaubten, historischen sich in fast allen Religionen finden lässt. Moses Mendelsohn etwa unterschied zwischen einer allgemeinen Menschheitsreligion und einem konfessionellen Glauben. Assmann macht auf die Unterscheidung zwischen Recht und Kult in der ägyptischen Religion aufmerksam. Aber auch in der Hebräischen Bibel ist diese Differenz zu finden: Nicht von einer Gottebenbildlichkeit der Juden ist in Genesis 1 die Rede, sondern von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen. Und der Bund Noahs mit Gott gilt allen Menschen, nicht nur seinem auserwählten Volk. Die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Dimension der Religion kann auch die Form der Differenz zwischen Esoterischem und Exoterischem, zwischen Mysterienkult und Volksreligion annehmen.

Man kann Assmanns "religio duplex" aber auch in den Debatten der deutschen Aufklärungstheologie identifizieren. Johann Salomo Semler (1725-1791) etwa unterschied zwischen einer privaten Religion und einer öffentlichen, wobei der privaten insofern ein Vorrang zukam, als diese die vom Individuum selbst verantwortete war, während die öffentliche Religion sich möglicherweise nur kirchlichen oder politischen Konventionen beugte. Dementsprechend setzt er sich für Gewissens- und Bekenntnisfreiheit ein und kritisierte die Gleichsetzung von Offenbarung und Heiliger Schrift, die für ihn selbstverständlich ein menschliches literarisches Dokument war. Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834) definiert in seiner Religionsschrift " Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799) Religion als "Anschauung und Gefühl". "Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen." Warum gibt es dann aber so viele verschiedene Religionen? Schleiermachers Antwort klingt einleuchtend: "Dass ich's kurz sage: ein Individuum der Religion … kann nicht anders zustande gebracht werden als dadurch, dass irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür … zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und alles darin auf sie bezogen wird." Insofern ist für Schleiermacher jede positive Religion "in Beziehung auf das Ganze eine Häresis - ein Wort, das wieder zu Ehren gebracht werden sollte -, weil etwas höchst Willkürliches die Ursache ihrer Entstehung ist." [8] Das Allgemeine der Religion kann nach Schleiermacher nur über die bewusste Entscheidung für eine partikulare Perspektive in den Blick kommen. Wer aus Angst vor der eigenen Endlichkeit und Partikularität sich für gar keine Perspektive auf Gott und die Welt entscheidet, bewahrt sich keineswegs eine höhere Allgemeinheit, sondern bleibt zeitlebens im Ungefähren. Die Dialektik der "religio duplex" lässt sich also gerade nicht nach der Seite eines Allgemeinen hin auflösen, demgegenüber das Besondere als defizitär zu gelten hat. Vielmehr kommt es darauf an, im Durchgang durch beide Perspektiven fundamentalistische Positionen zu überwinden.

Gerne stimme ich also Jan Assmann bei der Identifikation einer religio duplex zu. Ich möchte diese doppelte Struktur aber um eine Dimension ergänzen, die bei ihm zwar als religio triplex erwähnt wird, die er aber als ein zurückzuweisendes Anderes wahrnimmt: ich meine die zivilreligiöse Dimension in allen Religionen. Das Konzept der Zivilreligion ist erstmals von Marcus Terentius Varro (116-27 v.Chr.) entwickelt worden. Varro unterscheidet drei Arten von Theologie, die theologia mythica, die theologia civilis und die theologia naturalis.

Die Produzenten der mythischen Theologie sind nach Varro die Dichter und die Künstler. Sie erfinden Göttersagen, Götterdramen und Götterschicksale; sie fertigen Statuen, Götterbilder und religiöse Schmuckstücke an. Abnehmer dieser Theologie ist das einfache Volk. Sei es zu seinem Trost, sei es zu seiner religiösen Unterhaltung, sei es im Theater oder sei es beim privaten Ahnenkult: die mythischen Theologen bedienen die Interessen des Volkes an Religion - nicht besonders anspruchsvoll, aber das Leben erträglicher machend.

Auch die Ziviltheologie spricht das Volk an, nun aber nicht mehr als eine Ansammlung von Familien und Privatpersonen, die nach individuellem Trost und privater Anbetung suchen. Die Ziviltheologie zielt auf das Volk als Staatsvolk. Im zivilreligiösen Kult wird die Bevölkerung an ihre Pflichten als Staatsbürger erinnert - bis hin zur Pflicht, ihr Leben für den Staat zu opfern. Die Pflege der Zivilreligion obliegt dem Kultpersonal an den zivilreligiös funktionalisierten Heiligtümern. In den zivilreligiösen Begehungen inszeniert und repräsentiert das Gemeinwesen sich selbst, verkündet öffentlich seine Vision von sich selbst und fordert Opfer vom Volk. Höchster Repräsentant der Zivilreligion ist für Varro der göttliche Herrscher.

