Essay

Zunehmende Intoleranz

Von Marco Stahlhut
19.03.2018. Indonesien galt lange als ein Land, das Demokratie und Islam vereinbart - nun schreitet die Islamisierung zügig voran. Ein Beitrag in einer Zeitschrift der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich "als Partnerin der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik" versteht, zeigt allerdings, dass die westliche Öffentlichkeit diese Entwicklung immer noch verharmlost oder leugnet. Frauen und Homosexuelle sind die Opfer dieser Indifferenz.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist die Parteistiftung der SPD. Die deutsche Sozialdemokratie hat eine lange und weitgehend stolze Geschichte der Verteidigung der Rechte von Frauen, von Schwulen und Lesben. Bis heute kämpft die SPD für Frauen in Deutschland, etwa mit einer Unterstützung von Quotenregelungen. Was LGBTQ* angeht, so trat eine Gründungsfigur der Sozialdemokratie, August Bebel, bereits im Kaiserreich für eine Entkriminalisierung von Homosexualität ein. Es war ebenfalls die SPD, die im letzten Jahr den Weg für eine Öffnung der Ehe für alle möglich machte.

Im aktuellen Heft der Internationalen Politik und Gesellschaft, einem Journal der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, das online erscheint, ist ein prominent platzierter Beitrag über den Stand der religiös motivierten Intoleranz im bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Erde, Indonesien, zu finden. Das heißt, der Artikel war prominent platziert, bis ich die Redaktion des IPG darauf hinwies, dass er stark irreführend ist. Ich bot dem IPG eine Replik an, zu der die Redaktion "Ja" sagte, ohne mir über viele Tage hinweg einen einigermaßen präzisen Erscheinungstermin nennen zu wollen.

Die Stiftung der Partei, die den Außenminister stellt und über hundert Auslandsvertretungen betreibt, formuliert ihr eigenes Selbstverständnis so: "Als international aufgestellter Think Tank bieten wir Impulse für eine Politik der Sozialen Demokratie - nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die Stiftung ist seit Jahrzehnten als Partnerin der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik etabliert."

Dass Indonesien im Gespräch ist, ist an sich wenig überraschend: Das Land ist von westlichen Politikern und Experten über Jahrzehnte als Beispiel für einen moderaten Islam hochgehalten worden. Die Nachrichten der letzten Zeit jedoch klingen nach dem genauen Gegenteil (etwa hier). Basuki Tjahaja Purnama, genannt "Ahok", der prominenteste christliche Politiker des Landes und Ex-Gouverneur der Hauptstadt Jakarta, wurde wegen Beleidigung des Korans zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. In der Scharia-Provinz Aceh werden Teenager-Pärchen, die am Strand zu nah nebeneinander sitzen, öffentlich mit Stockhieben verprügelt. Schwule Paare erst recht, und alle zur Freude der stets zahlreich anwesenden Zuschauer der Bestrafungen nach islamischem Recht. Wenn Empörung darüber im Rest des Landes ausbleibt, so, weil Aceh längst von einem radikalen Außenseiter zum Vorbild für ganz Indonesien geworden ist (mehr in der New York Times) International wurde das erst am letzten Valentinstag wieder bemerkt - einen Tag vor dem Erscheinungsdatum des IPG-Beitrags - , als in der zweitgrößten Stadt Indonesiens, dem weit von Aceh entfernt liegenden Surabaya, unverheiratete Paare massenhaft in Hotelzimmern festgenommen wurden (mehr in Spiegel online). Noch gibt es gar keine Grundlage für eine solche Kriminalisierung von Sex unter Erwachsenen. Die nationale Kriminalisierung von vor- und außerehelichem Sex steht jedoch unmittelbar bevor. Insbesondere Homo- und Transsexuelle werden bereits jetzt hasserfüllt verfolgt. Die ersten Politiker fordern die Todesstrafe.


