Essay

Wie sonst das Zeugen Mode war

Von Jochen Hörisch
20.08.2020. Die heutige Linke gibt sich ökologisch sensibel, aber Geschlecht ist  für sie ein reines Konstrukt. Nun ist der Begriff der "Konstruktion" von jeher ein genuin technischer Begriff, der im Spannungsverhältnis zum Konzept "Natur" steht. Wir konstruieren, was wir in der Natur nicht vorfinden, etwa Geräte, Gebäude und Maschinen. Dazu brauchen Menschen natürliche Ressourcen, die sie "Rohstoffe" nennen. Konstruktionen brauchen und verbrauchen Natur. Über eine Theorie-Paradoxie und ihre Tabus.
Ein lesbisches oder schwules Paar nimmt einigermaßen regelmäßig an Demonstrationen und Protestaufrufen gegen genmanipulierten Mais, gegen den Einsatz von Glyphosat in der industrialisierten Landwirtschaft, gegen Brandrodungen, gegen Braunkohleabbau, gegen Gletscherschmelze, gegen das Waldsterben, in summa: gegen Naturzerstörung und gegen den von Menschen zu verantwortenden bedrohlichen Klimawandel teil. Und das ist auch gut so. Denn die bedrohlichen bis apokalyptischen Dimensionen der Naturzerstörung im Zeitalter des Anthropozän stehen nicht ernsthaft zur Diskussion. Alle auch nur einigermaßen seriösen Parteien und Politiker, Fachleute und Laien, Alte und Junge sind sich einig, dass "Natur" ein schutzbedürftiger Höchstwert ist. Wer wie Trump oder Bolsonaro mit diesem Wert ignorant und zynisch umgeht, muss sich vollkommen zu Recht scharfe Kritik gefallen lassen. Ökologisch sensibel zu sein, ist heute glücklicherweise fast obligatorisch. 

Fast. Denn in Frage gestellt wird der Höchstwert Natur nicht nur durch destruktive Politiker und geldgierige Unternehmer (skandalträchtig etwa in der entsetzlich funktionierenden Fleischindustrie), sondern eben auch durch die wachsende Zahl derer, die zum Konstrukt erklären, was zuvor als naturgegeben galt. Das gegen Naturzerstörung protestierende lesbische oder schwule (oder bi-, trans-, inter-, et cetera-) Paar kann auch dann, wenn es wenig Leidenschaft für Theoriebildungen aufweist, entschiedener Anhänger der Konstruktions-Rhetorik sein, wie sie paradigmatisch und wirkungsmächtig durch die Gendertheoretikerin Judith Butler entwickelt wurde.

Die These ist bekannt und in weiten Kreisen anerkannt: Geschlecht, Rasse, Alter, Generation, Gesundheit, Normalität (und viele weitere Kategorien) sind soziokulturelle, ideologische und semantische Konstrukte. Die Diskussion über diese These ist einigermaßen unergiebig. Denn die (moderate) Konstruktionsthese ist halbwegs banal: dafür, wie männlich oder weiblich, wie alt oder jung, wie weiß oder schwarz, wie gesund oder krank, wie normal oder abweichend man sich fühlt und von anderen wahrgenommen und behandelt wird, sind Normen, Anerkennungsverhältnisse und Ideologeme verantwortlich - und die sind nicht natürlich gegeben, sondern sozial und kulturell bedingt beziehungsweise konstruiert. Was aber nichts am natürlichen Umstand ändert, dass man auch dann, wenn man so alt ist, wie man sich fühlt, an dem Tag geboren wurde, an dem man geboren wurde, dass man mit dieser oder jener Hautfarbe geboren wurde, dass man an Krebs erkrankt oder nicht.

Nun ist der Begriff der "Konstruktion" seit jeher ein genuin technischer Begriff, der im Spannungsverhältnis zum Konzept "Natur" steht. Wir konstruieren, was wir in der Natur nicht vorfinden, etwa Geräte, Gebäude und Maschinen. Dazu brauchen Menschen natürliche Ressourcen, die sie "Rohstoffe" nennen. Konstruktionen brauchen und verbrauchen Natur. Deshalb müsste es irritieren, wenn aus demselben Mund, der "Natur(schutz)" zum hohen, gar zum höchsten Wert erklärt, die Rede ergeht, dies oder jenes sei keineswegs natürlich, sondern konstruiert. Ein Paradox, das nicht in der rhetorischen und theoretischen Sphäre verbleibt, sondern handfeste Konsequenzen haben kann. Das schwule beziehungsweise lesbische Öko-Paar kann zum Beispiel einen extrem hohen technischen Aufwand betreiben, um mit Hilfe von Invitrofertilisation, Samenspende und Leihmutterschaft an ein Kind zu kommen. Als Bedrohung natürlicher Prozesse, die seiner Naturhochschätzung widerspricht, wird das Paar sein Verhalten nicht gerne wahrnehmen. So explizit wie Fausts Famulus Wagner, der einen High-tech-Homunculus konstruiert und dabei spricht "Wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitel Possen", möchte es sein Tun aber auch nicht wahrnehmen. Mangel an Prägnanz, stilistische Ausweichmanöver und ein Hang zu Überabstraktionen sind nicht ohne Grund hervorstechender Merkmale genderkonstruktivistischer Texte. Natur- und Konstruktionsrhetorik koexistieren bei vielen in schizoider Partnerschaft.