Die natürliche Theologie wird von den Philosophen gepflegt. Sie hat das Ziel, die Natur der Götter zu ergründen. "Ob sie - mit Heraklit - aus Feuer sind, oder - mit Pythagoras - aus Zahlen, oder - mit Epikur - aus Atomen, und noch anderes, was die Ohren leichter innerhalb der Schulwände ertragen können als draußen auf dem Marktplatz."[9] Der Ort, an dem diese Theologie als Religionshermeneutik gepflegt wird, ist die Akademie. Augustinus, der uns die Religionstheorie Varros überliefert hat, ordnete die christliche Theologie der natürlichen Theologie zu. Denn das Interesse des Christentums sei es weder, die Pflege selbst gemachter Götter zu fördern, noch sich am Kaiserkult zu beteiligen. Theologie sei dezidiert ein Nachdenken über die Natur Gottes - und als solche alles Kultische transzendierend. Die vernünftige Theologie des Christentums müsse als ein Entmythologisierungsprogramm gegen alle volks- und zivilreligiösen Kulte verstanden werden.

Trotz dieser "Augustinischen Unterscheidung" zwischen einem wahren religionsphilosophischen Christentum und den falschen, ja schändlichen Volks- und Zivilreligionen hat es das Christentum nicht vermocht, diese auszumerzen. Ganz im Gegenteil: beide erfreuen sich bis heute regen Interesses. Nach dem Gewinn des Halbfinales der Fußballeuropameisterschaft 2008 rief der linke Außenverteidiger der deutschen Nationalmannschaft Philipp Lahm verschwitzt und begeistert ins Mikrofon: "Glaube ist alles!" Was in deutschen Kirchen undenkbar wäre, gelingt im Fußballstadion: Dort wird leibhaftig gebangt und gebetet, inbrünstig gesungen und geglaubt. Willig gibt man sich kollektiven Körperbewegungen und gemeinsamen Gesängen hin - Ekstase wird gesucht und gefunden. "Schalke ist meine Religion!" heißt es auf den blau-weißen Stolen, die die Fans anlässlich ihrer kultischen Begehungen am Samstagnachmittag tragen. Die Volksreligion Fußball ist Opium für's Volk. George Batailles Definition der Religion als Transgression, als ekstatische Überschreitung alltäglicher Bewusstseinszustände, trifft auf den bekennenden Fan zu.

Kann man sich zur Volksreligion im Modus der Wahl verhalten, so zielen Zivilreligionen darauf, die Menschen eines Gemeinwesens umfassend in die Pflicht zu nehmen. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der den varronischen Begriff im 8. Kapitel des IV. Buches seines berühmten Werkes "Du contrat social ou principes du droit politique" verwendet ("De la religion civile"), ging davon aus, dass der natürliche Mensch eine Wiedergeburt durchmachen müsse, die ihn erst befähige, Bürger zu sein. Die Anstalt, die aus Menschen Bürger macht, ist die öffentliche Schule - und so sind bis heute in Frankreich religiöse Symbole, die mit der öffentlichen religion civile konkurrieren, an öffentlichen Schulen unerwünscht. Rousseau hielt eine Zivilreligion für notwendig, weil die christliche Religion die religiöse Bindung der Bürger an den Staat eher behindere als fördere. So fühlten sich katholische Bürger in einem ständigen Loyalitätskonflikt zwischen Papst und politischem Gemeinwesen, und Protestanten glaubten, ein Bürgerrecht im Himmel (Phil. 3,20) zu haben, mithin über eine doppelte Staatsbürgerschaft zu verfügen. Rousseau gestand zwar jedem zu, seine eigene, private Religion zu pflegen. Er hielt aber die Bürger unter Androhung von Exil oder Todesstrafe für verpflichtet, sich zu zentralen zivilreligiösen Dogmen zu bekennen. Diese waren für ihn der Glaube an die Existenz eines mächtigen, klugen, wohltätigen Gottes, an ein ewiges Leben, an die Bestrafung der Bösen und die Belohnung der Guten, sowie an die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages.

Während Rousseau noch davon ausging, dass der Staat das Recht auf die Durchsetzung eines zivilreligiösen Bekenntnisses habe, muss unter den Bedingungen der Religionsfreiheit, die Zivilreligionsfreiheit einschließt, nach anderen Wegen gesucht werden, die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Gemeinwesen auch aus religiösen Gründen zu gewährleisten. Den USA ist eine beeindruckende Lösung des Zivilreligionsproblems gelungen. Einerseits erklärt sich der Staat ausdrücklich für die Religions- und Weltanschauungskommunikation unzuständig, gleichzeitig aber zeigt er sich für einen religiös-weltanschaulichen Auftrag in Abhängigkeit von den Ergebnissen der Kommunikation auf dem religiös-weltanschaulichen Feld offen. Die gewährte Religionsfreiheit danken die amerikanischen Religionsgemeinschaften durch ihr Engagement für den Schutz nicht nur der religiösen, sondern auch der politischen Freiheiten des Landes. Der evangelikale Martin Luther King gilt zu Recht als Symbol und Beispiel einer Zivilreligion, in der Freiheit und Religion - wie Alexis de Tocqueville schon früh feststellte - einander stützten.