Die Islamisierung führt zu immer stärkerem Druck auf indonesische Frauen. Polygamie ist erlaubt. Die App Ayopoligami.com (Screenshot) erleichtert Männern die Suche nach Ehefrauen.

Von all diesen Fakten, die zusammengenommen ein ebenso düsteres wie eindeutig erscheinendes Bild abgeben, nennt der Autor des IPG-Artikels, Franz Magnis-Suseno, allein den Blasphemiefall des christlichen Ex-Gouverneurs von Jakarta. Selbst den Schwertangriff eines radikalisierten Muslims auf eine katholische Kirche in Yogyakarta mit mindestens 5 Verletzten erwähnt Pater Magnis, ein Jesuit, nicht, obwohl dieser nur vier Tage vor Erscheinen des Artikels, der auf den15. Februar datiert ist, stattfand. Dabei handelte es sich bei der Terror-Attacke um keinen kontextlosen Einzelfall.

Disclaimer: Ich kenne Franz Magnis-Suseno persönlich, wenn auch eher flüchtig. Wie so viele, die an der traditionellen indonesischen Kultur interessiert sind, habe ich seine Studie "Javanische Weisheit und Ethik" von 1981 vor Jahren mit Gewinn gelesen. Gerade vor dem Hintergrund meines langjährigen Respekts für Pater Magnis verblüfft mich sein Beitrag für das IPG-Journal. Magnis-Suseno selbst würde man dabei gerne verzeihen: Er ist 85 Jahre alt und hat sein Leben dem interreligiösen Dialog gewidmet. Es muss unglaublich schwierig sein, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass das angesichts der Entwicklungen im Islam weitgehend vergeblich war. Die Frage jedoch ist, warum das IPG-Journal einen stark irreführenden und große Teile der indonesischen Wirklichkeit ausblendenden Artikel, widerspruchslos stehen lässt. Warum ein SPD-nahes Magazin in einer Situation, in der Christen und andere religiöse Minderheiten, in der Frauen, Schwule, Lesben und Transsexuelle in Indonesien auf einen Aufschrei des Westens dringend angewiesen wären, stattdessen die Lage durch Verschweigen beschönigt.

Gewiss, die Gefahr des Islamismus wird in dem IPG-Artikel nicht gänzlich geleugnet. Sie wird adressiert, nur um sie gleichzeitig herunterzuspielen. Ich möchte kurz skizzieren, inwiefern das Bild von der Lage in Indonesien, das Magnis-Suseno in seinem IPG-Beitrag zeichnet, so drastisch von der Wirklichkeit abweicht, dass es mich dazu bringt, Stellung zu beziehen, obwohl ich auf eine öffentliche Kritik an dem viel älteren und weithin geschätzten Mann sonst lieber verzichtet hätte.

Es geht dabei vor allem um drei Punkte: Der erste ist die Frage nach dem gegenwärtigen Charakter der beiden größten muslimischen Massenorganisationen in Indonesien, Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah. Im IPG-Beitrag erscheinen sie als moderates Bollwerk gegen die Islamisten. Insbesondere erweckt die Darstellung Magnis-Susenos den Eindruck, als hätten beide Organisationen mit den Blasphemievorwürfen und -demonstrationen gegen den christlichen Ex-Gouverneur Jakartas, die diesen im Mai 2017 nach einem Prozess schließlich ins Gefängnis brachten, nichts zu tun gehabt. Ja, aus dieser Erfahrung einer plötzlichen Führungsrolle islamistischer Gruppen heraus, hätten beide Organisationen die Absicht, die Radikalen künftig noch entschiedener zu bekämpfen. Bei Betrachtung der Fakten muss man das wahlweise als anlassloses Wunschdenken oder als grobe Verfälschung der Realität bezeichnen.  

