Essay

So müssen wir es kitten

Von Jochen Hörisch
20.11.2019. Man (und frau) kann der Sprache Gewalt antun. Und eine gewalttätige Sprache kann zu physischer Gewalt führen. Die ins Extrem getriebene Genderisierung und Political Correctness in der Sprache und die sprachliche Enthemmung, die auf Verletzung, ja Vernichtung einer Person zielt, sind Komplementärphänomene. Zu bekämpfen sind beide im Namen der Zivilität.
Wie begrüßt man/frau in öffentlicher Rede eine Oberbürgermeisterin? Heutzutage selbstredend mit der Anrede "Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin". Selbstverständlich ist diese Anrede aber nicht. Noch in meiner Jugendzeit und in meinen jungen Erwachsenenjahren (das ist lange her, aber so lang eben auch wieder nicht), war es durchaus üblich, von der Frau Bürgermeister oder der Frau Minister zu sprechen und sie auch so anzureden. Noch heute ist die Bezeichnung "Frau Doktor" statt "Frau Doktorin" auch in Kreisen, die sich um politisch korrektes und gendergerechtes Sprechen bemühen, verbreitet.

Die linguistische Begründung für solche maskuline Titelformeln ist schnell angeführt: gemeint ist eine Amtsbezeichnung beziehungsweise ein akademischer Titel, die oder der nicht - um es neudeutsch auszudrücken - gegendert werden muss, weil es eben nicht um das Geschlecht des Titelträgers oder der Amtsträgerin, sondern um Amt und akademischen Grad geht. Nun ist es aus vielfachen Gründen schlechthin plausibel und geboten, die Oberbürgermeisterin mit dieser femininen Wendung anzusprechen. Zu den so üblichen wie überzeugenden Gründen tritt ein nur selten bedachter hinzu: die weibliche Anredeform "Frau Oberbürgermeisterin" ist grammatisch und semantisch völlig unproblematisch, und sie ist elegant möglich, sie vermeidet schrille Töne und unfreiwillige oder billigend in Kauf genommene Komik, sie ist gänzlich unverkrampft.

Man muss kein Philologe, also kein übersensibler Freund des Wortes sein, um eine gewisse Irritation zu spüren, wenn nach der völlig plausiblen und heute aus gutem Grund fast alternativlosen Anrede "Frau Bundeskanzlerin" die Worte "Doktorin Merkel" folgen - "wir begrüßen die Bundeskanzlerin Frau Doktorin Angela Merkel". Ebenso klänge es, wenn nicht schrill, so doch schräg, wenn man/frau statt "Frau Bürgermeisterin" "Frau Bürgerinnenmeisterin" sagen würde. Politisch korrekt und gendergerecht wäre die Wendung "Bürgerinnen- und Bürgermeisterin" allemal - steht das Stadtoberhaupt doch nicht nur den Bürgern, sondern auch den Bürgerinnen vor.

Und so läge es nahe, in Stadtrats- und rätinnensitzungen über die dringende Reparatur von Bürgerinnen- und Bürgersteigen und über die Neuanschaffung von Rednerinnen- und Rednerpulten zu diskutieren und zu entscheiden (die Wendung "Redendenpult" käme natürlich (?) auch in Frage, es wäre eine Analogiebildung zu dem Wort "Studierende", das sich ja durchgesetzt hat). Denn man/frau kann ja nicht ernsthaft wollen, dass nur männliche Bürger das Recht haben, Bürgersteige und Rednerpulte zu erobern. Aber wie schräg, wie schrill klänge es, wenn wir nun systematisch von Bürgerinnen- und Bürgersteigen, von Rednerinnen- und Rednerpulten, gar von Redendenpulten reden würden? Die Grenze zur Absurdität wäre endgültig überschritten, wenn man/Mann sich darüber beschweren würde, dass das Präfix Ober- im Wort Oberbürgermeister diskriminierend ist, weil Ober ja den Kellner bezeichnen würde, oder wenn frau fordern würde, nicht nur dem Ober, sondern auch der Oberin Respekt zu erweisen, so dass die korrekte Anrede für die Oberbürgermeisterin wäre: Frau Oberinbürgerinnen- und -Bürgermeisterin.