Das Licht des Schattens vom Sinai


Meine über Jan Assmanns erinnerungsgeschichtliche Rekonstruktion des Figur des Mose hinausgehende These lautet also: Die Wirkungsgeschichte des Mose ist wesentlich über seine zivilreligiöse Funktion vermittelt. Die Ereignisse am Sinai wurden - exegetisch durchaus nicht unzutreffend - als ein Kapitel politischer Theologie gelesen. Während Jan Assmann die Erinnerung an Mose als einen Ägypter im neuzeitlichen Bedürfnis verankert sieht, neben den positiven Religionen die Erinnerung an eine alle verbindende Menschheitsreligion zu pflegen, so füge ich dem die Erinnerung an Mose als Vorbild für die politische Theorie von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart hinzu. Dabei geht es nicht nur um die Figur des Mose als politischem Führer, sondern auch um die Idee eines covenants, eines Bundes, eines Gesellschaftvertrages. Wenn denn "we, the people", wie es in der amerikanischen Menschenrechtserklärung von 1776 heißt, sich von ihrem Schöpfer mit dem Recht ausgestattet empfinden, ihre politischen Angelegenheiten autonom zu ordnen, dann ist man dankbar für "best-practice"-Beispiele. Die Exodusgeschichte wurde als ein solches empfunden.

Der Bundesgedanke in Thomas Hobbes' Leviathan


Ein zentrales Dokument für die Bedeutung des Bundesgedankens in der frühen Neuzeit ist Thomas Hobbes "Leviathan". Sein "Leviathan, or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil" aus dem Jahre 1651 war einerseits ein Frontalangriff auf die katholische Kirche, die als "Reich der Finsternis" bezeichnet wird, er ist andererseits aber ein zivilreligiöse Dokument, das die Kenntnis der Gesetze des "natürlichen Reiches Gottes" zur Bürgerpflicht erklärt: "Zur völligen Kenntnis der bürgerlichen Pflichten fehlt nur noch, dass man die göttlichen Gesetze kennt. Denn ohne diese Kenntnis weiß niemand, ob ein an ihn gerichteter Befehl der bürgerlichen Gewalt dem göttlichen Gesetz widerspricht oder nicht, und so verstoßen wir entweder durch zu großen bürgerlichen Gehorsam gegen die göttliche Majestät, oder übertreten aus Furcht, gegen Gott zu verstoßen, die Befehle des Staates."[10]

Wie aber ist die größtmögliche Übereinstimmung zwischen dem Reich Gottes und dem Reich des Leviathan zu gewährleisten? Hobbes nimmt - ganz im Sinne einer religio duplex - zwei Operationen vor. Zum einen unterscheidet er zwischen einem natürlichen Reich Gottes und einem prophetischen Reich Gottes. Im natürlichen Reich Gottes herrschen allein die Naturgesetze und die Gesetze der Vernunft. Diese hat Gott der Schöpfer den Menschen mitgegeben und alle Menschen sind befähigt, sie einzuhalten. Es gibt aber noch ein zweites Reich Gottes. Hobbes nennt es das "Reich Gottes kraft Bundes".[11] Dieses Reich Gottes kam mit dem Bundesschluss am Sinai in die Welt. "In diesem Reich wählte das Volk Gott aufgrund eines mit ihm geschlossenen Vertrages zum König, und zwar auf sein Versprechen hin, ihnen das Land Kanaan zu geben."[12] Im englischen Original spricht Hobbes übrigens durchgängig von "covenant" - auch wenn von der Erschaffung des Leviathan die Rede ist. Der Begriff "covenant" hat einen theologischen Oberton und sollte nicht mit "Vertrag", sondern mit "Bund" übersetzt werden.[13]

Die Beziehung vom Alten zum Neuen Bund bis hin zur Idee eines kommenden Reich Gottes konzipiert Hobbes so: "Das Gottesreich ist ein bürgerliches Königreich, das zuerst in der Verpflichtung des Volks von Israel gegen jene Gesetze bestand, die ihnen Mose vom Berg Sinai bringen und die der amtierende Hohepriester später dem Volke vor den beiden Cherubim im Allerheiligsten verkünden sollte. Dieses Königreich sollte, nachdem es bei der Wahl Sauls verworfen worden war, nach Weissagung der Propheten durch Christus erneuert werden und um seine Erneuerung beten wir täglich, wenn wir im Vaterunser sagen: 'Dein Reich komme.'"[14]

Die Heilsgeschichte stellt sich für Hobbes also folgendermaßen dar: Alle Menschen sind Glieder eines natürlichen Reiches Gottes, die dort herrschenden Gesetze sind die Naturgesetze und die menschliche Vernunft. Dieses Vermögen reicht aus, um zur Vermeidung des Krieges aller gegen alle einen gemeinsamen Bund zu schließen. Dieser Bund kommt so zustande, dass jeder mit jedem in Folgendem übereinstimmt: "Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst."[15] Dieser "covenant" ist die Geburtsstunde des Leviathan, "jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken".[16] Hobbes "Leviathan" blieb reines Konstrukt. Aus religionspolitischer Sicht ist das zu begrüßen. Sein katechontischer Leviathan wurde von der Geschichte schlicht überholt. Was sich aber durchgesetzt hat, ist die Idee des "covenant" - dies allerdings auf der anderen Seite des Atlantiks.