Der zweite Punkt betrifft die Frage, ob es richtig ist, dass das bevölkerungsreichste mehrheitlich muslimische Land der Erde dem religiösen Extremismus "bis jetzt" stets widerstanden hätte. Trifft es zu, dass zumindest vor Ende 2016 - mit der besagten Blasphemie-Affäre um den christlichen Gouverneur - keine Gründe dafür bestanden hätten, an dieser Islamismus-Resistenz Indonesiens zu zweifeln? Auch hier belegen die Fakten, dass die Darstellung durch Magnis-Suseno eine Ausblendung weiter Teile der Wirklichkeit bedeutet. Was ist etwa mit  der Verfolgung, die muslimische Minderheiten, insbesondere die Ahmadiyya schon seit langem in Indonesien erleiden müssen? Oder mit dem rapiden Verschwinden der Toleranz gegenüber den Christen im Land, wofür die Provinz Yogyakarta, in der die eingangs erwähnte Terrorattacke auf die katholische Kirche stattfand, ein besonders drastisches Beispiel darstellt? Unerklärlicherweise erwähnt Magnis-Suseno auch die verstärkte Ausbreitung von lokalen, Scharia-inspirierten Gesetzgebungen ("Perda Syariah") nicht, die fast unmittelbar nach der Demokratisierung des Landes 1998 begann. Ist sie für die Frage nach dem Fortschreiten des religiösen Extremismus in Indonesien unerheblich? Moderate Muslime warnen vor dieser schrittweisen "Schariaisierung" des Landes bereits seit Jahren. Sie hat stark diskriminierende Folgen für Christen und andere religiöse Minderheiten, insbesondere aber auch Frauen.

Punkt 3: Indonesien hat eine Reihe von Menschenrechtsproblemen, die mit dem islamischen Fundamentalismus verknüpft sind. Die Lage der Frauen verschlimmert sich, geradezu existenziell bedroht sind außerdem schwule, lesbische und transsexuelle Indonesier. Das gilt insbesondere für materiell arme LGBTQ in Indonesien - also die Allermeisten -, die keine Mittel haben, um sich vor einer neuen, gewalttätigen Bigotterie durch Staat und islamistische Mobs zu schützen. Auch das ist offenbar kein Thema für das SPD-nahe IPG-Journal, dabei ist die neue, aggressive Homophobie bereits seit Anfang 2016 virulent (mehr auf den Seiten der FDP-nahen Naumann-Stiftung).  

Im konzentriere mich aus Platzgründen im Folgenden auf Punkt 1, die muslimischen Massenorganisationen in Indonesien, werde aber auch auf die anderen Punkte später zurückkommen.  

Wer den Text von Magnis-Suseno liest, muss zu dem Schluss kommen, dass die beiden größten muslimischen Massenorganisationen in Indonesien, Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah nichts mit dem Blasphemieprozess und den, wie er selbst schreibt, "riesigen", islamistisch angeführten Demonstrationen gegen den christlichen Ex-Gouverneur von Jakarta zu tun gehabt hätten. Sie hätten sich "an den Demonstrationen nicht beteiligt", schreibt Suseno. Sie hätten ferner aus der dramatischen Entwicklung den Schluss gezogen, den Radikalismus künftig noch stärker zu bekämpfen. Betrachten wir die Fakten:

Die Jugendorganisation der Muhammadiyah gehörte zu den ersten, die den christlichen Ex-Gouverneur Basuki Tjahaja Purnama, genannt "Ahok" überhaupt wegen Beleidigung des Korans angezeigt hatte. Das gab der Geschäftsführer der Organisation stolz bekannt.

Nicht nur einzelne Mitglieder, Kleriker und Aktivisten von NU und Muhammadiyah nahmen massenhaft an den islamistisch angeführten Demonstrationen teil, sondern auch ganze Ortsgruppen beider Organisationen. Darüber besteht unter Experten kein Zweifel. (mehr hier). Magnis-Suseno macht daraus: "Beide, [Nahdlatul Ulama und Muhammadiyah]haben sich ... nicht an den riesigen Anti-Ahok-Demonstrationen von 2016 beteiligt."

