Essay

Mit den Büchern sterben die Filme

Von Daniele Dell'Agli
19.11.2015. Ausgerechnet einen "Sterbefilm" als Rahmen filmischer Selbst-Reflexion zu benutzen, müsste sich schon der exklusiven Ernsthaftigkeit des Themas wegen von selbst verbieten - Nanni Moretti aber gewinnt damit ein experimentelles Verhältnis zu Sterben und Tod. Über "Mia Madre".
Seit Anfang des neuen Jahrtausends mehren sich die Spielfilme - Kino- und Fernsehproduktionen -, die vom Sterben handeln: nicht vom sekundenschnellen Verröcheln der Opfer von Gewalttaten, sondern vom langsamen, unspektakulären und sehr gewöhnlichen Verlöschen eines Lebens, das krankheits- oder altersbedingt an seine Grenzen gekommen ist. Gleichsam als Einspruch gegen den massenhaft produzierten gewaltsamen Medientod arbeiten diese Filme an der ungleich schwierigeren Darstellung des Unvermeidlichen, das man geschehen lassen muss, weil es um etwas geht, das man nicht machen kann; und weil die Grenzen des Machbaren in der Realität immer auch die Grenzen der Fiktion bestimmen, zumindest in einer der Realitätsillusion verpflichteten Kunst wie dem Spielfilm. Die Konjunktur dieses Themas hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, dass man versucht ist, von einem neuen Genre zu sprechen, würden diese Filme den Ensembles - allen voran Regie, Drehbuch und Schauspielern - nicht das Äußerste an Können und Redlichkeit abverlangen, um durch jeweils originelle dramaturgische und kinematografische Lösungen den auch ethisch heiklen Problemen bei der Gestaltung des letzten Kapitels menschlicher Existenz gerecht zu werden (ich habe das anderer Stelle ausführlich diskutiert.)

Ebenfalls untrennbar mit der Signatur des Autorenkinos verbunden sind seit Buster Keatons "Sherlock Junior" (1924) Filme, die sich selbst - das Medium, das Handwerk, die Produktion, die Inszenierung, die Ästhetik - reflektieren und die für gewöhnlich einem eigenen Genre zugeordnet werden, dem Film im Film, obwohl sie entweder essayistisch offen oder wie ein Meta-Genre quer durch alle herkömmlichen Genres - Komik, Thriller, Lovestory et cetera - realisiert wurden. Ausgerechnet jedoch einen "Sterbefilm" als Rahmen filmischer Selbst-Reflexion zu benutzen, müsste sich schon der exklusiven Ernsthaftigkeit des Themas wegen von selbst verbieten - es sei denn man entwickelt die Möglichkeit, ja Notwendigkeit des einen (die Befragung der filmischen Mittel) aus der Unvermeidlichkeit des anderen (die Erfahrung des Sterbens eines geliebten Menschen): wenn man zum Beispiel als Regisseur persönlich von beidem betroffen ist.

Genau das ist Nanni Moretti bei den Dreharbeiten zu seinem vorletzten Film "Habemus Papam" (2011) passiert, als ihn am Set die Nachricht vom letalen Zustand seiner Mutter erreichte. Und genau diese Situation - das Zerrissensein zwischen den sowohl beruflich wie privat extremen Anforderungen - hat er zum Ausgangspunkt seines neuen Films "Mia Madre" gemacht und damit nebenher, wenn auch implizit, ein Desiderat sogenannter Sterbefilme erfüllt: zu zeigen, wie man als Angehöriger mit dem Verlust umgeht und wie diese Erfahrung das weitere Leben verändert - eine Frage, die für gewöhnlich offen bleibt, da die einschlägigen Filme mit dem Tod der jeweiligen Protagonisten enden. So ist "Mia Madre" ein vielschichtiger, ein multipler Film geworden: Dokument von Morettis Trauerarbeit am Tod seiner Mutter; Reflexion über die Möglichkeit, diese Erfahrung filmisch zu verarbeiten; Inszenierung der Kollision von Beruflichem und Privatem am Set und ihrer Auswirkungen auf den Fortgang der Dreharbeiten; und das Ganze wiederum vor der Kontrastfolie eines ganz anderen Films, an dem derweil "im Film" weiter gedreht wird.