Die USA als "God's New Israel"

Im Jahre 1630 wurde vor der Küste von Massachusetts der sogenannte "Arabella Covenant" geschlossen. Dieser Bund zielte nicht auf die Erschaffung des künstlichen Körpers eines sterblichen Leviathan aus Angst, er zielte auf die Bildung des "body of Christ", des Leibes Christi, der von politischer Liebe, der Agape, lebt. Er wurde noch an Bord der "Arabella" von John Winthrop verfasst, dem späteren Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, der ersten von England unabhängigen Kolonie auf amerikanischem Boden. Unter anderem heißt es dort: "Thus stands the cause between God and us. We are entered into Covenant with him for this work. (…) We shall find that the God of Israel is among us. (…) Consider that we shall be as a City upon a Hill, the eyes of all people are upon us. (…) Therefore let us choose life that we and our seed may live by obeying His voice and cleaving to Him, for He is our life and our prosperity."

Anders als Hobbes scheut sich Winthrop nicht, unmittelbar und undialektisch an den Sinaibund anzuknüpfen. Die Exodus-Metaphorik drängte sich ja auch geradezu auf: Amerika war das gelobte Land, das neue Israel. Europa aber war Ägypten, das Land der Unfreiheit und der Unterdrückung. Der Exodus begann mit der Überfahrt über den Atlantik, die mit dem Zug durch das Rote Meer verglichen wurde. In der Wildnis Amerikas angekommen, erkannte man, dass dies noch nicht das Land war, in dem Milch und Honig floss. Dort traf man auf Gefahren, die man aus dem Zug des Volkes Israel durch die Wüste durchaus kannte. Und es war ein neuer Bundesschluss fällig - bewusst zitiert Winthrop am Ende seines "Model of Christian Charity" Mose. Kein amerikanischer Präsident hat es versäumt, an dieses zum ersten Mal von John Winthrop formulierte zivilreligiöse Bewusstsein zu appellieren. Jenseits aller Konfessionsgrenzen eint alle Amerikaner der Glaube, als von Gott auserwählte Nation eine besondere Mission in dieser Welt zu haben.

Die Erinnerung an den Exodus ist aus der politischen Ideengeschichte der USA schlechterdings nicht wegzudenken. Unterdrückung, Auszug, Wüstenerfahrung, Bundesschluss, gelobtes Land - jedes Kind kennt die Geschichte. Es ist die älteste politische Befreiungsgeschichte - und zugleich die am lebhaftesten erinnerte. Der Exodus ist keine Bildungsreise, auch keine Odyssee, denn eine Rückkehr ist nicht vorgesehen. Als sich das Volk aufmachte, wusste es nicht, wo es am Ende ankommen würde. Nach vierzig Jahren Wüstenwanderung erreicht eine neue Generation das gelobte Land, nicht nur Mose starb also in der Wüste. Von keiner ewigen Wiederkehr, keiner harmonischen Kosmotheologie, sondern vom Fortschritt mit all seiner Mühsal wird berichtet. Die Exoduserzählung unterscheidet sich von einer politischen Apokalyptik dadurch, dass das Volk nicht auf das Kommen eines himmlischen Messias wartete. Auch einen Satan kennt die Exoduserzählung nicht. Die Israeliten mussten sich selbst in Bewegung setzen, mit einem fehlbaren Mann an ihrer Spitze und mit dem Risiko, sich in die falsche Richtung aufgemacht zu haben. Oft genug murrte das Volk und sehnte sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens.

Deshalb lobt der politischen Philosoph Michael Walzer nachdrücklich die Vorzüge einer "Exoduspolitik".[17] Der Exodus beginne mit einem konkreten Übel und ende (oder ende nie ganz) mit einem nur teilweisen Erfolg. Es gebe keinen Endkampf, es gebe nur eine Serie von Reformen, die einen langen Atem brauchen. Das Volk im Buch Exodus wird als ein zunächst furchtsames, dann murrendes, dann rückkehrwilliges, schließlich einen Bund mit Gott schließendes, diesen Bund immer wieder brechendes Volk beschrieben. Mit eben diesem Volk müssen die politischen Führer und Gott selbst auskommen - es gibt kein anderes. Das Volk aber ist bei allen seinen Schwächen der Träger der Verheißung und das Volk bestimmt das Tempo der notwendigen Transformationen.

