Essay

Die allmächtige Waffe der Relativierung

Von Aleida Assmann
02.06.2020. Wer hat hier unter dem Vorwand, über Achille Mbembe zu sprechen, das Bedürfnis, alte Haltungen zu korrigieren und alte Rechnungen zu begleichen? Aber die Skandalisierung Mbembes verkennt, dass Erinnerungen nicht nur in Form der Polarisierung, Aufrechnung und gegenseitiger Negierung existieren. Eine Replik auf Thierry Chervels Essay "Je nach Schmerz".
Aleida Assmann antwortet hier auf Thierry Chervels Essay "Je nach Schmerz" zur Mbembe-Debatte (.D.Red.)

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Obwohl es hier um ernste Themen geht, beginne ich meine Überlegungen mit einem Witz. Zwei Männer beleidigen sich auf der Straße und gehen aufeinander los. Kommt ein Dritter vorbei und fragt: "Ist das eine private Schlägerei oder darf man da mitmachen?" Eine ähnliche Dynamik scheint mir gerade vom Antisemitismusverdacht auszugehen. Es ist ein Klima des Misstrauens und der gegenseitigen Verdächtigung entstanden, das immer weitere Kreise zieht. Dieses Klima erhitzt die Gemüter, versetzt die Intellektuellen in einen Alarmzustand und spaltet sie. Der afrikanische Philosoph Mbembe ist der Stellvertreter, die Projektionsfigur, und auch der Katalysator geworden für eine intellektuelle Rauferei, bei der jeder nach Belieben mitmachen und austeilen kann. Ich frage mich: Was kommt da gerade alles hoch?

Der Streit ist paradox und gefährlich, denn er wirkt wie eine Nebelbombe. Er verunklärt nämlich den wichtigen und - jawohl - stabilen Grundkonsens über das, was sich die deutsche Gesellschaft über die Jahre mühsam erarbeitet hat, und das ist die Anerkennung des europäischen Judenmords als das von Deutschland ausgegangene Menschheitsverbrechen. Dieser ultimative moralische Zivilisationsbruch ist das Fundament, auf dem der Staat, seine Gesellschaft und die deutsche Identität gegründet sind. Ist die intellektuelle Kontroverse, die um Mbembe entstanden ist, ein Anzeichen dafür, dass dieser Konsens in Deutschland brüchig geworden ist oder gar verloren zu gehen droht?

Meine Antwort: der Konsens wird nicht von Intellektuellen in Frage gestellt, die Mbembe lesen oder nicht lesen oder nicht genau genug lesen. Er wird aber tatsächlich massiv in Frage gestellt von Neonazis, fremdenfeindlichen Gruppierungen und anti-israelisch geprägten Einwanderern. Dieser alt-neuen Gefahr müssen wir uns stellen und mit aller Aufmerksamkeit und gemeinsamen Anstrengungen widmen. Der Streit um Mbembe ist eine gefährliche Nebelbombe: er lenkt ab von dieser Aufgabe der Antisemitismusbekämpfung in unserem Land und ist im Begriff, den tragenden Konsens in der Gesellschaft in Frage zu stellen. Wo es um die beherzte Vereinigung der kritischen Kräfte und Verteidigung demokratischer Werte gehen sollte, werden Sprach- und Zensurregeln eingeführt, mit denen ausgerechnet diejenigen angegriffen werden, die sich aktiv und nachhaltig für die Grundwerte dieses Staates und seiner Erinnerungskultur einsetzen.

Wie sind wir in diese Falle geraten? Wie kann es sein, dass die Intellektuellen über den Umweg über Mbmbe sich gerade selbst zerlegen und sich mit Verdacht, angespeichertem Groll und Ressentiments überziehen? Hier ist ein Überbietungskampf entstanden, in dem jeder dem anderen abspricht, die Singularität des Holocaust als das heilige Gut dieses Staates in der richtigen Weise anzuerkennen, zu vertreten und zu verteidigen. Die neue Waffe in diesem Kampf heißt Relativierung.