Politisch korrekt wäre es überdies, daran zu erinnern, dass es nicht nur zwei, sondern viele (bi-, trans-, cis- et cetera) Geschlechter gibt, so dass die politisch korrekte Anrede der Dame, die einst als Frau Oberbürgermeisterin tituliert wurde, lauten müsste: Frau Oberinbürgerinnen-, bürger-, bi-, trans- und cis-Meisterin. Was aber ist mit denen, die staatsrechtlich gesehen nicht den Status von Bürgerinnen haben - mit Migranten, Schutzbefohlenen, Asylsuchenden, Gästen et cetera. Ist die Frau, die da Oberin-et cetera tituliert wird, nicht auch für die da, die keine einschlägigen Ausweispapiere mit sich führen? Wie aber baut man/frau diese Gruppe in die politisch korrekte Anrede ein? Wenn Anreden und Ämterbezeichnungen für Vielheiten sensibel sein sollen, lässt sich umso schmerzlicher registrieren, dass diese oder jene Gruppe doch noch ignoriert wird.   

Schräge Töne, schrille Töne, Krampf im Kampf um gerechte Sprache? Es ist eine irritierende Gesetzmäßigkeit, dass Revolutionen aller Art nach überzeugenden und plausiblen Anfängen alsbald in gespenstische Sphären geraten. Aus der revolutionären Erhebung gegen feudales Unrecht erwächst eine jakobinische Massenmordlust; der Aufstand gegen zaristische Unterdrückung und Gewalt schlägt alsbald in den stalinistischen Terrorstaat um; die kommunistische Revolution gegen imperialistische Mächte lässt in Nordkorea einen so lachhaften wie monströsen Feudalstaat hervorgehen, der auf einen vergöttlichten Familienclan ausgerichtet ist; aus dem von vielen bewunderten antikolonialistischen Freiheitskämpfer Mugabe wird ein kleptomaner Despot und Autokrat et cetera.

So gewaltsame Dimensionen hat die Bewegung für politisch korrektes Sprechen bislang nicht angenommen. Unverkennbar aber sind Entwicklungen, die man getrost als problematisch bis pathologisch bezeichnen kann. Problematisch und kritischer Beobachtung würdig ist bereits die regulative Idee einer am Ideal der Korrektheit orientierten Sprachpolitik. Politisch korrekte Sprechweisen vorzugeben - das war und ist, wie unter anderen. Orwells Roman "1984" und Victor Klemperers großer Essay "LTI (Lingua Tertii Imperii)" herausstellen, ein untrügliches Zeichen totalitärer Regimes. Goebbels erließ bekanntlich eine Serie von Sprachregelungen für die Medien; und die DDR schrieb vor, dass man es nicht mit einer "Mauer", sondern mit einem "antifaschistischen Schutzwall" zu tun habe. Es ist hochgradig irritierend, dass die ersichtliche Korrelation von öffentlichen Sprachreglementierungen und totalitären Regimes kaum mehr wahrgenommen wird.

Sprachreglementierungen sorgen für Tabuisierungen und Denkverbote - und damit für unproduktive Paradoxien. Es gehört zu den beunruhigendsten jüngeren Entwicklungen in öffentlichen Debatten, dass noch die offenkundigsten Paradoxien kaum mehr als solche wahrgenommen werden. Um nur drei solcher Paradoxien zu nennen, die sich im Umkreis der political correctness ausbreiten: erstens - viele, die sich als linksliberal verstehen, verharmlosen und protegieren Rechtsradikale (Befürworter der Todesstrafe, Machos, religiöse Fanatiker, Antisemiten, Antidemokraten, Fundamentalisten, Islamofaschisten), wenn sie einen Makel nicht aufweisen: "westlich" geprägt zu sein.  Zweitens - viele, die fest davon überzeugt sind, antirassistisch eingestellt zu sein, schießen sich auf den "alten weißen Mann" ein und verkennen damit, dass sie unverblümt rassistisch-biologistisch daherreden, ist man doch für seine Hautfarbe und sein Alter nicht ernsthaft verantwortlich zu machen. Im Gewand eines Antirassismus kommt ein von vielen akzeptierter, aber nicht als solcher wahrgenommener Rassismus daher. Drittens - die Geschlechterdifferenz sei nicht naturalistisch gegeben, sondern konstruiert, lautet ein weit verbreitetes Mantra. Einmal abgesehen von der Frage, ob diese Theorie ihrerseits offenbar oder konstruiert ist: Gleichgeschlechtliche Leute (wäre es nicht politisch korrekter, von Leuten und Leutinnen zu sprechen?), die sich für hochtechnologisierte Reproduktionsweisen (wie Invitriofertilisation, Leihmutterschaft, Samenspende et cetera) entscheiden, feiern Natur als höchsten Wert (sind ökologisch aktiv, demonstrieren gegen genmanipulierten Mais et cetera). Unbedachte Paradoxien wie diese haben nur dann eine Chance, als unbedenklich zu gelten und ausgeblendet zu werden, wenn sie von starken Sprach- und Sprechtabus geschützt werden.      