Martin Luther King und Barack Obama als moderne Mosesfiguren

Der schwarze Baptistenprediger Dr. Martin Luther King Jr. wurde am 4. April 1968 ermordet. Am Abend vor seinem Tod hielt er eine Ansprache in der Meason Temple Church in Memphis, Tennessee, die unter dem Titel I've been to the mountaintop bekannt geworden ist. Am Ende seiner Ansprache sagte er: "Wie jeder andere, würde auch ich gern ein langes Leben führen. Ein langes Leben hat seinen Wert. Doch das beunruhigt mich im Moment nicht. Ich möchte einfach Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinüber geschaut und ich habe das gelobte Land gesehen. Ich werde vielleicht nicht mit euch dorthin gelangen. Aber ich möchte, dass ihr heute Abend wisst, dass wir, als ein Volk, ins gelobte Land einziehen werden. Und daher bin ich so glücklich heute Abend. Ich mache mir um nichts Sorgen. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen."

Der Friedensnobelpreisträger und Bürgerrechtler identifiziert sich in seiner letzten Rede mit Mose - und er geht selbstverständlich davon aus, dass die Hörerinnen und Hörer seine Anspielung verstehen. Vom Berg Nebo aus blickte Mose in das Gelobte Land und starb, so erzählt es die Hebräische Bibel. Anders als Martin Luther King wurde Mose nicht ermordet - wenn das Murren des Volkes in der Wüste auch deutlich vernehmbar war. King nutzt die biblische Metaphorik zum eindringlichen Appell: über den Tod hinaus wird der Weg in das Gelobte Land der Freiheit und der Gerechtigkeit, des Endes des Rassismus und der Diskriminierung weiter gegangen werden. Und dieser Weg wird erst zu Ende sein, wenn der Traum Wirklichkeit geworden ist. "Nein, nein, wir sind nicht zufrieden und werden nicht zufrieden sein, bis Gerechtigkeit herabströmt wie Wasser und Rechtschaffenheit wie ein mächtiger Strom", heißt es in seiner berühmten Ansprache am 23. August 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington, D.C.

Vierzig Jahre nach der Ermordung des Bürgerrechtlers King wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika mit Barack Obama ein Afroamerikaner zum Präsidenten gewählt. Die deutschen Medien sprachen angesichts der weltweiten Begeisterung davon, dass ihm geradezu messianische Erwartungen entgegenschlügen. Aber Obama stilisierte sich nicht als apokalyptischer Messias, sondern - ganz traditionell - als eine Mosefigur, die den Bund erneuert und das Volk auf seinem Weg in eine verheißene Zukunft führt. Die Inaugurationsfeierlichkeiten für amerikanische Präsidenten sind in zivilreligiöser Perspektive Bundeserneuerungsfeiern. Obama stellte in seinen beiden Inaugurationsansprachen den Gedanken des Unterwegsseins in den Mittelpunkt. Im gelobten Land sei man noch nicht angekommen, es müsse weiter daran gearbeitet werden. Bei seiner Second Inaugural Address im Jahr 2013 hörte sich das auszugsweise so an: Er zitiert zu Beginn die Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776. Der Verheißung des Textes stellt er die Pflicht gegenüber, diese durch eigene Anstrengungen zu sichern: "While freedom is a gift from God, it must be secured by His people here on earth." Obama lässt an dieser Stelle offen, wer "His people" ist - aber der an dieser Stelle einsetzende Applaus von Hundertausenden lässt vermuten, dass sich die hier Anwesenden zu "Seinem Volk" zählen. Der neue Präsident erinnert an die Zeiten des Bürgerkrieges: "We made ourselves anew, and vowed to move on together." Gerade die Fähigkeit, die Herausforderungen "together" zu meistern, zeichne diese Nation aus - bis heute. "We, the people, believe that our obligations are not just to ourselves, but to all posterity." Erstaunlich konkret benennt Obama die globalen und innenpolitischen Herausforderungen. Er erinnert an die Pflicht, das Erbe der Väter weiterzugeben. "For our journey is not complete until our wives, our mothers and our daughters can earn a living equal to their efforts. Our journey is not complete until our gay brothers and sisters are treated like anyone else under the law. … Our journey is not complete until all our children from the streets of Detroit to the hills of Appalachia to the quiet lanes of Newtown know that they are cared for and cherished and always safe from harm." Dabei müsse man sich stets über Folgendes im Klaren sein: "We must act knowing that our work will be imperfect." Der Eid, den er vor Gott und Volk abgelegt habe, unterscheide sich nur unwesentlich von der "Pledge of Allegiance", die allen US-Bürgerinnen und Bürgern so vertraut sei. "They are the words of citizens and they represent our greatest hopes." Alle stünden in der Pflicht zu handeln: "Let us, each of us, embrace with solemn duty and awesome joy what is our lasting birthright." Mit dem Segenswunsch "God bless you and may He forever bless these United States of America" schließt die zivilreligiöse Predigt.