Womöglich meint Magnis-Suseno, dass die nationalen Führungen von NU und Muhammadiyah nicht zu den Demonstrationen gegen den christlichen Gouverneur aufgerufen haben, aber das, angesichts der Fakten, eine Nicht-Beteiligung zu nennen, grenzt an Wirklichkeitsverfälschung.

Das ist aber noch nicht alles. Der MUI (Majelis Ulama Indonesia), der Rat indonesischer Islamgelehrter, der faktisch als oberste islamische Autorität des Landes fungiert, wird von Führungsmitgliedern von Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah dominiert. Just dieser MUI entschied in einer offiziellen Fatwa, der christliche Gouverneur habe Blasphemie begangen; eine Entscheidung, die maßgeblich dazu beitrug, die Stimmung in der muslimischen Bevölkerung gegen den Gouverneur zu kippen.

Vorsitzender des MUI ist ein führendes Mitglied der im IPG-Artikel als moderates Bollwerk erscheinenden NU. Es handelt sich um einen Hardliner namens Ma'ruf Amin, der die Fatwa gegen den Christen danach wiederholt verteidigte. Amin ist gleichfalls - so wie die gesamte Führungsspitze von NU und Muhammadiyah - für eine Kriminalisierung von Homosexualität im Land.  In einem anderen Fall freilich setzt Amin sich für Milde ein: Er plädiert dafür, dass der ideologische Anführer der Jihadisten, die die Bombenattentate von Bali 2002 verübten, aus Altersgründen aus dem Gefängnis entlassen wird. Bei den Anschlägen starben über 200 Menschen (mehr im Guardian). Und solche Leute sollen das größte muslimische Land der Erde vor dem Islamismus schützen?

Gewiss, in beiden Organisationen, NU wie Muhammadiyah, gab es während der Zeit der Blasphemie-Demonstrationen auch Teile der Führung und einzelne Kleriker, die die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke verurteilten - allerdings waren es eben nur Teile, und es blieb an der Basis weitgehend wirkungslos. Nicht zuletzt weil es andere, dem Augenschein nach größere, in jedem Fall lautstärkere Teile gab, die sich der Hasskampagne gegen den christlichen "Blasphemiker" anschlossen und den Gouverneur offiziell für schuldig erklärten. Bei der Muhammadiyah beschimpfte eine der prominentesten Führungsfiguren, Amien Rais, den Gouverneur offen als "Ungläubigen". Rais wie andere machen ihre Nähe zu den Positionen islamistischer Hardliner bis heute ebenso häufig wie sanktionslos deutlich.

Ein letztes Beispiel: Am 5. Februar 2017 organisierte ein gemäßigtes Mitglied der NU eine religiöse Rallye in der Hauptstadt, um Unterstützung für den christlichen Gouverneur unter NU-Anhängern zu mobilisieren. Am nächsten Tag distanzierte sich der zuständige Ortsverband Jakarta in einer offiziellen Stellungnahme scharf von dieser Aktion. Er rief gleichzeitig die Anhänger der NU dazu auf, bei den Gouverneurswahlen den christlichen Amtsinhaber nicht zu unterstützen. So sind die Machtverhältnisse zwischen Moderaten und Islamismusnahen.

Mir fehlt hier der Platz für weitere Beispiele. Jedenfalls sollte deutlich geworden sein, dass die Fakten für eine Beschreibung der beiden großen muslimischen Massenorganisationen in Indonesien als "moderat" keinen Raum lassen. Noch weniger dafür, dass ihr Verhalten während der Blasphemiehetze gegen den christlichen Ex-Gouverneur Anlass dafür gäbe, aus ihnen ein Bollwerk gegen den islamischen Fundamentalismus zu konstruieren.

