Essay

Cultiver notre jardin

Von Pascal Bruckner
10.11.2015. Am Ende zieht André Glucksmann aus Voltaires "Candide" eine ganz bescheidene Folgerung: Wir müssen unseren Garten bebauen und ihn verteidigen: Europa, die einzige auf Transzendenz verzichtende Zivilisation.
Persönlich kannte ich André Glucksmann kaum, wir sind uns ein zweimal begegnet. Aber er war immer offen, wenn ich ihn nach Texten fragte, schon als ich noch taz-Redakteur war, und später, als ich für das Feuilleton der Süddeutschen aus Paris berichtete, und dann auch für den klitzekleinen Perlentaucher. Seine Texte waren wichtiger als viele, die ihn als Medienphilosophen verlachten, wahrnehmen konnten. Er war berühmt als "engagierter" Philosoph, aber er schrieb nicht nur über Antiamerikanismus, sondern auch über Stéphane Mallarmé und holte sich seine Ideen eher aus der Literatur als aus der Politik. Ausgerechnet am 9. November ist er gestorben, im Alter von 78 Jahren. Wir publizieren hier einen Text, den Pascal Bruckner vor einigen Monaten im Nouvel Obs über Glucksmanns letztes Buch veröffentlichte.
Thierry Chervel.


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André Glucksmann ist ein Mann auf der Lauer. Seit seiner maoistischen Jugend, die er bereut - während andere sich noch ihrer Irrtümer rühmen -, hat seine Wachsamkeit nie nachgelassen. Als Sohn jüdischer österreichischer Kommunisten und Komintern-Mitglieder, die nach Frankreich emigrierten - sein Vater stirbt 1940, seine Mutter geht in die Résistance - tritt er als Kämpfer ins Leben ein.

Er kann viele Ruhmestitel für sich beanspruchen. Als Anführer der Neuen Philosophen und kurzzeitiger Assistent Raymond Arons bringt er Solschenizyn nach Frankreich, gegen die Skepsis einer Linken, die noch vom sowjetischen Fantombild geblendet ist. Er attackiert in messerscharfen Büchern den Totalitarismus, nimmt Kontakt mit den tschechischen, russischen, polnischen Dissidenten auf, freundet sich mit Vaclav Havel an, versöhnt Sartre und Aron, um die vietnamesischen Boat people zu retten und wird dabei von Michel Foucault und Roland Barthes unterstützt.

Als einer der ersten benennt er die serbische Aggression in Vukovar im Jahr 1991 und verteidigt die algerische Regierung 1992 gegen die Islamisten. Er prangert die Brutalität Russlands in Tschetschenien an, begeistert sich für die samtenen Revolutionen in Georgien und der Ukraine und attackiert ohne Unterlass den Herrn des Kreml und seine deutschen Komplizen.

Obwohl er sich von der offiziellen Linken entfernte und atlantischen Positionen annäherte, bleibt er in einer Art linkem Libertarismus, der ihn nie verlassen hat, ein bedingungsloser Verteidiger der Minderheiten, der fahrenden Leute, der Sinti und Roma. Er hat sich manchmal geirrt, sein Vertrauen Politikern geschenkt, die ihn ausnutzten, aber er hat nie nach Ehren, Titeln, Gefallen gesucht und lebte in einer Respekt gebietenden Askese des Engagements nur für seine Bücher und Überzeugungen.

In seinem jüngsten Buch, einer Synthese seines Werks, macht er Voltaires "Candide" zu einem Discours de la méthode eines ermüdeten Europa, das die Gefährdungen, denen es ausgesetzt ist, kaum zu benennen vermag. Die philosophische Erzählung ist eine Erzählung, die denkt, eine kleine Bombe, deren Auswirkungen seit drei Jahrhunderten zu spüren sind. Glucksmann findet in Voltaire einen Gefährten der Ironie: Wie Voltaire weiß er, dass sich die Menschen niemals auf ein Gutes verständigen werden, wohl aber gegen ein klar umrissenes Böses, das sie zu verschlingen droht. Die Bürger streiten darüber, was das Beste für sie sei, einigen sich aber zumindest gegen das Schlimmste.

Kommunismus und Nazismus, diese Zwillinge des Abscheus, Fundamentalismus und Tribalismus gehen Hand in Hand, um ihre Massaker im Namen eines irdischen Absoluten anzurichten. Man muss dem Schrecken die Maske entreißen, um hinter schönen Proklamationen die "wildesten Menschenfresser" bloß zu stellen. Angesichts einer sich stets erneuernden Barbarei scheinen sich zwei Lager gegenüberzustehen, die Optimisten à la Pangloss, für die jedes Böse ein Gutes in sich birgt, und die Nihilisten, die den menschlichen Wahnsinn zur Kenntnis nehmen und ihre Hände in Unschuld waschen. Sie glauben an nichts mehr, weil sie nicht mehr an ein großes Ganzes glauben können.

Die große voltairianische Revolution des 20. Jahrhunderts wurde vielleicht von der Charta 77 verkörpert, die 1977 von Vaclav Havel lanciert wurde und sich an dem Philosophen Jan Patocka und dessen "Solidarität der Erschütterten" inspirierte. Künstler, Intellektuelle, Arbeiter sind gegen die offizielle Lüge, lyrische Illusionen und trügerische Hoffnungen aufgestanden. Vieles trennte sie, geeint waren sie im Kampf gegen den realen Sozialismus.

Am Ende zieht Glucksmann aus Voltaires "Candide" eine ganz bescheidene Folgerung: Wir müssen unseren Garten bebauen und ihn verteidigen, Europa, die einzige auf Transzendenz verzichtende Zivilisation, die die verschiedenen Lebensweisen in sich erblühen lässt. Als einer, der mit übersinnlicher Präzision das Infame aufspürt, schließt Glucksmann mit einem amüsierten Lächeln über die menschliche Komödie. Wachsamkeit schließt Wohlwollen nicht aus.

Pascal Bruckner


Aus dem Französischen von Thierry Chervel