Wer nach dieser keineswegs vollständigen Beschreibung die anstrengende Kost eines verstiegenen Autorenfilmers erwartet, sieht sich jedoch angenehm überrascht: Moretti gelingt es, die verschiedenen Ebenen und Dimensionen dieses Films mit jener leichten Hand und dem untrüglichen Takt für die Grenzen des Darstellbaren ineinander gleiten zu lassen, die ihm schon 1994 für "Caro Diario" (Liebes Tagebuch) den Regiepreis in Cannes einbrachten. Das fängt damit an, dass er die zentrale Figur, sein Alter ego, mit einer Regisseurin besetzt (die Schauspielerin Margherita Buy, die im Film auch Margherita heißt). Sie dreht einen sozialkritischen Spielfilm über den Arbeitskampf einer Belegschaft, die sich gegen die drohende Abwicklung ihrer Fabrik durch eine amerikanische Heuschrecke zur Wehr setzt. Während die Protagonistin mit der drohenden Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens - eines realistisch ambitionierten, gleichwohl fiktiven Dokumentarfilms - hadert und obendrein die narzisstischen Allüren des amerikanischen Darstellers (maximalinvasiv ausagiert von John Turturro) zu bändigen hat, wird sie privat immer mehr von der Sorge um ihre wegen Lungenversagens ins Krankenhaus eingelieferte Mutter (Giulia Lazzarini) absorbiert, ganz zu schweigen vom Ärger mit einer Tochter, die sich weigert, zur Schule zu gehen oder der Trennung von ihrem Lebensgefährten. Der Versuch, an allen Problemfronten gleichermaßen präsent zu sein, führt zu einer Überforderung, die der Film aus ihrer Perspektive als zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Traum und Realität, Erinnerung und Fantasie zeigt.



So bricht die familiäre Krise wiederholt in die Konflikte am Set durch, doch nicht um diese zu verschärfen, sondern um sie durch momentane Abwesenheiten der Regisseurin - als Flashbacks aus der gemeinsamen Familiengeschichte geschaltet - gleichsam zu suspendieren und so den ohnehin prekären "Realismus" des Films im Film zusätzlich infrage zu stellen: Was ist überhaupt noch wichtig angesichts des Todes? Wie soll man das herausfinden? Und wie kann man es darstellen? Margherita weiß es umso weniger, je länger der Film dauert und seine eigene Suche nach Antworten entfaltet. "Brich doch wenigstens mit dem einen oder anderen Schema" rät Giovanni, ihr Bruder, gespielt vom dezent im Hintergrund hantierenden Nanni Moretti, der im Film zwar einen liebevoll seine Mutter pflegenden Ingenieur gibt, es sich aber nicht verkneifen kann, der "Schwester" ein Markenzeichen seiner eigenen Ästhetik zu empfehlen.

Zu dieser gehört eine Regieanweisung, die Margherita vergeblich ihren Schauspielern plausibel zu machen sucht: "Der Schauspieler muss neben der Figur stehen. Er muss sie verkörpern und zugleich Schauspieler bleiben. Ich will die Arbeiterin sehen und daneben die Person, die sie spielt." Das klingt zunächst nach der Rollendistanz des Epischen Theaters, dem Brechtschen Verfremdungseffekt, der das Illusionäre am Dargebotenen brechen soll. Doch Moretti will beides: Distanz und Identifikation, Empathie und Reflexion; eine nach außen und eine nach innen gekehrte, eine transparente und eine opake (geheimnisvolle), eine fiktions- neben einer realitätsmächtigen Figur. Man fühlt sich an die Chuzpe erinnert, mit der er sich selbst früher als Regisseur und Hauptdarsteller seiner Filme zu inszenieren pflegte (zuletzt in "Liebes Tagebuch"), und so betrifft die paradoxe Anweisung am ehesten die Regisseurin selbst, die unversehens und ungewollt wegen der Sorge um die sterbende Mutter permanent neben ihrer Rolle steht. Die Irritation des Publikums ist vorprogrammiert, doch sie hält sich in Grenzen.

Denn zur Ästhetik Morettis gehört es, mit den Konventionen filmischen Erzählens so unaufdringlich zu brechen, dass die steigende Komplexität nirgends den Sog der Aufmerksamkeit stört. So leuchtet es unmittelbar ein, dass den zwei narrativen Hauptlinien der mise en abyme zwei unterschiedliche Zeitformen zugeordnet sind: Während am Set (und in den Nachbesprechungen) die Dinge ihren chronologischen Lauf nehmen, werden die Geschehnisse um das Sterben der Mutter (Erinnerungen an den Beginn ihres Siechtums, Gegenwart der Pflege in Krankenhaus und Zuhause, Vorgriffe auf ihren Tod) dyschronisch montiert. Das Verfahren, das in manchen Szenen offen lässt, ob es dem gestressten Bewusstseinsstrom der Hauptdarstellerin folgt oder den dementischen Konfabulationen der Sterbenden Tribut zollt, führt Moretti ein halbes Jahrhundert nach Alain Resnais' "Muriel" (dem Klassiker dieser Schnitttechnik) mit einer suggestiven Selbstverständlichkeit vor, die den Film auch cinéastisch Ungeübten ohne weiteres zugänglich macht.

