Essay

Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche

Dankesrede zum Tractatus-Preis 2022. Von Marie Luise Knott Von Marie Luise Knott
06.10.2022. " Essays gleichen Erkundungsgängen, sprich: sie geben unserem ganzen nicht getrosten Dasein und dem Nicht-ganz-bei-Trost-Sein-darin Raum", so Marie Luise Knott am 23. September 2022, als sie für ihren Langessay "370 Riverside-drive, 730 Riverside Drive" mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik ausgezeichnet wurde. Wie eigentlich dankt man, wenn man für etwas ausgezeichnet wird?

Dies ist die Dankrede für den Tractatus-Essay-Preis des Philosophicum Lech, den Marie-Luise Knott am 26. September entgegengenommen hat. Wir danke der Autorin für das Veröffentlichungsrecht. D.Red.
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Am Morgen nach dem Aufwachen im Hotel war sie ins Bad gegangen, hatte sich vor dem Spiegel durchs Haar gestrichen und sich dabei prüfend angeschaut. Erstaunt stellte sie fest, dass sie eigentlich nicht sehr nervös war. Sie würde am Abend einen Preis bekommen, und man hatte sie den Gepflogenheiten entsprechend gebeten, eine Dankesrede zu halten. Und nun fragte sie sich: Wofür genau würde sie sich gerne bedanken wollen?

Tatsächlich hatte sie gleich mehrere Gründe, sehr, sehr dankbar zu sein für diesen Preis. Zunächst der Ehre wegen, das war ja klar. Und natürlich des Geldes wegen, das recht eigentlich für sie ein großer Segen war, denn es legitimierte, ja beauftragte sie zu unwirtschaftlichem Lesen - in einer Zeit, in der alles auf Effizienz ausgerichtet war. Was für ein Glück! Erst gestern war sie während der langen Zugfahrt ganz ohne Anlass in winning his way von Gertrude Stein eingetaucht - in der Übersetzung von Ulf Stolterfoht: wie man seine Art gewinnt. Wie aber gewinnt man seine oder die eigene Art, ging es ihr durch den Kopf? Wie findet man zu seiner Kunst? Eine Frage, die nicht nur sie umtrieb. Steins Buch war ein Stottern, ein zur Welt kommen von Worten, die wissen, dass sie sich der Welt nie ganz gewiss sein werden. Hier ließ sich eine Autorin von Assoziationen, Rhythmen und Klängen durch die Sprache und durchs Denken spazierentreiben und entfaltete so in immer neuen Anläufen ungeahnte Reichtümer, grad so, als könne auch das Leben durch immer neues Anlaufnehmen ungeahnte Reichtümer entfalten.

Wie sie da so stand, kam ihr ein Zitat aus Steins Art gewinnen in den Sinn: "ich habe ernsthaft über feigen und stachelbeeren nachgedacht. und frage mich ob sie mir zustimmen." Steins Frage entsprach einer der Fragen, die sie sich in ihrem Buch gestellt hatte: Wir denken über die anderen nach - statt mit ihnen zu denken. Doch: was genau denken sie? Wie kommen sie zu Wort, genauer: zu ihrem Wort - in aller Distanz und Differenz. Gertrude und die Stachelbeere würde sie folglich in ihrer Rede am Abend erwähnen.

Dank, das hatte sie als Kind gelernt, sollte eigentlich immer spontan sein, weil der spontane Dank der schönste war. Doch sie wusste, dass sie die Rede am Abend nicht aus dem Stegreif würde halten können, sondern sie sich zurechtlegen mußte. Also: Notizen, Stichpunkte - und einige Zitate als Trittbretter. Was erwartete man von ihr? Tractatus. Während sie sich vom Spiegel abwandte und Stift und Papier zur Hand nahm, überlegte sie, dass der Name wahrscheinlich auf Wittgenstein anspielte. Also würde sie am Abend kurz auf ihn zu sprechen kommen, zumal Wittgensteins Traktate ähnlich rätselhaft und großartig waren wie Steins Prosa. Egal, von welcher Sache Wittgensteins "Paragraphen" im Einzelnen handelten, sie alle kreisten um ein Dilemma, das auch sie selbst umtrieb: die Sprache. "Wittgenstein zufolge" notierte sie sich provisorisch, steckt der Mensch, das sprachbegabte Wesen, das sich in die Vergangenheit und in die Zukunft zu denken vermag, trotz aller Aufklärung immer noch in der Falle seiner Sprache, richtiger: .... des sprachlich verfassten Daseins; unfähig, mit den Mitteln der Sprache den wirklichen Sensationen des Lebens näher zu kommen, einen "Durchstich" zu den seelischen Vorgängen und Zuständen zu erlangen. Sein Fazit: "Ich kann mit der Sprache nicht aus der Sprache heraus." War das so? Gab es, so fragte sie sich weiter, tatsächlich keinen Dreh, zum Anderen vorzudringen - ohne sich aufzugeben, sprich: ohne den Standpunkt des Anderen einzunehmen? Wenn alles Sprechen so ohne Heil war, warum redeten und schrieben wir weiter?