Im besten Fall könnten wir davon sprechen, dass es in den oberen und mittleren Führungsebenen beider Organisationen auch vergleichsweise moderate Stimmen gibt, neben ultra-konservativen und mit dem Islamismus sympathisierenden. Darüberhinaus kann man sagen, dass es in beiden Organisationen, speziell in der NU, auch moderate Aktivisten und Intellektuelle gibt -  die jedoch nicht mehr repräsentativ für die Basis sind, falls sie es denn jemals waren. Die wenigen wirklich moderaten Mitglieder beider Organisationen waren spätestens Ende 2016 in heller Panik wegen der Entwicklungen. (mehr in der FAZ) Das ist ein Hauptgrund, warum mir einer dieser Moderaten, Kyai Haji Yahya Cholil Staquf, für die FAZ im Sommer 2017 ein Interview gab, in dem er die Entwicklungen im Islam weltweit scharf kritisierte. Mit einer Schönfärbung der Realität wie durch das IPG-Journal, fällt man den moderaten Muslimen in den Rücken, die für ihren Mut jede Unterstützung verdient haben.

Kommen wir zu Punkt 2: Hat das bevölkerungsreichste muslimische Land der Erde - das Indonesien tatsächlich ist - dem religiösen Extremismus tatsächlich bis heute widerstanden? Auch das ist eine unhaltbare Aussage, nicht nur wegen der historischen islamistischen Bewegungen, die im IPG-Artikel erwähnt werden. Faktisch hat der wachsende islamische Fundamentalismus auch in der Gegenwart, schon lange vor 2016, zu einem massiven Anstieg der Intoleranz gegenüber den religiösen Minderheiten im Land geführt. Das traf zunächst vor allem die als Häretiker geltenden muslimischen Minderheiten, die Schiiten und die Ahmadiyya-Gemeinschaft (die sich auch in Deutschland gegen die Bezeichnung "Sekte" wehrt). Bis heute werden Ahmadiyya quer durch Indonesien aus Dörfern und Städten vertrieben, ihre Moscheen geschlossen. Als "gelegentliche Spannungen und Konflikte" (Magnis-Susenos Formel zur Beschreibung religiöser Konflikte in Indonesien im IPG-Beitrag ) kann man das nur dann bezeichnen, wenn man von der verschwindend kleinen Größe dieser Minderheit in Indonesien absieht. Wenn man sie aber einkalkuliert, ergibt sich das Bild einer systematischen Verfolgung, die zudem bis heute anhält.

Die zunehmende Intoleranz traf aber schon lange vor Ende 2016 auch Christen. Die Stadt Yogyakarta, in der der oben erwähnte Schwertangriff auf einen katholischen Priester und Gottesdienstbesucher stattfand, ist dafür ein besonders drastisches Beispiel. Die Stadt und umgebende Provinz waren vor der Fundamentalisierung Indonesiens einmal das Kernland eines spirituellen, moderaten Islams. Alle Untersuchungen in den letzten Jahren weisen darauf hin, dass sie inzwischen zu einem Zentrum religiöser Intoleranz geworden sind.

Das moderate Wahid Institute, benannt nach dem vierten Staatspräsidenten Indonesiens, hat bereits seit vielen Jahren immer wieder vor dieser Entwicklung gewarnt. Seit 2014 ist es jedes Jahr wieder zu dem Ergebnis gekommen, dass Yogyakarta an zweiter Stelle liegt, wenn es um religiöse Intoleranz geht (mehr in der Jakarta Post).