Von direkten Sprach- und Sprechverboten sind wir noch entfernt. Aber gouvernantenhafte Interventionen (häufig aus jungen Mündern, die alten weißen Frauen und Männer sind häufig provokationswilliger als die PC-sozialisierten Köpfe) sind an der Tagesordnung: das ist aber ein böses Wort, das darfst du nicht sagen. Was man sagen soll, steht hingegen fest, auch wenn's grammatisch unsinnig ist: nicht Studenten, sondern Studierende (die bekanntlich nicht immer nur studieren, sondern gelegentlich auch Trinkende, Feiernde, Liebende, Schlafende sein können). In den letzten Jahren häufen sich noch groteskere Sprech- und Schreibweisen. Langsam, aber sicher verbreitet sich Anredeformeln wie "Liebe Gästinnen und Gäste" und die Feminisierung des Neutrums - das Mitglied/die Mitgliederinnen, das Opfer/die Opferinnen (männlicher Gewalt), das Kind/die Kinderinnen. Dergleichen wäre einfach nur grotesk, wenn dieser Wahnsinn nicht Methode hätte. Und die Methode folgt dem imperialen Gestus der technoiden Machbarkeit, der gemeinhin bösen weißen westlichen Männern zugeschrieben wird: alles Natürliche und Gewachsene lässt sich formen, designen, gänzlich neu machen - auch die Sprache und das Sprechen. Semantische, grammatische, stilistische Vergewaltigungen sind gerade bei Leuten, die in jedem flirtenden Blick und jeder frivolen Bemerkung eine Übergriffigkeit, wenn nicht eine Vergewaltigungsabsicht erkennen zu müssen glauben, an der Tagesordnung.       

Dass die Rede von der Tiefenstruktur beziehungsweise Natur einer Sprache nicht in finstere Sphären reaktionären Denkens führt, sondern schlicht angemessen ist, lässt sich gerade im Hinblick auf Probleme gendergerechten Sprechens schnell aufweisen. Um wiederum vergleichsweise harmlose Beispiele anzuführen: Das Wort "Flüchtling" wurde 2015 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres erklärt. In der Begründung wird angemerkt, das Wort klinge "für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig" - denn die Silbe "ling" habe abwertende Dimensionen (wie in "Eindringling"). Nun gibt es aber sehr gebräuchliche Worte wie Frühling, Zwilling, Liebling, für die das erkennbar nicht gilt. Auf "ling" endende Worte haben jedoch die bemerkenswerte Eigenschaft, keine femininen Varianten zuzulassen. Ein Liebling, ein Darling kann weiblichen Geschlechts, kann trans-, cis-, divers  sein. Soll man deshalb von einer Lieblingin, einer Zwillingin, einer Feiglingin sprechen? Ist es nicht grob diskriminierend, zu unterstellen, ein Feigling müsse männlich sein - denn nur Männer könnten auch wahren Mut beweisen? Warum gibt es nur Nazis, aber nicht Naziinnen (man/frau denke an Leni Riefenstahl und Winifred Wagner)?

Wie absurd ein jakobinisches Programm gendergerechten Sprechens ist, wird an einem Umstand deutlich, der ein wenig zu evident ist, um pointiert wahrgenommen zu werden. Das Deutsche beziehungsweise die deutsche Sprache ist nämlich bemerkenswert frauenfreundlich. Werden doch im Deutschen alle Pluralformeln bei bestimmten Artikeln und Pronomen feminin markiert: der Mann, die Männer - sie unterdrücken Frauen. Ob ein Haus, ein Gewehr, ein Auto, ein Unternehmen, ein Diktator, ein Opfer, ein Fahrrad oder eine Nähmaschine - im Plural kommen sie alle mit dem bestimmten Artikel "die" daher; wenn ein Pronomen für sie einsteht, so ist es eben das Pronomen "sie" (sie - die Häuser, die Gewehre, die Autos, die Diktatoren et cetera). Nun sind psycholinguistisch gesehen der Artikel "die" und das Pronomen "sie" eindeutig weiblich konnotiert. Was für ein Skandal: alle Männer (Häuser, Autos et cetera) werden, wenn sie in Mehrzahl auftreten, verweiblicht. Das ist ersichtlich eine grobe Ungerechtigkeit, sowohl aus feministischer Sicht (die Masse ist weiblich, das ist inakzeptabel) als auch aus patriarchalischer Sicht (Männer werden, wenn es mehr als einen von ihnen gibt, sprachlich verweiblicht - wo kommen wir da hin).