Dabei gilt der Leitsatz des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, der als Erfinder des Populismus gilt und den Hitler sich als Vorbild genommen hat: 'Wer Antisemit ist, bestimme ich.' Antisemit ist heute nicht mehr, wer den Holocaust leugnet, sondern wer ihn relativiert. Nur was genau heißt Relativieren? Soviel ist klar: es ist das Gegenteil von absolut setzen. Aber was bedeutet das konkret? Das Problem dieses Begriffs ist, dass er keine Konturen und Grenzen hat. Jeder kann ihn als Waffe einsetzen und nach eigenem Gefühl urteilen und verurteilen, was Antisemitismus ist. Aversionen, Intuitionen und Ressentiments lenken den Verdacht.  Auf diese Weise öffnen sich große Spielräume, wie die Debatte zeigt. Im Visier des neuen Relativierungs-Dogmas steht jeder Vergleich, jede Verbindung, jedes in Beziehung setzen aus dieser oder jener Perspektive. Die Idee dahinter ist immer dieselbe: Das Vergleichen nimmt dem, was verglichen wird, etwas weg von seiner Bedeutung und Substanz; es schmälert und verkleinert die singuläre Absolutheit des Holocaust und steht deshalb unter Antisemitismusverdacht.

In einer Zeit, in der Hasskriminalität dramatisch zunimmt und eine rechtsradikale Partei im Bundestag sitzt, die unverhohlen Fremdenfeindlichkeit schürt und sich mit anderen ethno-nationalistischen Parteien gegen die EU verbündet (siehe die Beziehung zwischen Yair Netanyahu und der AfD), halte ich die Skandalisierung Mbembes unter Intellektuellen für eine tragische Verblendung.

Eine neue Qualität hat diese Verblendung für mich in Thierry Chervels These vom zweiten Historikerstreit gefunden (Perlentaucher vom 24. 5. 2020), in dem es nicht mehr um die Singularität oder Rückstufung des Holocaust als Geschichtsereignis geht, sondern um die Relativierung des Holocaust, wobei mir nun die Rolle von Ernst Nolte als Galionsfigur dieser Richtung zufällt. Wie komme ich zu dieser herausgehobenen Position? Paradoxerweise möchte ich meine Auseinandersetzung mit Chervels Thesen auf zwei Sätze von ihm stützen, die ich voll unterschreibe; ich werde sie, um den Argumentationsraum zu erweitern, nur etwas anders kontextualisieren.

Chervel geht ins Jahr 1968 zurück und argumentiert glasklar: "Eine Linke, die nur 'antifaschistisch' dachte, konnte den Holocaust gar nicht in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen." Das sehe ich auch so. Obwohl ich 1968 anfing zu studieren und die Welt um mich herum sehr genau beobachtete, habe ich mich dieser Bewegung nicht angeschlossen. Mein politisches Erweckungserlebnis war 1986 der Historikerstreit. Dieses Ereignis ist auch die Urszene der Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die ja davon ausgeht, dass die Identität einer Gruppe auf Schlüssel-Erinnerungen beruht, die über die Lebensschwelle der Individuen hinweg weitergeben werden.

Die Idee, dass der Holocaust der Gründungsmythos Europas ist, habe ich 1990 zum ersten Mal von meinem israelischen Freund Gaby Motzkin gehört; die Idee, dass der Holocaust eine zentrale Bedeutung für die deutsche Identität hat, steht in allen meinen Büchern. Das Thema hat mich seither nicht mehr losgelassen. Wie übrigens andere Mitglieder der 68er-Generation ebenfalls. Nach meiner Beobachtung hat sich die politisierte 68er Generation durchaus für die NS-Geschichte, den Judenmord und die Täter interessiert, weshalb sie das kollektive Schweigen brach und ihre Eltern und Lehrer angeklagte. Was bisher jedoch nicht differenziert worden ist: es gab eine frühe und eine spätere Phase der 68er Bewegung. Für die Geschichte der jüdischen Opfer haben sich die 68er nämlich erst zwanzig Jahre später interessiert, als sie selbst Väter und Mütter waren und die deutsche Schuld nicht mehr externalisierten, sondern internalisierten. Das geschah, indem sie in ihren Institutionen und Städten an die Namen der vertriebenen und ermordeten Juden erinnerten, Überlebende einluden und in ihrer Umgebung an unzähligen Orten die Spuren dieses Verbrechens und früheren jüdischen Lebens sicherten. Von diesen lokalen Aktivitäten ist in den überregionalen Medien nie die Rede, man weiß in der einen Stadt nicht, was in der anderen geschieht. Diese bis heute fortgesetzten ehrenamtlichen Aktivitäten der Zivilgesellschaft sind (und die bange Frage ist: wie lange noch?) für mich der Ursprung und die Grundlage der deutschen Erinnerungskultur von unten. 

