Essay

Das keusche Gewand

Von Jochen Hörisch
02.05.2022. Männerbünde sind Heimstätten der Homosexualität - und pflegen in aller Regel zugleich homophobe Rhetoriken. Dass das Priesteramt für Homosexuelle attraktiv ist, versteht sich gewissermaßen von selbst. Wenn die Katholische Kirche sich nicht zum Abschied vom Zölibat durchringt und  einen neuen Priestertypus zulässt, wird sie ihre Missbrauchs-Pathologien nicht überwinden können.
Der Heilige Geist weht nicht immer dort, wo der Heilige Vater weilt. Und nicht alle Geistlichen sind unablässig von dem Verlangen umgetrieben, vor Gott und den Menschen Zeugnis von der Wahrheit abzulegen. Das sind keine ganz neuen Einsichten. Aber angesichts der Orkanstärke annehmenden Gewalt, mit der Krisen die auf Fels gebaute Katholische Kirche erschüttern, erlangen diese Einsichten eine neue Dimension. Denn die Missbrauchsskandale sind ja nicht allein auf das bedauerliche und entschuldigungsbedürftige Fehlverhalten einzelner sündiger Priester zurückzuführen, sie haben ersichtlich systemischen Charakter. Der aber ist aus mehreren Gründen mit vielen Tabus umstellt und entzieht sich der erhellenden, aufklärenden und möglicherweise heilenden Kommunikation. Dabei handelt es sich um ein offenbares Geheimnis, das nicht nur Filme von Frederico Fellini und Romane von Umberto Eco umkreisen: die Katholische Kirche ist der älteste und mächtigste Männerbund mit all den Pathologien, die zu homophilen Männerbünden gehören.  

Männerbünde sind Heimstätten der Homosexualität - und pflegen in aller Regel zugleich homophobe Rhetoriken. Dass das Priesteramt für Homosexuelle attraktiv ist, versteht sich gewissermaßen von selbst und braucht deshalb nicht öffentlich thematisiert zu werden. Priester sind schon, bevor sie geweiht werden, im Priesterseminar unter ihresgleichen: unter Männern. Warum sie sich wenig aus dem Gottesgeschenk der Liebe zwischen Mann und Frau machen, müssen sie nicht in latent peinlichen sexuellen Kategorien darlegen, sind sie doch aus hehren theologischen Gründen zum Zölibat verpflichtet. Als geweihte Priester dürfen sie dann weibliche Kleider tragen, den Tisch des Herrn bereiten, Müttern huldigen (der eigenen, der Muttergottes, der Mutter Kirche), mit vorpubertären und pubertären Messdienern und in der Kirche exklusiv mit anderen Männern verkehren.

Wenn sie im kirchlichen Männerbund Karriere machen, werden ihre Kleider bunter und exotischer, die Ringe größer, rote Schuhe und Kopfbedeckungen können sich breitmachen; dass man keine Sekretärin, sondern einen hübschen Privatsekretär an seiner Seite hat, ist nicht weiter erklärungsbedürftig. Auch pädophile Dispositionen sind mit dem Priesteramt bestens kompatibel. Der Messdiener ist womöglich beim An- und Ausziehen der Soutane behilflich; er öffnet und schließt die 33 Knöpfe, die in Anspielung auf die Lebensjahre Christi das keusche Gewand zusammenhalten, er nestelt somit reizvoll an der Schnittstelle von Profanität und Sakralität. 