Abhilfe angesichts solcher tiefsitzenden sprachlichen Inkorrektheiten (die man/frau verharmlost, wenn man/frau sie als Mikrogewalt charakterisiert) ist geboten und möglich. Man kann die Pluralformen wechseln und freigeben, indem man den Singular-Artikel "der" und das Singular-Pronomen "er" auch als Pluralformen zulässt (analog zu "sie", "die" Frau, und "sie", "die" Frauen). Korrekt wären dann Satzfolgen wie: der Mann traf andere Männer. Der Männer näherten sich übergriffig Frauen, er waren alle aggressiv. Der Frauen aber ließen sich das nicht gefallen. Er schlossen sich zusammen und wurden Feministinnen et cetera. Um zuzuspitzen: wer entschieden für eine gendergerechte Sprache plädiert, muss aus psycholinguistischer und PC-Sicht bei elementaren Schichten ansetzen: die durchgängig feminine Pluralbildung bei Personalpronomina und bestimmten Artikeln ist aus der Sicht der Gendergerechtigkeit inakzeptabel und sollte im öffentlichen wie privaten Sprechen zugunsten eines regelmäßigen Wechsels von die/der- und sie/er-Pluralbildungen ersetzt werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: die frühe feministische Sprachsensibilisierung war produktiv; viele der von ihr kritisierten Sprech- und Benennungsweisen waren zum Teil  wirklich grotesk, lachhaft und peinlich (etwa die Übung der Meteorolog*innen, alle Hochs mit männlichen und alle Tiefs mit weiblichen Namen zu versehen). Wer Interesse an erfolgreichen Reformen hat, wer sensibel für Mikro- bis Mezzogewalt im Umgang mit Sprache ist, wer die Beachtung von Höflichkeitsregeln höher schätzt als die Gouvernant(inn)en- bis Blockwärterinnenhafte Durchsetzung von Sprech-Vorschriften, wer das Recht auf freie Rede für ein hohes Gut hält, ist gut beraten, die unverkennbar jakobinischen und stalinistischen Tendenzen in neueren Debatten um Gendergerechtigkeit und politische Korrektheit zu verlachen. Vergewaltigungen der Sprache können ein gewaltiges Gewaltpotenzial entbinden.

***

Zu den definitiv nicht komischen neueren Tendenzen in öffentlicher Rede gehört, dass die zwangsneurotische Übertribunalisierung nicht gendergerechten Sprechens eine gespenstische Entsprechung findet: nämlich eine in jedem Wortsinne unerhörte kommunikative Brutalisierung. Shitstürme, Beleidigungen, verbale Aggressionen bis hin zu Morddrohungen und Stillosigkeiten ungeahnten Ausmaßes auch in öffentlichen Reden nehmen signifikant zu. An Beispielen von rechts und links herrscht kein Mangel. Ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist die Äußerung des AfD-Spitzenpolitikers Alexander Gauland, der bei einer Wahlkampfveranstaltung im thüringischen Eichsfeld die Entsorgung der damaligen SPD-Vizevorsitzenden und Staatsministerin Aydan Özoguz forderte. "Ladet sie mal ins Eichsfeld ein und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können." Aus dem Mund dieses Politikers, der sich, auch wenn er Einstecktücher trägt, nicht ernsthaft als feiner Konservativer verstehen kann, kam auch die Äußerung, "Hitler und die Nazis" seien "nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte".