Zwei Wochen vor dem oben erwähnten Schwertangriff auf eine katholische Kirche im Februar 2018 verhinderten muslimische Gruppen eine Wohltätigkeitsaktion einer anderen katholischen Gemeinde in Yogyakarta. Der Vorwurf war eine Missionierung unter Muslimen. Selbst der Sultan von Yogyakarta, er ist gleichzeitig der Gouverneur, unterstützte die Radikalen gegen die christliche Minderheit (diese Unterstützung wurde erst nach Erscheinen des IPG-Artikels von Magnis-Suseno bekannt.) Noch bis vor kurzem wollten viele in ihm eine Galionsfigur gegen den Islamismus sehen, denn seine eigene Herrschaftslegitimation beruht auf einer synkretistischen Form des Islams. Vor eineinhalb Jahren blockierten Muslime in Yogyakarta monatelang die offizielle Amtseinsetzung eines Unter-Bezirksvorstehers wegen seiner katholischen Religionszugehörigkeit. Sie wurden dabei von den Mehrheitsfraktionen im Bezirksrat unterstützt. Wie gesagt - Stadt und Provinz waren einmal ein Zentrum des spirituellen, moderaten Islams im Land. Sie sind auch ein Kernland des moderaten Flügels der NU. Wenn es dort so zugeht, wieviel Einfluss kann man diesem Flügel dann wirklich noch zusprechen? Oder wie moderat kann man ihn mehrheitlich noch nennen?  

Wenn Magnis-Suseno mit Toleranz oder moderatem Islam meint, dass Muslime und Nicht-Muslime sich nicht jeden Tag überall in Indonesien an die Gurgel gehen, dann hätte er Recht. Aber sind wir wirklich schon so weit, dass wir dieses Zivilisationsminimum als erwähnenswert betrachten wollen?  Und selbst dieses Minimum ist häufiger nicht gegeben. Im Sommer 2016 brannten Dutzende buddhistische Tempel und Pagoden auf Sumatra. Eine buddhistische Indonesierin hatte es gewagt, sich über die Lautstärke der Übertragungen aus einer Moschee in ihrer Nachbarschaft zu beschweren.  

Aber kommen wir, um dieses traurige Thema abzuschließen, zu dem, was moderate Muslime bereits seit langem als schleichende "Schariaisierung" Indonesiens beklagen: Seit der Demokratisierung Ende der neunziger Jahre bis heute werden in immer mehr Gegenden Scharia-inspirierte Lokalgesetzgebungen eingeführt. Sie nötigen Frauen zum Tragen eines Kopftuchs, wenn sie staatliche Einrichtungen in Anspruch nehmen wollen oder im öffentlichen Dienst tätig sind. Zum Teil - so etwa in Padang - werden auch Nicht-Musliminnen, also auch Christinnen, diesem Kopftuchzwang unterworfen, darunter Schülerinnen und Studentinnen staatlicher Bildungseinrichtungen. Teils gehen die Regelungen soweit, dass Frauen abends ohne Ehemann oder direkten männlichen Verwandten nicht das Haus verlassen dürfen. In allen betroffenen Regionen mit solchen sogenannten "Perda Syariah", das heißt lokalen Scharia-Regulierungen, wird - das wird niemanden überraschen - hauptsächlich weibliches Verhalten und weibliche Kleidung reguliert.

Beispiele für den Kopftuch-Zwang gibt es jede Menge. In Cianjur in West Java, wurde zusätzlich bereits in den nuller Jahren eine Propaganda-Kampagne mit Schildern am Straßenrand durchgeführt: "Zivilisierte Frauen tragen Kopftuch". Die Lokalregierung in Tangerang, einer Satellitenstadt Jakartas, hat bereits 2006 ein sogenanntes Anti-Prostitutionsgesetz eingeführt, nach dem Frauen verhaftet werden können, wenn ihre Erscheinung bei der Polizei  den Anschein erweckt, bei ihnen handele es sich um eine Prostituierte. Viele Frauen in Tangerang sollen seitdem damit begonnen haben, ein Kopftuch zu tragen, aus Angst, sonst der Prostitution bezichtigt zu werden. In einem bekannten Fall wurde eine Frau wegen Prostitution verurteilt, weil sie Make-up und Lippenstift in ihrer Handtasche hatte.