Sowohl die Linken der 68er-Bewegung als auch diejenigen, die unter ihnen zu leiden hatten, können nun im Spiegel von Mbembe ihre verdrängte Geschichte noch einmal aufarbeiten.

Dabei werden die postkolonialen Studien zu einer Domäne, die bis heute dieses ideologische Programm transportiert und mir selbst wird dabei eine leitende Position an den Universitäten zugesprochen. Ich habe aber ebenso wenig etwas mit der politischen 68er-Bewegung wie mit der postkolonialen Theorie zu tun. Ich kenne mich besser in den memory studies aus, die anders als die postkoloniale Theorie erst in den 1990er Jahren entstanden und stark von der Erinnerung an den Holocaust und anderen Geschichtstraumata geprägt sind. In dieser Theorie spielen zwei Bücher für mich eine herausragende Rolle. Das eine ist die 2007 erschienene Studie von Natan Sznaider und Daniel Levy über die Globalisierung des Holocaust, der im Zeitalter der digitalen Medien und Popkultur zu einer grenzübergreifenden Ikone geworden ist; das andere ist das 2009 erschienene Buch von Michael Rothberg, der den Umgang mit dem Holocaust im Zeitalter der Dekolonisierung untersucht hat. Sein Konzept des "multi-directional memory" hat gezeigt, dass Erinnerungen nicht nur in Form der Polarisierung, Aufrechnung und gegenseitiger Negierung existieren, was in den 1990er Jahren der Fall war, sondern gerade auch in einer Beziehung der gegenseitigen Anregung und Bestätigung. Erinnerungen lassen sich eben nicht so einfach von ideologischen oder politischen Vorgaben lenken, sie machen auch Sprünge und stellen existenzielle Beziehungen her. Solche Verbindungen erhalten eine aktive Erinnerung am Leben, indem sie sie erweitern und erneuern. Ist das Relativierung? Aus erinnerungspraktischer Sicht wäre die Absolutsetzung des Holocaust, seine Tabuisierung und seine Absicherung in einem geschlossenen Raum der Einzigartigkeit keine gute Alternative. 

Noch ein zweiter Satz aus dem Text von Chervel, den ich voll unterschreiben kann: Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung führt immer zu einer Relativierung der Erfahrung anderer. Hier würde ich allerdings nicht von Relativierung sprechen, sondern Ausblendung. Die Dynamik des Gedächtnisses ist so beschaffen, dass eine starke Erinnerung eine andere abschwächt oder ganz ausblendet. Es geht dabei nicht nur um die Logik der einen auf Kosten der anderen Erinnerung, sondern auch um die Vermehrung identitätsrelevanter Erinnerungen. Heißt das Gebot: Du sollst keine andere Erinnerung neben mir haben? oder kann man neben der Erinnerung an den Holocaust auch die Erinnerung an die Sinti und Roma zulassen? An den armenischen Genozid? An die Bombenopfer? An den GULag?  Zusammen mit zwei namhaften Historikern habe ich gerade einen Antrag an den Bundestag eingereicht für die Errichtung eines Dokumentationszentrums in Berlin für die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs unter besonderer Berücksichtigung von Mittel- und Osteuropa.

Gegen Verabsolutierung hilft nicht Relativierung sondern dialogisches Erinnern, die Anerkennung der Erinnerung der anderen und die Erweiterung des Gedächtnisses. Wer sagt denn, dass die eine Erinnerung die andere automatisch auslöscht? Da sind wir ja wieder in der gegenwärtigen Logik der Konfrontation, des Nullstummenspiels und des Gegeneinander Aufrechnens. Das kommt nur der politischen Instrumentalisierung entgegen, die die eigene Erinnerung legitimiert, indem sie der Erinnerung der anderen Gruppe ihre Legitimität abspricht. Auf diese Weise werden Gewaltverhältnisse verlängert; konstruktive, zukunftsbildende und friedenssichernde Beziehungen sind kategorisch ausgeschlossen.

Aleida Assmann

Heute um 17.05 Uhr diskutiert Aleida Assmann mit Claus Leggewie und Michael Wolffsohn über das Thema "Antisemitismusverdacht - Streit um Achille Mbembe" im SWR Forum. D.Red.