Verbale Entgleisungen in freier Rede? Gaulands Parteifreund, der AfD-Bundestagsabgeordnete Peter Boehringer, bezeichnete im Januar 2016 in einer Rundmail die Bundeskanzlerin mit Bezug auf ihre Flüchtlingspolitik als "Merkelnutte": "Die Merkelnutte lässt jeden rein, sie schafft das", heißt es in dieser mail. Und weiter: Es handele sich "um einen Genozid, der in weniger als zehn Jahren erfolgreich beendet sein wird, wenn wir die Kriminelle nicht stoppen". Der AfD-Politiker aus Bayern war sich seiner unflätigen Wortwahl offenbar bewusst: "Wer sich über die Sprachwahl in diesem Mailing aufregt: einfach abmelden." Es handele sich um die "einzige angemessene Sprache ... gegen Merkel". "Die Alternative zum Nicht-Widerstand gegen diese Dirne der Fremdmächte ist der sichere Bürgerkrieg, den wir ab spätestens 2018 dann verlieren werden!"

Man muss bis zu den widerlichen Äußerungen der RAF-Terroristen zurückgehen, um in der Geschichte der Bundesrepublik auf eine ähnlich brutale Polit-Rhetorik zu stoßen. In ihrem Spiegel-Interview vom 25. Juni 1970 hatte sich Ulrike Meinhof so vernehmen lassen: "Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden." Die Nähe der RAF zu den Nazis in Worten und eben auch Taten ist unüberhör- und unübersehbar. Um nur einige wenige Daten in Erinnerung zu rufen: Dieter Kunzelmann stiftete am 9. November 1969 den Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin an. Der fanatische Antisemit Horst Mahler kam von der NPD zur RAF und wechselte dann wieder zur NPD. In palästinensischen Trainingscamps lernten die RAFler, was auch ihre Nazi-Väter konnten und taten: Juden töten; nebenan probte die Wehrsportgruppe Hoffmann. Der Mitgründer der Roten Zellen, Wilfried Böse, selegierte die israelischen, jüdischen und mit jüdisch klingenden Namen versehenen Passagiere des von der RAF und Palästinensern entführten Flugzeugs im ugandischen Entebbe. Der Sprachbrutalisierung folgte auch bei den RAF-Terroristen enthemmte Mordbereitschaft.
 
Man muss nicht einmal diesen Hintergrund in den Blick nehmen, um entsetzt zu sein über die kühl kalkulierte Entgleisung des Komikers Jan Böhmermann. Er hatte am 31.März 2016 in der Sendereihe "Neo Magazin Royale" auf ZDFneo ein Schmähgedicht auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan zum Besten gegeben - mit wiederholten satirischen Hinweisen darauf, dass dergleichen Schmähreden juristisch verboten seien    

Das Aggressions- und Destruktionspotenzial der rhetorischen Figur, man formuliere nur Beispiele für Äußerungen, die verboten seien, man sage nur, was man nicht sagen dürfe, ist sofort ersichtlich. Er öffnet rassistischen, faschistischen, mordlüsternen, aggressiven und beleidigenden Impulsen Tür und Tor. Auf den von Jan Böhmermann aktivierten plumpen Trick kann sich in freien Gesellschaften, die ja keine Sonderrechte für Satiriker kennen, jeder berufen, der Hetz- und Hassreden, Mord- und Pogromaufrufe lancieren möchte. Der vielzitierte Satz von Tucholsky, die Satire dürfe alles, ist in sich widersprüchlich (wie fast alle All-Sätze) - sie darf dann auch das Verbot der Satire und die öffentliche Folterung und Hinrichtung von Satirikern fordern.

Auch Satiriker dürfen nicht falsch parken, Steuern hinterziehen, rauben, morden. Problematischer noch als Böhmermanns monströse Dummheit ist der Zuspruch, den er mit seiner als Satire verpackten Hassrede in weiten Kreisen, eben und gerade auch bei AfD-Politikern gefunden hat. Sein TV-Auftritt sei durch das Recht der Meinungs- und Kunstfreiheit gedeckt, befanden viele, die sich für kritische Köpfe halten. Bei der Bundestagsdebatte vom Mai 2016 über den Fall Böhmermann wurde die unproduktive, destruktive, vollendet dämliche Qualität dieser satirischen Hassrede deutlich. Der CDU-Hinterbänkler Detlef Seif tat etwas sehr Sinnvolles: er zitierte den Text des Schmähgedichts. Die Irritation im Hohen Haus war groß - es hagelte Zwischen- und Ordnungsrufe. Jedoch: der Abgeordnete hat den Text vorgetragen, den öffentlich zu äußern viele Abgeordnete, die Böhmermanns Auftritt rechtfertigten, angemessen fanden. Er tat also genau das, was seine Kritiker richtig und zugleich unmöglich fanden.