Während sie noch überlegte, ob diese Frage nicht ein wenig zu pessimistisch war für eine Dankesrede und ob Wittgenstein eigentlich je irgendwo die Gefahren sprachlicher Manipulationen angesprochen hatte, fiel ihr ein Aphorismus ein, über den sie schon lange rätselte und der zum Kontext ihres Buches hervorragend passte. Er handelte vom Schmerz. Wo Gertrude Stein von den Stachelbeeren sprach, hatte Wittgenstein seine Fliege. Der Eintrag begann mit einem Stein: "Schau einen Stein an und denk dir, er hat Empfindungen!" - Nein, dass ein Stein Empfindungen haben sollte, konnte sie sich nicht vorstellen. Und Wittgenstein wusste das: "Wie konnte man nur auf die Idee kommen, einem Ding eine Empfindung zuzuschreiben?" Soweit so gut. Doch dann behauptete Wittgenstein, wenn sie sich richtig erinnerte, der Blick auf eine zappelnde Fliege ändere alles, sofort sei die Schwierigkeit verschwunden und der Schmerz scheine hier angreifen zu können, wo vorher alles gegen ihn, sozusagen glatt war.

An-greifen, glatt sein... Sie war keine Wittgenstein-Expertin, und sie war sich nicht sicher, ob sie nicht alles falsch verstand, aber etwas darin leuchtete ihr fast unmittelbar ein: Wenn man die Subsumierung alles Einzelnen und aller Einzelnen unter allgemeine Zuschreibungen aussetzte und sich und die Anderen "angreifbar" machte, würde es vielleicht gelingen, den eigenen wie den fremden Gedanken die Glätte zu nehmen, damit auch Feigen, Steine und Stachelbeeren sich gesehen und vielleicht sogar verstanden fühlten. Vielleicht wurde etwas vom Schmerz der Anderen vorstellbar, wenn man selbst durchlässig wurde, sich aufraute. Auf ihr "Riverside"-Projekt umgemünzt, bedeutete dies: Womöglich waren die heftigen Angriffe gegen "die Rassistin" Hannah Arendt zu monolithisch. Zu glatt. Doch warum hatte diese jüdische Denkerin, die selbst Diskriminierung und drohende Vernichtung erfahren hatte, in ihrem Essay "Little Rock" die gesetzliche Erzwingung der Integration von schwarzen Schülern abgelehnt. Wie konnte es sein, dass diese Theoretikerin die tägliche Gewalt gegen Schwarze und die elenden Zustände an schwarzen Schulen überschwieg und sich so den Schmerz der Schwarzen gewissermaßen vom Halse hielt, ja: glattdachte. Ein Dilemma.

Erst gestern beim Abendessen hatte jemand gemeint, sie müsse unbedingt in ihrem Dank davon reden, wie alles angefangen hatte. Aber sollte sie wirklich erzählen, welche Stachelbeere sie einmal gewesen war? Wie sie durch Zufall Mitte der 1980er Jahre auf Arendts Essay "Die Nachwirkungen des Nazi-Regimes" aus dem Jahr 1950 gestoßen war. Und wie erschrocken sie damals war, als sie dort las, dass Deutschland in weniger als sechs Jahren das moralische Gefüge der westlichen Welt zerstört habe, und dass dennoch nirgends dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt werde als in Deutschland. Die Gedankenschärfe dieses Textes, der den allgegenwärtigen "nihilistischen Relativismus gegenüber den Tatsachen" als Hinterlassenschaft des NS-Regimes diagnostizierte, hatte sie damals beim Lesen berührt und erschrocken. Endlich hatte sie damals etwas davon verstanden, wie schmerzlich es für ihre Generation gewesen war, in dem verdrucksten Schweigen des Ärmelaufkrempel-Deutschlands aufgewachsen zu sein, das die Täter und ihre Taten verhüllte. Sie wusste: das alles war mittlerweile lange her - und doch ist dieser nihilistische Relativismus mit seiner Leugnung der Tatsachen gerade heute wieder höchst aktuell.