Zivilreligion ist zweifellos die gefährlichste und problematischste Ausprägung von Religion, weil stets die politische Instrumentalisierung der Religion droht. Die politische Geschichte legt nahe, dass wir weiterhin mit ihrem Vorhandensein werden rechnen müssen. Zivilreligionskritik ist und bleibt also notwendig. Sie wird die Stärken und die Schwächen dieser Religionsform aufzeigen müssen - und Menschen daran erinnern, dass sie als Deutsche, Amerikaner, Chinesen, Koreaner immer auch Teil einer Menschheitsfamilie sind, die die Rechte anderer zu achten verpflichtet sind. Ob nun Mose im Affekt ohne jedes Gerichtsverfahren 3000 Mann ermorden lässt, wie wir aus Exodus 32, 29-32 erfahren, oder ob in Guantanamo die Regierenden der USA das im eigenen Land geltende Recht mit Füßen treten: eine zivilreligiöse Legitimation für Menschenrechtsverletzungen müssen gerade religiöse Menschen verweigern.

Selbstsingularisierung?
Einige Bemerkungen zu Peter Sloterdijks Definition des Judentums als "Programmvolk"

Tuvia Tenenbom hat in seinem 2012 erschienen Buch "Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise" den Deutschen eine Obsession mit dem Judentum bescheinigt. Seinen Plan, sich eine Wohnung in Berlin zu kaufen, hat er nach seiner Reise durch Deutschland wieder aufgegeben. "Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich wie ein 'Jude' - und das ist ein schreckliches Gefühl." (328) Gerade weil die Deutschen ihr Verhältnis zum Judentum zivilreligiös aufgeladen haben, werden die wenigen real existierenden Juden zu Repräsentanten des "homo sacer" (G. Agamben). Ob die Juden es wollen oder nicht: sie stehen immer auf dem Podest, sie sind immer entweder besonders großartig oder aber besonders schrecklich. Bisher ging die Forschung davon aus, dass diese Singularisierung des Judentums ein von außen an die Juden herangetragener Prozess gewesen ist. Tuvia Tenenboms zunehmende Vereinsamung auf seiner Reise durch das Land spricht für diese Lesart.

Beherzt stellt Sloterdijk nun die Gegenthese auf: Es seien die Juden selbst gewesen, die sich mit der Selbststilisierung als Gottesvolk von den anderen altorientalischen Ethnien abgesetzt hätten - und durch Gewalt und die Verbreitung von Angst und Schrecken einen Modus "totaler Mitgliedschaft" generiert hätten. Selbstisolation und die Errichtung striktester kultischer Zäune zu anderen Ethnien zeichne das Judentum aus. Diese fatale Selbstsingularisierung habe ihren Ursprung in der Sinaierzählung. Das Kapitel 32 des Exodusbuches biete das "unüberbietbare Paradigma eines durch den Singularisierungsvertrag motivierten Gewaltaktes", heißt es in seinem Perlentaucher-Essay "Im Schatten des Sinai. Über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft". Mit der Gewaltandrohung der Sinaierzählung habe das Judentum eine Phobokratie errichtet. "Durch das Sinai-Schema wird - so weit man sieht, zum ersten Mal - ein Volk zu einer programmatischen totalen Institution überhöht, die ihren Angehörigen, zusammen mit dem striktesten Vermischungsverbot die Pflicht zur integralen Mitgliedschaft auferlegt. Es ist in erster Linie dieser ethnogenetische Geniestreich, es ist diese singuläre Verwandlung einer zufälligen Ethnie aus bis dahin unauffälligen 'götzendienerischen' Stämmen in ein eiferndes Programmvolk unter dem einen Gott, auf welche das eindrucksvolle Phänomen der 'Zeitüberdauer des Judentums' zurückzuführen ist." (5) Das klingt ein wenig so, als seien die Juden nicht nur die ersten Rassisten gewesen, sondern als hätten sie auch den Totalitarismus als politisches Programm erfunden. Allerdings verstrickt sich Sloterdijk schon rasch in einen Widerspruch, wenn er feststellt, dass auch das Christentum und der Islam das Sinai-Schema übernommen hätten. Da fragt man sich doch, wie es sein kann, dass ausgerechnet auf dem Boden eines dermaßen auf Abgrenzung und Selbstsingularisierung bedachten Volkes die universale Religion des Christentums entstehen konnte. Auch muss Sloterdijk im dritten Kapitel seines Essays zugeben, dass das moderne Judentum mit den von ihm identifizierten "Sinai-Schema" kaum noch etwas zu tun hat. Dies schreibt er aber nicht einer allen Religionen und so auch dem Judentum eigenen religiösen Evolution zu - vielmehr sieht er äußere Einflüsse am Werk, die alle Religionen gezwungen habe, ihre Mitgliedschaftsmodi modernen Erfordernissen anzupassen.