Man muss nicht, kann aber in diesen Kontexten an Kants kategorischen Imperativ erinnern. Den Kantischen Test besteht Böhmermanns Text gewiss nicht: handle stets so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit gültiges Gesetz werden könne. Böhmermann ist verantwortlich für eine diskursive Katastrophe; sein Sprechen lizensiert jede Form rassistischer, faschistischer, vernichtungswilliger Rhetorik, wenn sie nur in die rhetorische Figur eingebettet ist, zu sagen, was man nicht sagen darf. Mal ganz abgesehen davon, dass er Erdogan, den er doch scharf angreifen wollte, stärkte: so unfein, stillos, aggressiv wie dieser deutsche Komiker ist der türkische Despot, um den sich seine Fans denn auch sofort scharten, nicht. Es handelt sich, um höflich und zurückhaltend zu formulieren, bei Böhmermanns berüchtigtem Auftritt in einem öffentlich-rechtlichen Sender schlicht um eine unbegreifliche Dummheit.

***

Nun wäre die monströse Fehlleistung eines schlechten Satirikers nur ein indigniertes Achselzucken wert, wenn Jan Böhmermanns stillose und unerzogene Rhetorik nicht im Trend läge. Er spricht ähnlich enthemmt wie Donald Trump. In ihrem zeitdiagnostisch pointierten Buch "Wie Demokratien sterben - Und was wir dagegen tun können" stellen die Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt den seit zwei Jahrzehnten anhaltenden Zerfall der Debattenkultur in den USA dar. Es galt seit den Gründerjahren der USA die ungeschriebene Regel, dass Politiker persönliche und beleidigende Äußerungen über Andersdenkende vermeiden. Politische Meinungsverschiedenheiten waren und präsentierten sich als eben dies: sachlich unterschiedliche Optionen, die systematisch von persönlichen Diffamierungen absahen. Das Erschrecken über das Ende dieser Debattenkultur hält nicht bei allen an; mit Donald Trump ist die ordinäre Hetzrede im Weißen Haus angekommen. Seine berüchtigten Twittermitteilungen machen darauf aufmerksam, dass das Internet kommunikativen Enthemmungen Tür und Tor öffnet. Eine für unfeine Leute ideale Konstellation: wenn der mächtigste Mann der Welt sich so äußert, dann kann ich mich, ohne dass ein gatekeeper mich daran hindert, an ihm orientieren, auf ihn berufen, ihm nacheifern.

In den Worten von Levitsky und Ziblatt: "Hätte vor 25 Jahren jemand von einem Land gesprochen, in dem Politiker im Wahlkampf ihren Rivalen androhen, sie ins Gefängnis zu werfen, politische Gegner die Regierung beschuldigen, die Wahl zu manipulieren oder eine Diktatur einzuführen, und Parteien ihre Parlamentsmehrheit nutzen, um Präsidenten ihres Amtes zu entheben und die Besetzung von Richterposten zu verweigern, hätte man wahrscheinlich an Ecuador oder Rumänien gedacht, aber bestimmt nicht an die Vereinigten Staaten. / Dem Zerbröckeln der grundlegenden Normen der gege Achtung und Zurückhaltung liegt ein Syndrom der Parteipolarisierung zugrunde. Obwohl die Polarisierung mit der Radikalisierung der Republikanischen Partei begann, sind ihre Folgen im gesamten politischen System der Vereinigten Staaten zu spüren." (S. 195 f.) 

Beide Tendenzen - die hysterisch und hybrid gewordene Bewegung der political correctness und die diskursive Enthemmung im Zeitalter von Internet und Trump - sind Komplementärphänomene. Wer gegen diese Tendenzen in aufklärungskonservativer Weise Werte wie guten Stil, feines Benehmen, Ironie und Sprachsensibilisierung in Erinnerung ruft, weiß, dass er auf absehbare Zeit eine eben nicht mehr nur belächelte, sondern verlachte Figur sein wird. Sei's drum. Max Kommerell (dessen Namen kaum einer mehr kennt) hielt lakonisch fest: 

Die guten alten Sitten,
sie gelten immer noch.
Und haben sie ein Loch,
so müssen wir es kitten. 

Jochen Hörisch