Auslöser für ihren Langessay Riverside Drive aber, um den es am Abend gehen würde, war ein Brief Hannah Arendts an den schwarzen Schriftsteller Ralf Ellison aus dem Jahr 1965. Arendt hatte darin gestanden, sich in ihrem Artikel "Little Rock" tatsächlich geirrt zu haben, weil sie die nackte Gewalt, die körperliche Angst und das Ideal des Opfers nicht verstanden hatte. Warum hatte Arendt den Brief wohl geschrieben? In welchem Verhältnis stand Arendt zu Ellison? Und wie kam es, dass die große Theoretikerin des Handelns plötzlich ein "Ideal des Opfers" anerkannte?

Sie erinnerte sich: Mit diesen Fragen hatte das Schreiben ihres Buches begonnen. und immer noch staunte sie manchmal darüber, wie lange sie gebraucht hatte, um "victim" von "sacrifice" zu unterscheiden und Ellisons "Ideal des Opfers" als Einsatz für die Werte der Republik zu deuten. Dennoch würde sie in der Rede am Abend nicht von ihren Lese-Begegnungen mit Abel Meeropol, James Baldwin, Fannie Lou Hamer, Rahel Varnhagen, Stanley Elkins oder W.E.B. Du Bois erzählen. Stattdessen würde sie erwähnen, dass sie das Buch vor allem geschrieben hatte in der Hoffnung auf einen Kollateral-Gewinn: Sie hoffte, indem sie die Zeit und den Denkraum von damals neu untersuchte, ein Instrumentarium für heutige identitäre Debatten zu gewinnen. Sie würde der Jury am Abend sagen müssen, wie dankbar sie war, dass sie dies gesehen hatte.

Jetzt war sie abgeschweift, merkte sie, doch dann dachte sie plötzlich an die Geschichte der Mississippi Freedom Democratic Party, die für sie ein Augenöffner gewesen war. In Mississippi stellten Schwarze Anfang der 1960er Jahre 40 Prozent der Bevölkerung, doch die Demokratische Partei dieses Bundesstaates schloss Schwarze nach wie vor kategorisch aus, weshalb sich einige Bewohner damals kurzerhand eine eigene - schwarze - demokratische Partei schufen. Als solche pilgerten sie im Juli 1964 zum Nationalen Konvent der Demokraten, in der Hoffnung, von den Weißen des Nordens Unterstützung zu erhalten. Doch diesen Demokraten war das Hemd offensichtlich näher als die Hose - die eigene weiße Wählerschaft im Süden näher als die Durchsetzung der verfassungsmäßig garantierten Rechte. So blieben die Weißen glatt - und eben weiter unter sich.

Der Spuk der Sklaverei steckte der Republik offensichtlich immer noch in allen Knochen, und vom Spuk der Geschichte im Heute handelten auch lange Passagen in ihrem eigenen Essay. Toni Morrison zum Beispiel hatte vehement die sozialen Sonderzahlungen für schwarze Arme kritisiert mit dem Argument, dass, indem die Armutsbekämpfung auf die Schwarzen fokussiere, weiterhin so getan werde, als sei Armut nicht ein Produkt kapitalistischer Ausbeutung, sondern schwarz, fast wie selbstverschuldet. Auch das war eine Hinterlassenschaft der Sklaverei. Die Herrschenden gaben Almosen, schufen Sonderregelungen und behielten dabei das Zepter in der Hand, statt die Verhältnisse im Miteinander-Aushandeln endlich wirklich umzugestalten.