Ich erwähne diese  Beispiele, um zu zeigen, dass diese Entwicklung nicht neu ist. Sie begann mit der Demokratisierung des Landes 1998 und beschleunigte sich ab 2004. In einer Veröffentlichung von 2009 wurde geschätzt, dass schon damals ungefähr 10 Prozent aller mehrheitlich muslimischen Gebiete im Land betroffen waren. (hier als pdf-Dokument). Eine neuere Studie von Michael Buehler, einem Experten des renommierten Centre of South East Asian Studies der University of London, geht davon aus, dass im Zeitraum zwischen 1998 und 2013 wenigstens 443 Scharia-Regelungen in Indonesien eingeführt worden sind. Diese konzentrieren sich nach Buehler zwar zu gut zwei Dritteln auf sechs Provinzen des Landes. Allerdings handelt es sich dabei um die bevölkerungsreichsten Provinzen, in denen die Hälfte der indonesischen Staatsbürger lebt. Wie alle Islamisierungstendenzen hat sich auch dieser Trend in Indonesien in den letzten Jahren weiter beschleunigt. Daten von Komnas Perempuan, der nationalen Kommission gegen Gewalt an Frauen, belegen, dass zwischen Anfang 2009 und August 2016, insgesamt 421 Scharia-Regelungen von Lokalregierungen in Indonesien eingeführt worden sind, darunter vor allem solche, die die "Moral" regulieren und die Kontrolle von Frauen über ihren eigenen Körper einschränken. (mehr in der Jakarta Post).

Die bevorstehende Gesetzesreform in Indonesien droht nun die andauernde, erschreckende Verfolgung von Homosexuellen in Indonesien auf dann gesetzlicher Basis eskalieren zu lassen. Sie wird auch verheerende Folgen für indonesische Frauen haben. Insbesondere, wenn künftig tatsächlich jeglicher vor- und außerehelicher Sex gesetzlich verboten wird, wonach es nach wie vor aussieht. Lokale NGOs gehen davon aus, dass Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigen, von Opfer zur Tätern gemacht würden. Wenn die Frauen ihre Vergewaltigung nämlich nicht "beweisen" könnten, würde man ihnen außerehelichen Sex vorwerfen. Tatsächlich ist das in vielen arabischen Ländern gängige Praxis. Aber die westliche Öffentlichkeit nimmt es normalerweise nur dann zur Kenntnis, wenn diese Barbarei westliche Expats oder Touristinnen betrifft (etwa hier). Um der Anklage außerehelicher "Unzucht" zu entgehen, würden bald auch in Indonesien Zwangsheiraten von Frauen mit ihren Vergewaltigern zunehmen, befürchtet Naila Rizqi Zakiah von der NGO LBH Masyarakat (mehr hier). Ebenso Kinderheiraten, die schon jetzt ein gravierendes Problem sind.

Frauenrechte sind Menschenrechte. Das sagen SPD und Friedrich-Ebert-Stiftung immer wieder. Erst gerade wieder zum Internationalen Frauentag am 8. März, hier und hier.

Gelten diese Rechte nicht in mehrheitlich muslimischen Ländern? Oder wie kommt es, dass das IPG-Journal unkommentiert einen Artikel publiziert, in dem die jahrzehntelange Erosion von Frauenrechten in Indonesien unter dem Ansturm des muslimischen Extremismus, noch nicht einmal erwähnt wird? Und das, obwohl es in dem Artikel um den Stand des Islamismus in Indonesien geht?

Reden wir also weiter über Punkt 3, die Menschenrechte. Pater Magnis-Suseno hat sich stets als Verfechter von Menschenrechten verstanden und wird auch im erklärenden Kasten seines IPG-Artikels so bezeichnet. Er war in der Vergangenheit tatsächlich häufig eine wohltuende Stimme des Ausgleichs und der Vernunft in Indonesien. Aktuell steht dort, unter dem Einfluss des neuen religiösen Totalitarismus, die LGBT-community unter existentiellem Druck. Seit 2016 eskaliert ihre Verfolgung, in den letzten Monaten ganz massiv. Eine zunehmende Anzahl von Lokalregierungen hat "Anti-LGBT-Sonder-Einsatz-Kommandos" eingerichtet, darunter Satellitenstädte der Hauptstadt Jakarta. Auch in der Hauptstadt selbst wurden Privatwohnungen gestürmt und bei Razzien in schwulen Clubs Hunderte Männer festgenommen und zu bis zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei ist Homosexualität national noch gar nicht verboten. Ein bereits 2008 verabschiedetes  Gesetz gegen Pornografie - schon das ein Sieg der Islamisten (mehr hier) - wird entsprechend uminterpretiert. Schwule und lesbische Paare verlieren ihr Zuhause, es wird von Nachbarschaftsmobs gestürmt oder der Polizei (mehr hier). Mit der Hexenjagd sympathisierende Medien führen die Homo-Paare mit Fotos und unter Angabe der genauen Adresse vor (mehr hier). Alles noch ohne Gesetzesgrundlage. (Allein die letzten Beispiele sind nach der Veröffentlichung des IPG-Artikels erschienen.)