Gern stimme ich mit Sloterdijk darin überein, dass die Erzählung vom Bund am Sinai eine religions-, kultur- und politikgeschichtliche Sensation war. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte stimmt ein Volk über seine Verfassung ab und verpflichtet sich auf ein Gesetz. Zum ersten Mal kommuniziert ein Volk ohne königliche Vermittlung mit Gott. Die Trennung von Herrschaft und Heil war damit prinzipiell vollzogen. Das Ende des Gottkönigtums war eingeläutet. Und als dann die Christen, damals noch eine jüdische Sekte, behaupteten, dass der wahre Kyrios nicht der göttliche Kaiser, sondern der in dessen Auftrag Gekreuzigte war, konnte sich auf Dauer ein Gottheit und Menschheit vermittelnder Herrscher nicht mehr halten. Das Christentum wurde mit dem Gedanken, dass Jesus Christus das Zeichen eines "Neuen Bundes" sei, in der Tat zu einer Gegenreligion, die ihre besondere Kraft aus der Überzeugung zog, dass die civitates terrenae eines Tages von der civitas Dei abgelöst werden würden. Das war und bleibt ein revolutionärer Gedanke - Jan Assmann hat in seiner Replik auf Markus Witte auf das revolutionäre Potential der Sinaiperikope hingewiesen. Deren semantische Prominenz in der Revolutionszeit der Neuzeit ist übrigens unübersehbar. Selbst die antiklerikalen französischen Revolutionäre ließen es sich nicht nehmen, ihre Menschenrechtserklärung auf zwei Tafeln, die ikonographisch an den Dekalog erinnern, zu publizieren.

Bei sorgfältiger Lektüre der Hebräischen Bibel ist Sloterdijks Behauptung schlicht nicht haltbar, dass der gesetzeswidrige Mord der Leviten im Auftrag des Mose am eigenen Volk als Teil eines "Sinai-Schemas" zu identifizieren sei, das sich nicht nur durch die Hebräische Bibel wie ein roter Faden hindurch ziehe, sondern auch im Christentum und im Islam fatale Folgewirkungen gezeitigt habe. Wenn dieser Gewaltakt eine solch prototypische Bedeutung gehabt haben soll, dann muss Sloterdijk erst einmal erklären, warum dieser angeblich für den Bundesgedanken so entscheidende Gewaltakt in der Nacherzählung des Sinai-Ereignisses in Dtn 9 keinerlei Erwähnung findet. Stattdessen legt doch das Studium der gesamten Hebräischen Bibel die Erklärung nahe, dass auch am Sinai, das folgende Schema zur Anwendung kommt: das Volk schließt mit Gott einen Bund - das halsstarrige Volk bricht den Bund - Gott hält seinem Volk trotzdem die Treue. Dieses Schema setzt sich im Neuen Testament fort und wird seitdem als die gute Nachricht von einem treuen, mitleidenden und barmherzigen Gott von Generation zu Generation weitergegeben.

Man fragt sich ferner, was Sloterdijks Alternative zu einem "Programmvolk" ist? Alle modernen Demokratien haben selbstverständlich ein Programm. Sie formulieren Ziele, geben sich eine Verfassung und erlassen Gesetze, deren Übertretung - nolens volens - auch geahndet werden muss. Die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems heißt doch nicht, dass das politische System selbst keinen Programmbedarf mehr habe. Die Wertedebatten der letzten Jahrzehnte offenbaren einen enormen Zivilreligionsbedarf. Für das Judentum wäre die Alternative zum Programmvolk im 5. Jahrhundert die Unterwerfung unter die Herrschaft der Perser, Griechen und Römer - deren Staatskulte eingeschlossen - gewesen. Und was wäre für uns heute die Alternative zum Programm des Verfassungsstaats? Die Eurozone? Ein neuer Geist des Kapitalismus? Völkerwanderung? Ökoapokalyptik? Émile Durkheim hat den "culte de l'individu" als die Zivilreligion der westlichen Moderne bezeichnet.[18] Auch dieser Kult entlässt die Individuen nicht in die Beliebigkeit, sondern fordert von ihnen, in eminenter Weise Individuen zu sein - verantwortungsbewusst, autark, autonom, zugleich solidarisch, empathisch, nachhaltig, umweltbewusst, gendersensibel - you name it… Mit andern Worten: die heute dem Individuum auferlegten Programme sind Legion. Der Prozess der Individualisierung befreit nicht nur zur Selbstwahl, er zwingt auch zur permanenten, programmatischen Selbstoptimierung. Die Agenten der Produktion dieser besseren Menschen sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht mehr. Auch die "Pastoralmacht des Staates" (Michel Foucault) scheint an seine Grenzen gekommen zu sein. Dass Manager großer Konzerne die Regel des Heiligen Benedikt studieren, um sich Rat bei der Formulierung der eigenen "mission" und der spezifischen "corporate identity" zu holen, mag auf eine kommende Phase der Instrumentalisierung der Religion durch die Ökonomie hinweisen. Vorläufig scheint mir noch Luc Boltanskis Diagnose erhellend zu sein, der meint, dass wir uns gegenwärtig wohl in der Vorhölle befinden.[19]