Der beliebteste und am meisten verbreitete Strategie im Umgang mit Paradoxien ist auch und gerade in gender-trouble-Kreisen die Tabuisierung. Um zuzuspitzen: wer blackfacing betreibt, um deutlich zu machen, dass er Rasse für ein Konstrukt hält, macht sich nicht beliebt. Und wer darauf hinweist, dass die Kritik am alten weißen Mann rassistischen Impulsen verpflichtet ist (weil eine weiße Hautfarbe, das Geburtsdatum und das Geschlecht biologisch determiniert sind), wird erklärte Antirassisten in aller Regel nicht dazu bringen, ihren eigenen Rassismus zu erkennen. Wer gar das alte Motiv bemüht, der Speer nur könne die Wunde heilen, der sie schlug, konkret: technisch-konstruktiver Naturbedrohung sei nicht nur, aber auch mit Hightech beizukommen, stört die schizoide Partnerschaft von Natur- und Konstruktions-Semantik.   

Das Theorieniveau in der konstruktivistischen Genderdebatte ist bemerkenswert hoch - und zugleich von problematischer Unterkomplexität. Schon eine schulphilosophisch naheliegende Frage wird in dieser Debatte so gut wie nie gestellt: ist die Theorie, derzufolge die Geschlechterdifferenz ein Konstrukt ist, ihrerseits ein Konstrukt oder schlicht realistisch, naturalistisch, evident oder gar von einer Göttin offenbart? Es wäre doch eigentümlich, wenn die These vom konstruierten Charakter der Geschlechterdifferenz selbst ein Konstrukt wäre, das wie alle Konstrukte auch anders ausfallen könnte. Dann könnte man ja (und man kann das offenbar tatsächlich) auch andere, etwa biologische, genetische, naturalistische, offen reaktionäre, fundamentalreligiöse et cetera Theorien der Geschlechterdifferenz konstruieren und vertreten. Seltsam wäre es aber auch, wenn ausgerechnet auf der Meta-Ebene von Konstruktions-Theorien Realismus, Naturalismus, unbestreitbare Evidenz, gar göttliche beziehungsweise Göttinnen-Offenbarung walten würde. Eine naheliegende und einigermaßen plausible Lösung dieser Theorie-Paradoxie (mitsamt ihrer weitreichenden praktisch-lebensweltlichen Effekte) hält die traditionelle Anthropologie von Herder, Gehlen, Plessner und anderen bereit: ja, Kultur und damit die Möglichkeit, dies oder jenes (Essen, Wohnen, Kleiden, Erziehen, Glauben, Lieben, Sex et cetera) so oder anders zu gestalten, gehört zur natürlichen Ausstattung von Menschen. Der Konstruktivismus ist eigentlich ein Realismus. Denn Menschen sind wirklich in vielen Sphären dazu verdammt, dies oder jenes so oder anders zu gestalten, zu konstruieren.

In vielen, nicht in allen Sphären. Selbst radikale Konstruktivisten würden wohl vor der These zurückscheuen, dass sich astrophysikalische Gesetzmäßigkeiten faktisch ändern, wenn Newton eine andere Physik als Aristoteles oder Einstein eine andere als Newton konstruiert. In vielen anderen Sphären aber gibt es offenbar starke Rückkoppelungseffekte von Theoriekonstrukten auf die von ihnen analysierten Sachverhalte. Man wirtschaftet anders, wenn man Keynes und nicht Marx oder Friedman folgt; es ergeben sich erhebliche Veränderungen im Machtverhältnis der Geschlechter, wenn sich feministische Theorien durchsetzen; und die Glaubensbereitschaft wird geringer, wenn Theologen an Entmythologisierungsprogrammen arbeiten. Wie erfolgreich die jeweiligen von Konstruktionen geleiteten Praktiken sind, hängt - horribile dictu - aber nicht zuletzt davon ab, ob sie natürlichen Dispositionen entsprechen. Ja, man kann Jungen in rosafarbene Kleider stecken und ihnen das Spiel mit Puppen aufdrängen, und man kann Mädchen in Blaumänner hüllen und ihnen das Spiel mit Baggern und Planierraupen ans Herz legen - und man wird feststellen können, dass ein solches konstruktives Tun destruktive Konsequenzen für das Leben dieser Kinder hat. Kluge Konstruktivisten sehen ein, dass es konstruktiv ist, natürlichen Dispositionen Entfaltungsmöglichkeiten zu lassen. 

Zu den eigentümlichsten Erfahrungen, die uns die Corona-Pandemie beschert, gehört, dass sie recht handfest eine dritte Option zwischen Naturidolisierung und Konstruktionsrhetorik/praxis nahelegt - eine Ethik des Unterlassens, wie Bazon Brock sie skizziert hat. Immer deutlicher wird, dass der Satz "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" nicht alternativlos ist. Denn es zeigt sich zunehmend, dass nicht ein konstruktives Tun, sondern ein Unterlassen als hoher ethischer Wert gelten kann. Nicht zu rauchen, nicht zu verreisen, nicht Fleisch zu verzehren, dies und das (sogar das gemeinsame Singen) zu unterlassen - das sind die Tugenden, die in einer Postpostmoderne zählen, die nicht recht weiß, ob sie sich natürlichen oder konstruktiven Werten verschreiben soll und ob Werte natürlich oder konstruiert sind. Es könnte konstruktiv sein, übergriffige technophile Konstruktionsrhetorik zu unterlassen.           

Jochen Hörisch

Der Autor ist Seniorprofessor für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim und Autor des Buches "Theorie-Apotheke - Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen" (Suhrkamp Taschenbücher). 2020 erschien sein Buch "Kann ein allmächtiger Gott sterben? Luthers Lust an Paradoxien und ihre Folgen" (Verlag Der blaue Reiter).
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