Ausgerechnet die assoziative Montage der existenziellen Krise erweist sich - neben der oft kontrastiv (in überraschend profanen Zusammenhängen) zitierten Musik Arvo Pärts - als das stärkste Bindemittel des Films, weil sie darauf verzichtet, das erzählerische Potenzial der jeweiligen Szenen auszureizen und so der Fantasie des Zuschauers Raum für eigene Konjekturen lässt. Der somnambule Gang der Mutter durchs Krankenhaus ins Freie zum Beispiel: eine Angstvision der besorgten Tochter oder ein Wunschtraum der aufgrund ihrer Herzinsuffizienz ans Bett gefesselten Patientin - es bleibt in der Schwebe. "Je mehr eine Geschichte erzählt wird und je besser das getan wird, desto größer wird mein Widerstand", sagt Morettis Freund und Wahlverwandter Abbas Kiarostami. Und weiter: "Das einzige Mittel, ein neues Kino vorstellbar zu machen, besteht darin, die Rolle des Zuschauers mehr zu beachten. Man muss sich ein unvollendetes und unabgeschlossenes Kino vorstellen, so dass der Zuschauer sich hineinbegeben und die Lücken, das Fehlende ergänzen kann."" (in: Evidenz des Films, Berlin 2005)

Das Einzige, was in "Mia Madre" einer linear finalisierten Logik gehorcht, ist der physische Verfall der Mutter, gegen dessen Fatalität Moretti die offene Struktur seiner Film-im-Film-Metalepse aufbietet, um dem nahenden Tod die Macht über die Lebenden und damit - auch das ein eklatanter Konventionsbruch - die Schlüsselstellung zu verweigern, die er in Sterbefilmen für gewöhnlich einnimmt. Anders gesagt: während die Mutter stirbt, passiert um sie herum und an ihr vorbei alles Mögliche, das Leben geht weiter, wenn auch anders als gewohnt, und das nicht erst nach eingetretenem Exitus. Vielleicht, so könnte eine der Botschaften dieses Films lauten, brauchen wir endlich ein experimentelles Verhältnis zu Sterben und Tod, Trauer und Verlustbewältigung: zwar stets das Unwiderrufliche daran vor Augen, aber zugleich offen für neue Formen und Rituale und wie in "Das Zimmer des Sohnes" (2001) fern aller vorgeblich tröstlichen, in Wahrheit beklemmenden und die Todesangst nur verstärkenden Symbolhandlungen der Religion. Und es versteht sich von selbst, dass auch Moretti wie ausnahmslos alle Filmemacher, die sich diesem Thema gewidmet haben (hat das auch nur einem unserer moralisch selbstgerechten "Volksvertreter" zu denken gegeben?), auf seine diskrete, fast beiläufige Weise für das Recht auf ein so weit wie möglich selbstbestimmtes Sterben zuhause, ohne Schmerzen, im Kreis der Vertrauten und jenseits paternalistischer Gängelung in Anspruch nimmt.

Je länger "Mia Madre" dauert, desto deutlicher wird, wie eng Moretti die filmische Selbstreflexion mit dem Sterbemotiv verwoben hat. Während die mise-en-scène des Films im Film die Fragwürdigkeit einer obsoleten Ästhetik des gesellschaftskritischen Realismus (angesichts der Komplexität politischer oder sozialer Konflikte) andeutet, stellt der Film als Film die Fiktionalisierbarkeit existenzieller Dramatik (die individuelle Tragödie des Sterbens) in Frage. Beide Momente gewinnen aber an Relevanz erst vor dem möglichen Sterben jener Kulturtechnik, die sie erst ermöglicht hat: der schriftgewordenen Literatur. Denn mit der Mutter stirbt am Ende eine Lateinlehrerin und es verschwindet eine Bibliothek voller Bücher, deren Studium bislang noch Grundlage für die Entfaltung aller anderen kognitiven und kreativen Vermögen gewesen ist. Dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte gilt ja nur zusammen mit seiner medienontologischen Ergänzung, dass ohne die Schrift alle Bilder stumm blieben "Wer soll Tacitus und Terenz künftig eine Stimme geben?", fragt sich die Tochter, wer die unzähligen Regaltoten, deren Namen für eine zweieinhalbtausendjährige Kultur stehen, zum Leben erwecken? Moretti antwortet filmisch: In der Schlusssequenz steht Margareta Buy vor der prall gefüllten Bibliothek, die eine Weile zuvor - unter dem Eindruck des sich rapide verschlechternden Zustands ihrer Besitzerin - "in Gedanken" bereits leergeräumt worden war. Die Gutenberg-Galaxis ist also wieder oder immer noch da. Genau wie die Zukunft: "Woran denkst du, Mutter?" - "An morgen." (Abspann).