Sloterdijk liest die Gründung eines politischen Gemeinwesens am Sinai allein unter negativen Vorzeichen. Deshalb kann er den positiven Beitrag der Exoduserzählung für die Entstehung der modernen Welt nicht hinreichend würdigen. Es klingt bei ihm so, als seien die Religionen nur passive Opfer der Moderne gewesen. Zumal der Blick in die angelsächsische Geschichte politischer Ideen zeigt aber, dass die Religionen selbst aktiv an der Hervorbringung der modernen Welt beteiligt waren. Dass sie sich dabei selbst auch verändert haben, versteht sich von selbst und müsste in einer Geschichte der Evolution der Religionen im Einzelnen dokumentiert werden. Robert N. Bellah hat kürzlich mit einer detaillierten Dokumentation begonnen.[20]

Dabei würde dann auch deutlich werden, dass Sloterdijks Vorschlag, die Theologie in Theaterwissenschaft und allgemeine Trainingswissenschaft aufzuspalten, dieser ihr Kostbarstes raubte. Denn Theologie ist in erster Linie Religionskritik. Als universitäre Disziplin besteht ihre Aufgabe nicht in der Pflege kultischer Handlungen, religiöser Rhetorik oder spiritueller Psychohygiene. Sie untersucht vielmehr die Religionsgeschichte historisch-kritisch und arbeitet an religionshermeneutischen Konzepten, die die religiöse Bildung nicht nur der religiös Musikalischen, sondern auch der religiös Unmusikalischen befördern kann. Religiose Bildung ist Fundamentalismusprophylaxe.

Wie geht es weiter?

Ich hoffe, es berührt Jan Assmann nicht unangenehm, wenn ich ihn als einen wahrhaften Brückenbauer - lateinisch: Pontifex - bezeichne. Stets hat er das Produktive von Auseinandersetzungen im Auge. Er denkt sich in die Perspektive anderer ein. Am Rückzug in die eigenen Zustimmungsmilieus ist er nicht interessiert. Wer ihm darin folgt, kann nicht nur Neues lernen, sondern auch das Profil der eigenen Position schärfen. Gerne würde ich mit ihm etwa über evolutionäre und revolutionäre Religionen weiter nachdenken.

Ein Beitrag aus dem Judentum steht noch aus - und auch der Beitrag einer Wissenschaftlerin. Schon jetzt aber möchte ich anregen, das Projekt einer umfassenden erinnerungsgeschichtlichen Rekonstruktion der Mosefigur ins Auge zu fassen. Diese Rekonstruktion müsste wohl als ein internationales Unternehmen konzipiert werden. Religionswissenschaftler und Theologen, Politikwissenschaftler und Kunstgeschichtler, Literaturwissenschaftler und Historiker sollten sich daran beteiligen. Vielleicht ließe sich ja auch das Pergamonmuseum in Berlin für ein großes Mosesprojekt begeistern. Die Engführung auf die Frage nach dem Verhältnis von Monotheismus und Gewalt könnte überwunden und die ganze Breite der religionsgeschichtlichen, religionsphilosophischen, religionspolitischer und religionsästhetischen Wirkungen der Mosefigur und des Sinaibundes in den Blick kommen. Möglicherweise ließen sich ja sogar noch bei Betrachten von Hollywoodfilmen erinnerungsgeschichtliche Beobachtungen machen, die uns Aufschluss darüber geben, warum uns noch nach Jahrtausenden die Figur des Mose und das Exodusmotiv nicht loslassen.

[1] Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, 2010, 373.

[2] Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens (1974), Frankfurt am Main 1987, 85.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Eckart Otto: Art. "Mose". In: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 5. Vierte Auflage, Tübingen 2002, 1534-1538.

[5] Vgl. dazu Reinhard G. Kratz: "Israel als Staat und als Volk". In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), 1-17.

[6] Becker, Staatsreligion, 15.

[7] Jan Christian Gertz: Mose und die Anfänge der jüdischen Religion. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), 3-20, 4.

[8] Zitiert nach Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). 6. Auflage. Göttingen 1967, 49 und 176.

[9] Zit. bei Joseph Kardinal Ratzinger: Die Christenheit, die Entmythologisierung und der Sieg der Wahrheit über die Religionen. Paris 1999.

[10] Die folgenden Zitate stammen aus einer von Iring Fetscher herausgegebenen Ausgabe, der sich die Freiheit nimmt, bei der Übersetzung des Titels kurzerhand das Bürgerliche dem Kirchlichen voranzustellen: Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Frankfurt 1976, 271.

[11] Ebd., 280.

[12] Ebd., 312.

[13] Vgl. Joachim J. Krause: Der Bund im Alten Testament und bei Hobbes. Eine Perspektive auf den Leviathan. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2005, 2005, 9-39.

[14] Hobbes, Leviathan, 316, 317.

[15] Ebd., 134.

[16] Ebd.

[17] Michael Walzer: Exodus and Revolution. Basic Books 1985.

[18] Vgl. Émile Durkheim: L'individualisme et les Intelectuels. In : Revue Bleue 10 (1898), 7-13.

[19] Vgl. Luc Boltanski: Die Vorhölle. Eine Kantate für mehrere Stimmen. Mit Bildern von Christian Boltanski, 2011.

[20] Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution: from the Paleolithic to the Axial Age, 2011.