Bei der Suche nach früheren Preisträgern war sie letzthin im Internet auf Franz Schuh gestoßen - und auf den Titel Ein Interview gegen mich selbst. Toll, diese Idee, gegen sich selbst zu denken und zu sprechen. Aufgewachsen in einem europäischen Sozialstaat hatte sie selbst viele Jahre lang diskret über Hannah Arendts strikte Trennung von Politischem und Sozialem hinweggelesen. In ihrer eigenen Herkunftskultur galt Sozialpolitik schließlich als Meilenstein des Fortschritts --- eingeführt, um strukturelle Diskriminierungen zu lindern bzw. zu reparieren. Entsprechend hegte sie traditionell wenig Verständnis für Arendts Verdacht, dass Sozialpolitik beschwichtigt, was Politik nicht ändern will. Bei diesem Unverständnis war es lange geblieben. Hinzu kam: Sie wusste, dass sie auch nach all diesen Lektüren heute immer noch nicht wusste, wie sich ein Leben anfühlte, bei dem man als Schwarze sein Menschsein Tag für Tag einem Feuer menschlicher Grausamkeit entreißen musste, wie Baldwin einmal gesagt hatte. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, durch ein Spalier von "Lyncht-Sie"-Rufern zur Schule zu gehen.

Doch jetzt war sie schon wieder abgeschweift. Das durfte ihr am Abend nicht passieren, schließlich musste sie unbedingt gebührend Zeit finden, dafür zu danken, dass es diesen Preis gab, und zwar beides: dafür, dass jemand ihn erfunden hatte, und dafür, dass jemand ihn Jahr für Jahr finanzierte. Essays sind ein Wagnis, denn sie suchen nicht nach Aussagen, welche die Leserinnen und Leser getrost nach Hause tragen können. Essays gleichen vielmehr Erkundungsgängen - sprich, sie geben unserem ganzen nicht getrosten Dasein und dem Nicht-ganz-bei-Trost-Sein-darin Raum. Und dass jemand solches Schreiben auszeichnete - dafür konnte man nicht laut genug danken.

Egal wie man es drehte und wendete: Gerade in diesen meinungsstarken Zeiten ging es in ihren Augen darum, mehr Perplexitäten miteinander zu teilen. Mehr Antworten in Fragen aufzulösen. Mehr Fragen vor Antworten zu schützen, wenn man so will. Sie jedenfalls versuchte immer wieder, Gedanken im Gespräch mit sich selbst zu drehen und zu wenden und dabei die Leserinnen und Leser an den eigenen Denkbewegungen teilhaben zu lassen.

Apropos teilhaben. Bevor sie, um vor dem Abend auf andere Gedanken zu kommen, eine kleine Wanderung machen würde, betrachtete sie noch einmal die versammelten Stichworte. Etwas fehlte. Neben dem Dank dafür, dass es den Preis gab, musste sie unbedingt auch der Jury danken - sie notierte sich die Namen: Barbara Bleisch, Michael Krüger, Thomas Vašek. Und natürlich würde sie Herrn Ließmann und allen Lecherinnen und Lechern vom Philosophicum danken --- nicht zuletzt für die stets aufmerksame Grundfreundlichkeit, die sie bei ihnen erfahren hatte.

Die ganze Zeit während der Arbeit am Buch hatte sie gewusst, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Und dass die eigene Sichtweise immer beschränkt ist. Man war ja tendenziell in der Glätte seiner Generation gefangen. Mehrmals während des Schreibens war sie kurz davor gewesen, das Ganze aufzugeben. Doch immer wieder hatten rettende Gespräche neue Impulse geliefert und sie zum Weitermachen bewegt. Insofern würde sie am Abend besonders all jenen danken, die ihr in der ganzen Zeit hartnäckig wie freundschaftlich Paroli geboten hatten, allen voran Uljana Wolf, Caroline Jessen, Sasha Marianna Salzmann und Elizabeth Costello. Ganz besonders dankbar war sie außerdem natürlich ihrem Verleger Andreas Rötzer und dem Verlag Matthes und Seitz Berlin -- für deren stetiges Vertrauen.

Bevor sie in ihren Bergstiefeln loszog, dachte sie noch einmal an Wittgensteins Glätte und an den Satz, dass die Wahrheit ein ständig wechselndes Gesicht habe und ständig neu um sie gestritten werden müsse. Und so notierte sie sich für das Ende ihre Dankesrede ein Zitat von Thomas Brasch: "Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche" . .... auch wenn diese einem immer wieder über den Kopf wachsen.

DANKE SCHÖN!

Marie-Luise Knott