Der heiße Kern des kommunikativen Desasters bei den kirchlichen Missbrauchsfällen ist so offensichtlich wie mit Tabus umstellt. Man kann mit Interesse zur Kenntnis nehmen, dass Benedikt XVI. es laut seiner schriftlichen Stellungnahme zu den an ihn adressierten Vorwürfen nicht für Missbrauch hält, wenn sich ein Priester vor einem Kind entblößt und masturbiert. Doch es geht eben nicht um eine endlose Serie peinlichster Einzelfälle; es geht auch nicht primär darum, diesen oder jenen Priester, Bischof, Kardinal oder Papst als pädokriminell bzw. diesen oder jenen hohen Geistlichen als schwul zu outen, wie es Frédéric Martel in seiner umfangreichen Untersuchung "Sodom - Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan" oder der erzkonservative Theologe David Berger es mit seinem autobiografischen Buch "Der heilige Schein: Als schwuler Theologe in der katholischen Kirche" tun. Geboten ist vielmehr der Hinweis darauf, dass die Katholische Kirche strukturell und wesentlich ein homophiler (und zugleich homophober!) Männerbund ist. Nicht nur Benedikt XVI. hat denn auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kirche ohne Priester-Zölibat nicht denkbar ist; eine Priesterweihe für Frauen wäre erzkonservativen Katholiken ein Graus.

Auf diese und weitere ein wenig zu offensichtliche Zusammenhänge hinzuweisen, ist ein problematisches, aber dennoch notwendiges Unterfangen. Heikel ist es, weil es zugleich das starke Tabu im Selbstverständnis der Kirche und die Gefühle der heterosexuellen Priester verletzt, die aus Glaubensstärke heraus Geistliche geworden sind und dafür auf irdische Lüste verzichten. Ihre Homophobie macht es der Kirche unmöglich, stolz darauf zu verweisen, dass sie über Jahrhunderte, ja zwei Jahrtausende hinweg Homosexuellen, die sonst übelste Verfolgungen zu fürchten hatten, ein hochwertiges und fast allseits geachtetes Rollenmodell angeboten hat. Eine nicht zu unterschätzende Kulturleistung, die beeindruckender wäre, wenn sie offen und selbstbewusst so präsentiert würde. Der in den letzten Jahrzehnten dramatisch anwachsende Mangel an Priesternachwuchs hängt ja nicht nur damit zusammen, dass katholische anders als evangelische Geistliche keine Kinder zeugen, sondern vielmehr damit, dass Homosexuelle - Gott und den modernen Emanzipationsbewegungen sei Dank! - heute in einigermaßen liberalen Rechtsstaaten keine lebensbedrohlichen Verfolgungen mehr zu gewärtigen haben.  

Zur diskursiven Tabuisierung des homophilen Zentrums im Missbrauchsskandal (deutlich über 80 Prozent der von Priestern missbrauchten Kinder und Jugendlichen sind Jungen) trägt aber auch bei, dass mit der begrüßenswerten Emanzipation von Homosexuellen jede Kritik an Homosexuellen als problematisch gilt. Sie seien und blieben Opfer, so will es ein vermeintlich politisch korrekter Diskurs. Es gehört zu den eigentümlichsten ideologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, dass ein traditionelles Kerngeschäft der Linken, nämlich generelle Religionskritik, fast völlig verschwunden ist. Dem Vorwurf, islamophob zu sein, mag sich keiner, der sich für progressiv und korrekt hält, einhandeln (was seltsamer Weise linken Antisemitismus nicht ausschließt). Aber das ist ein anderes Thema, wenn auch ein verwandtes. Die Diagnose gilt: wenn die Katholische Kirche sich nicht zum Abschied vom Zölibat durchringt und damit einen auch in psychosexueller Hinsicht neuen Priestertypus zulässt (zusammen und gleichberechtigt mit homosexuellen oder zölibatär leben wollenden Geistlichen), wird sie ihre Missbrauchs-Pathologien nicht überwinden können. Wenn hohe Kirchenmänner auf einen solchen Vorschlag entsetzt mit der Bemerkung 'Gott sei bei uns' reagieren, machen sie deutlich, dass die hier skizzierte Analyse nicht ganz falsch ist.

Jochen Hörisch ist Seniorprofessor für Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Mannheim. 2020 veröffentlichte er das Buch "Kann ein allmächtiger Gott sterben? Luthers Lust an Paradoxien und ihre Folgen" (Verlag Blauer Reiter).