Und die indonesienweite Kriminalisierung von Homosexualität steht unmittelbar bevor. Ein führender Politiker einer islamistischen Partei (PAN) - sie ist an der Regierung beteiligt - fordert die Todesstrafe oder lebenslänglich. Kein anderer Politiker seiner Partei hat ihm widersprochen. Das einzige, was Schwule, Lesben und Transsexuelle in Indonesien jetzt vielleicht noch retten könnte, ist ein Aufschrei im Westen.

In Indonesien hat sich Magnis-Suseno vor die LGBT-community gestellt - dafür gebührt ihm Respekt, auch wenn es in einer englisch-, nicht indonesischsprachigen Publikation war, was die Reichweite ausgesprochen einschränkt. Warum gibt es in seinem Artikel für ein deutsches Publikum über das Thema kein Wort  - ist der Umgang mit Schwulen und Lesben für die Frage nach dem Stand des islamischen Extremismus irrelevant?

Über die individuellen Gründe von Pater Magnis kann man nur spekulieren. Wie einleitend gesagt, kann es nicht einfach sein, mit der Realität eines stets intoleranter werdenden Islams umzugehen, wenn man sein Leben dem interreligiösen Dialog gewidmet hat. Warum ein SPD-nahes Journal sich allerdings nicht wenigstens ergänzend um eine realistischere Einschätzung der Lage in Indonesien für religiöse Minderheiten, für Frauen, für Schwule, Lesben und Transsexuelle bemüht, ist nicht nachvollziehbar.

Das Bündnis "Internationale Advocacy Netzwerke" (IAN), an dem aus Deutschland unter anderem "Watch Indonesia!" beteiligt ist, hat an die deutsche Politik in seinem gerade veröffentlichten Menschenrechtsbericht 2018 eine Aufforderung formuliert (hier als pdf-Dokument): Sie solle sich dafür einsetzen, dass die Beziehungen zu Indonesien "auf einer ... aktuellen Darstellung des Landes basieren, welche nicht längst überkommene Floskeln bezüglich Harmonie und Toleranz repetiert, sondern die massive Verschlechterung hinsichtlich des Minderheitenschutzes und der Meinungsfreiheit anerkennt und in Gesprächen thematisiert." Das IPG-Journal hat sich dafür entschieden, stattdessen weiter "überkommene Floskeln" zu verbreiten. Darf man fragen, warum?

Neben der konkreten hat der Fall IPG-Magnis-Suseno eine allgemeinere Dimension. Denn dieses Muster lässt sich immer wieder beobachten: Der Islam nicht nur in Indonesien driftet nun schon so lange und so eindeutig in eine fundamentalistische Richtung ab, dass pauschalen Islam-Verteidigern nur noch zwei Optionen zu bleiben scheinen. Entweder die Realität ganz oder in Teilen zu leugnen. Oder aber noch den verheerendsten Entwicklungen einen westlichen, pseudoliberalen Segen zu geben. Der IPG-Beitrag über Indonesien geht den ersten Weg. Was für eine erstaunliche Treulosigkeit gegenüber der eigenen Tradition.

Marco Stahlhut